Um eines gleich vorweg zu nehmen: Mir gefällt der Begriff „System“ für ein demokratisches Verfassungsmodell überhaupt nicht. Der Grund ist recht simpel und wurde von dem Germanisten und Literaturwissenschaftler Victor Klemperer perfekt beschrieben:
„Für die Nazis war das Regierungssystem der Weimarer Republik das System schlechthin, weil sie mit ihm in unmittelbarem Kampf gestanden hatten, weil sie in ihm die schlechteste Regierungsform sahen … Ein System ist etwas ‚Zusammengestelltes‘, eine Konstruktion, ein Bau, den Hände und Werkzeuge nach Anordnung des Verstandes ausführen. … Das Kantische System ist ein logisch geknüpftes Gedankennetz zum Einfangen des Weltganzen; für Kant heißt philosophieren: systematisch denken. Gerade das aber ist es, was der Nationalsozialist aus dem Innersten seines Wesens heraus ablehnen … muss. Wer denkt, will nicht überredet, sondern überzeugt sein; wer systematisch denkt, ist doppelt schwer zu überzeugen. Deshalb liebt die LTI [„Lingua Tertii Imperii“ – die Sprache des Dritten Reichs] das Wort Philosophie beinahe noch weniger als das Wort System. Dem System bringt sie negative Neigung entgegen, sie nennt es immer mit Mißachtung, nennt es aber häufig. Philosophie dagegen wird totgeschwiegen, wird durchgängig ersetzt durch ‚Weltanschauung‘.“
Die Verwendung des Begriffs „System“ dokumentiert insofern das, was neuerlich fälschlich als „postfaktisch“ bezeichnet wird. Es dokumentiert die Ansicht, das Denken durch das Glauben zu ersetzen. Der Verwender des System-Begriffs setzt sich im Sinne der Selbstermächtigung hinweg über wissenschaftlich-logische Erkenntnis und ersetzt das Ergebnis eines logischen Denkprozesses durch die Glaubenssätze einer gedachten Wirklichkeit. David Hume betrachtete dieses Phänomen mit den folgenden Sätzen:
„Es gibt eine Art von stumpfsinnigem, unwissenschaftlichem Skeptizismus, welcher der Menge ein allgemeines Vorurteil eingibt gegen alles, was sie nicht versteht und sie veranlaßt, jeden Grundsatz, der ausgeführte Beweisführung erfordert, zu verwerfen. Diese Art von Skeptizismus ist für die Wissenschaft verderblich, nicht aber für die Religion.“
Das Vorurteil als ein dem intellektuell erarbeiteten Urteil vorgelagerter und dieses überlagernder Glaubenssatz schafft eine scheinbare Wirklichkeit, welche in der individuellen Übersteigerung zur vorgeblichen „Wahrheit“ verklärt wird – dabei verkennend, dass „die Wahrheit“ im Sinne Boolescher Logik nur auf einem „Ja“ oder „Nein“ beruhen kann. Etwas ist wahr – oder es ist es nicht. Ein „Dazwischen“, ein „Entweder-oder“ gibt es nicht. „Wahrheit“ ist daher auch niemals eine Annahme, sondern immer ein unwiderlegbarer Fakt. Weshalb sie auch niemals „viele Gesichter“ haben kann – sondern immer nur eines. Alles andere ist jene „gedachte Wirklichkeit“ als das, was unser Gehirn als unser gegenwärtiges Sein zu erfassen meint. Wer etwas „für wahr hält“, der verkündet einen individuellen Glaubenssatz – nicht aber eine Wahrheit. (vergl. Spahn: Wahrheit – Religion – Wirklichkeit, ISBN 978-3-943726-69-5)
Aus dem „Für-wahr-halten“ entwickeln sich in einem ersten Schritt gedachte Parallelwelten, in denen die darin Lebenden die kommunikative Basis zur Restwelt verlieren. Sie begreifen sich als die einzig Erkenntnisschöpfenden und kreieren aus dieser gedachten Erkenntnis heraus zu bekämpfende Feindbilder. Für die „Für-wahr-halter“ ist die „Weltanschauung“ das individuelle Substitut der Philosophie – eine Metaphilosophie ohne den Anspruch, systematisch gedacht zu werden. Aus der gedachten Parallelwelt, die das Denken beherrscht, entwickelt sich der menschliche Anspruch, die tatsächliche Welt in die Idee der Parallelwelt zu transformieren: Es ist dieses das klassische Modell des Religionsschöpfers oder des politischen Ideologen, die von ihm gedachte Welt zum Maß aller Dinge zu machen, dem sich alle anderen Individuen zu unterwerfen haben. Es gilt die Erkenntnis des John Locke, dass „sich kein Irrtum namhaft machen lässt, der nicht seine Bekenner gehabt hätte, und niemals wird es jemandem an krummen Pfaden, die er gehen könnte, fehlen können, wenn er auf dem rechten Wege zu sein glaubt, sobald er nur irgendwo den Fußstapfen anderer folgen kann.“
Das „System“ als selbstreferentielles Konglomerat oder „Narrativ“ all dessen, dem sich der Systemkritiker persönlich als im Widerspruch zur eigenen, gefühlten Weltanschauung stehend beständig ausgesetzt sieht, beschreibt ein diffuses weil nicht mehr rational erklärbares Etwas, welches scheinbar das einzige Ziel verfolgt, die eigene Persönlichkeit zu vernichten – und welches wiederum deshalb zu vernichten ist.
Erich Fromm erkennt den Menschen als „eine Einheit von Körper und Geist, die auf die Dichotomie [Struktur aus zwei Teilen, die sich gegenüberstehen und sich gegenseitig ergänzen] ihrer Existenz nicht nur denkend, sondern mit ihrem gesamten Lebensprozeß, mit ihrem Fühlen und Handeln reagiert“. Der „postfaktische“, faktisch jedoch non-faktische Systemgegner blendet die Ratio als Wissenschaftlichkeit aus und begründet sein Handeln dennoch aus scheinbarer Vernunft heraus, weil, wie es Fromm formuliert, „es ihm nicht schwer fällt, unvernünftig zu handeln, aber es ihm fast unmöglich ist, seiner Handlungsweise den Anschein einer vernünftigen Motivation zu versagen“. Die Emotio, das nicht wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch reflektierte Bedürfnis, ersetzt die logisch strukturierte Verstandesleistung. Populär formuliert: Entscheidungen werden nicht mit dem Kopf, sondern aus dem Bauch heraus getroffen.
Prognos beschrieb die Ursachen dieses Phänomens bereits in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts in einer Jugendstudie als „das empfundene Unvermögen, an seiner eigenen Situation konkret etwas zu verändern“, woraus sich als letztverbliebene Lebensperspektive der Wunsch nach revolutionärer gesellschaftlicher Veränderung entwickele. Der Psychoanalytiker Erik H. Eriksen leitete daraus als Extremform ein Persönlichkeitsbild ab, das an die Stelle von Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit „angestrebte Phantasiebilder und –ziele“ setze, welche „zu der realen Erwachsenenwelt in krassem Widerspruch stehen“.
Tatsächlich jedoch beschränkt sich dieses Phänomen nicht auf Jugendliche und Heranwachsende, sondern durchzieht Gesellschaften in allen Altersklassen – und man könnte zumindest im Sinne Eriksens zu der Überzeugung gelangen, dass diese Persönlichkeitsbilder nicht nur beim Adoleszenten gekoppelt sind mit der Verweigerung des Erwachsen-werdens: Ein nicht enden wollender, pubertärer Prozess in der geistigen Reife, der sich von der biologischen Reifung abkoppelt.
In der uns umgebenden Wirklichkeit treffen wir im Extremen auf solche Persönlichkeitsbilder in Kreisen sogenannter Verschwörungstheoretiker ebenso wie bei jenen, die in der festen Überzeugung, damit einem übergeordneten, irrational-göttlichen Weltziel zu dienen, als Kämpfer des „Islamischen Staat“ nach Syrien ziehen oder andernorts gegen das gegnerische System der „Ungläubigen“ terroristisch vorzugehen suchen. Tatsächlich allerdings führt an der Erkenntnis kein Weg vorbei, dass auch weniger auffällige Adulte den Prozess des Erwachsen-werdens oftmals mit spätestens 25 Lebensjahren abschließen und die bis dahin entwickelten Verhaltensweisen und Denkmuster nicht mehr ändern. Wenn beispielsweise ein sich selbst als „Progressiver“ verstehender Endfünfziger sich bei seinem getwitterten „Musiktipp für euch da draußen im digitalen Orbit“ grundsätzlich und regelmäßig aus dem Zeitraum zwischen 1968 und 1975 bedient, kann diese kontinuierlich dokumentierte Stagnation in der persönlichen Entwicklungsfähigkeit durchaus auch als Reprogressivität in der Umkehr des Fortschrittlichen verstanden werden. Da es ihm jedoch nach Fromm fast unmöglich ist, seiner Handlungsweise den Anschein einer vernünftigen Motivation zu versagen, wird er seine Stagnation als einen unentwegten Fortschritt definieren und sich aus tiefster Überzeugung selbst als der „Progressive“ von einst verstehen. Er wird nicht einmal begreifen, dass dieser Begriff aus der Mottenkiste der 68er selbst in den Kreisen, die sich dereinst als Progressive verstanden hätten, in der ihn überlebten Wirklichkeit längst ausgedient hat. In der Staatstheorie finden wir vergleichbare Phänomene in Ländern mit „institutioneller Revolution“ – der absurde Versuch, einen einmaligen Transformationsprozess gesellschaftlich zu konservieren, bei dem der Revolutionär selbst zum Reaktionär wird, der jedweden gesellschaftlichen Fortschritt, jede Weiterentwicklung als Angriff auf sein durchgesetztes Weltbild betrachtet und betrachten muss.
Der Weg in die Parallelwelt
Wenn ich nun dennoch den Begriff „System“ verwende, so geschieht dieses nicht nur deshalb, weil er in der gesellschaftskritischen Debatte erneut zunehmend mehr an Raum gewinnt, sondern weil er in seinem von Klemperer so perfekt beschriebenen Inhalt zunehmend mehr die öffentliche Wahrnehmung prägt. Hierbei beschränke ich diesen Begriff nicht auf jene Gegnerschaft zu bestehenden oder als real empfundenen „Regierungssystemen“, sondern möchte ihn als Synonym auch für jedes Denkmodell verstanden wissen, welches entweder sich selbst als von jenem „System“ bedroht sieht oder selbst derart in sich geschlossen ist, dass es, sämtlichen „System“-Kriterien einer scheinbaren, inneren Logik folgend, selbst als „System“ zu begreifen ist. Denn – siehe oben – da es dem Systemgegner unmöglich ist, der eigenen Handlungsweise den Anschein einer vernünftigen Motivation zu versagen, bleibt dem Gegner des „Systems“ nichts anderes übrig, als ein eigenes „System“ dagegen zu setzen: Er entwickelt in der Reaktion auf das ihn Bedrohende auf Basis innerer Logik ein Gegensystem, welches dann tatsächlich zur Grundlage der „Weltanschauung“ wird.
Diese Weltanschauung wiederum – so sagt es der Begriff – ist die persönliche Sicht auf die Welt, die sich in der Abgrenzung zum System der Ratio nicht mehr an die Wissenschaftlichkeit zu halten hat und rationale Erkenntnisprozesse durch irrationale Vorstellungen ersetzt. Irrationale Vorstellungen wiederum sind das, was der Mensch in seiner Begrifflichkeit mit dem Wort „Glauben“ beschreibt: Wer etwas „glaubt“, der weiß es nicht. Er nimmt jenseits der nachvollziehbaren Erkenntnis im Sinne Kants an, dass etwas so sei, wie er es glaubt – was wiederum, wie der Religionsphilosoph Paul Tillich zu recht beschreibt, als „das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht“, in seiner religiösen Dimension sehr wohl zulässig ist – jedoch dann seine Erklärungsfähigkeit verliert, wenn diese religiöse Dimension den Versuch unternimmt, die rationale Wissenschaft betrachten zu wollen. Wie umgekehrt der Versuch oder der Anspruch von Wissenschaft, die religiöse Dimension belegen oder widerlegen zu wollen, keinerlei Sinn macht, weil, wie es Tillich formuliert, „die Wissenschaft nur mit Wissenschaft und der Glaube nur mit Glauben in Konflikt geraten“ kann. Rationale Erkenntnis kann nur mit rationaler Erkenntnis, Glaube nur mit Glaube und damit Meinung als Manifestation des Glaubens nur mit Meinung korrespondieren. Das Faktische wird durch das Nicht-Faktische ersetzt, weshalb der Begriff des „Postfaktischen“ eine Chimäre ist, an deren Statt der Begriff des „Nonfaktischen“ zu setzen ist.
Welche Absurditäten dieser Konflikt in der Kommunikationsunfähigkeit der verschiedenen Dimensionen regelmäßig produziert, kann in unserer medialen Welt alltäglich bewundert werden. Ob Journalisten oder Politiker, ob vorgebliche Experten in den Unterhaltungsinstrumenten mit der Bezeichnung „Talkshow“, korrekt übersetzt als „Gesprächs-Schauveranstaltung“ – sie alle agieren nicht mit Fakten als wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern mit Glaubenssätzen, welche zumindest in der Spontaneität des öffentlichen Events anders als im geschriebenen Wort auch nicht kaschiert werden. Kaum eine Formulierung fällt in diesen Talkshows so häufig wie das „Ich glaube …“.
Es geht daher in diesen Schauveranstaltungen so gut wie nie um Erkenntnisschöpfung der Ratio, sondern um das Werben für das Irrationale – für die individuelle Weltanschauung. Wer tatsächlich als Wissender und nicht als Glaubender in eine solche Runde gerät, der steht dort gegen die selbstreferenzierende Meinung der Selbstermächtigung auf verlorenem Posten. Denn er bewegt sich – siehe Tillich – in einer anderen Dimension, die, da sie auf Grund ihres Mangels an emotionaler Mitnahmefähigkeit deutlich weniger Unterhaltungswert hat als das Aufeinandertreffen von Glaubenssätzen, in solchen Shows nicht gefragt ist. Hier treffen Parallelwelten auf einander, deren jeweilige Protagonisten nach dem Beifall jener heischen, die sich in derselben Parallelwelt bewegen – und gleichzeitig nach Locke darum werben, für ihren Glauben im Sinne von Meinung weitere Anhänger zu gewinnen.