Tichys Einblick
Hohe Verluste und Putins Erzählungen

Offensive im Raum Charkiv – Wie die Ukraine Russland ausspielt

Gelingt es Russland nicht innerhalb kürzester Zeit, den aktuellen Erfolgen der Ukraine auf dem Gefechtsfeld spürbar etwas entgegenzusetzen, dürften die Erschütterungen des Kampfes um eine unabhängige Ukraine auch an der Moskwa zu spüren sein.

Ukrainischer Panzer mit aufgesessenen Infanteristen im Raum Kharkiv, 09.09.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Seit dem 6. September läuft das, was der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits seit Wochen angekündigt hatte: Eine Offensive zur Befreiung von Russland besetzter Gebiete. Mittlerweile darf festgestellt werden: Die Ukraine ist dabei nicht erfolglos. Doch die Befreiung läuft gänzlich anders, als sie von westlichen Beobachtern und offensichtlich auch vom Kreml erwartet wurde.

Die Westoffensive – eine Finte?

Als Selenskyj die Befreiung des Südens mit der seit Februar russisch besetzten Stadt Cherson angekündigt hatte, schien dieses vor allem dem Ziel zu dienen, die russischen Operationen an der Donezk-Front zu schwächen. Russlands Kriegsminister Sergej Shoigu reagierte prompt, zog Einheiten vom Osten ab, um sie als Verstärkung nach Südwesten zu bringen. Im Ergebnis führte diese Umgruppierung dazu, dass die ohnehin schon ins Stocken geratene, von den Separatistenregionen Donezk und Luhansk ausgehende Offensive zum Stellungskrieg zu werden schien. Falls die Russen noch irgendwelche Erfolge verzeichneten, dann handelte es sich bestenfalls um wenige Quadratkilometer.

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Während der russische Vormarsch in der Ostukraine zum Erliegen kam, konzentrierte sich die Ukraine darauf, die Nachschubwege in die westlich des Dnjepr gelegenen, besetzten Gebiete und auf der Krim abzuschneiden. Die Flussübergänge sowohl in Cherson als auch am Kakhovka-Damm sind weitgehend zerstört, von Russland hilfsweise eingerichtete Behelfsbrücken wurden ebenfalls zum Ziel ukrainischer Angriffe.

Anfang September schien es, als begänne nun die lang angekündigte Offensive Richtung Cherson und Nova Kakhovka, um den westlich des Dnjepr stehenden Russen den Rückzug abzuschneiden. Tatsächlich auch gelang es der Ukraine, im Norden und im Westen der besetzten Gebiete geringe Erfolge zu vermelden.

Während nun aber die Russen weitere Kräfte vom Osten in den Südwesten verlegten und dabei mit dem Problem zu kämpfen hatten, dass es der Ukraine in der Vergangenheit gelungen war, russische Munitionslager und Logistikstützpunkte in den besetzten Gebieten zu zerstören und sie zudem Angriffen auf die Krim ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatte, startete die Ukraine am 6. September im Norden östlich der Metropole Charkiv eine breit angelegte Offensive gegen Russland.

Den schwächten Frontabschnitt ausgesucht

Offenbar aufgrund westlicher Geheimdienstinformationen und angesichts der Tatsache, dass es an diesem Frontabschnitt über längere Zeit ruhig gewesen war, ging die ukrainische Militärführung davon aus, hier auf vergleichsweise geringe Widerstände zu treffen. Konnten die nun folgenden Erfolgsmeldungen der Ukraine anfangs nicht verifiziert werden, darf mittlerweile als gesichert gelten, dass die ukrainische Armee im Bereich Balakljia, Izium und Kupiansk die Russen in die Flucht geschlagen hat. Die russische Militärführung gestand den Rückzug als „Umstrukturierung“ ein – eine Erzählung, die bereits genutzt wurde, als die um die Hauptstadt Kiew stationierten Truppen den Rückzug antreten mussten.

Die regionalen Kollaborateure, die von Moskau zur Verwaltung in den besetzten Gebieten eingesetzt worden waren, empfahlen nicht nur der Bevölkerung die Flucht, sondern setzten sich auch selbst in die benachbarte, russische Region Belgorod ab.

Entsprechende Mitteilungen über soziale Netzwerke lassen daran ebenso wenig Zweifel wie Bilddokumente, auf denen ukrainische Soldaten in den befreiten Städten die russischen Fahnen herunterreißen und durch Ukrainische ersetzen. Russische Einheiten haben ihre Stellungen zudem offenbar fluchtartig verlassen, wie die Bilder von eroberten Panzern und anderem schweren Gerät zeigen.

Am Nachmittag des 11. September konnte das ukrainische Militär die Befreiung des gesamten Territoriums nördlich Charkivs und westlich des Oskol-Flusses melden. Die dort stationierten russischen Einheiten sollen wie zuvor schon die Verwaltungs-Kollaborateure ihr Heil in der Flucht über die Grenze nach Belgorod gesucht haben.

Entgegen den Aufrufen der russischen Besatzer auch scheint die Bevölkerung nicht geflohen zu sein, sondern auszuharren und die Befreiung durch die ukrainischen Soldaten mit Jubel zu feiern.

Den Blick auch auf Donezk gerichtet

Neben den Erfolgen im Nordosten, die vor allem der Metropole Charkiv eine gewisse Entlastung bringen, scheint sich ein Vorstoß jedoch auch unmittelbar gegen die Rebellenhochburg Donezk zu richten. Zumindest findet sich im Netz ein Video des Terroristen und selbsternannten Präsidenten der Peudorepubliken, Denis Wladimirowitsch Pushilin, wie er seine sogenannte Hauptstadt Donetsk fluchtartig verlässt.

Tatsächlich war es den Russen zu keinem Zeitpunkt gelungen, westlich der Rebellenhochburg eine nennenswerte Pufferzone einzurichten – eine Übernahme der Stadt durch die Ukraine wäre insofern mehr noch als ein militärischer ein symbolischer Sieg über Putins Ambitionen der Wiederherstellung des großrussischen Kolonialreichs zulasten der Nachbarvölker.

Ist Shoigu noch Herr der Lage?

Während die russische Militärführung von den Ukrainischen Erfolgen offensichtlich überrascht ist und bislang keine erfolgversprechende Antwort findet, bedient sie sich einmal mehr der bloßen Destruktion, indem sie wahllos ukrainische Städte mit Raketen, Marschflugkörpern und Streubomben attackiert.

So spricht die Situation insgesamt zwar noch nicht dafür, dass die Ukraine nun das Blatt entscheidend wenden kann, jedoch unterstreicht sie die Feststellung, dass die russische Armee mittlerweile kopf- und planlos agiert. Weder scheint es ein strategisch erreichbares Ziel zu geben, noch verfügt die russische Armee über das taktische Format, der ukrainischen Offensiv effektiv entgegentreten zu können.

Das lässt nicht nur die Frage in den Raum stellen, wie weit Shoigu überhaupt noch Herr der Lage ist – und vor allem: Welche Informationen über den tatsächlichen Stand der Situation seiner „militärischen Spezialoperation“ erreichen den Kriegsherrn im Kreml überhaupt noch? Westliche Dienste gehen davon aus, dass im Kreml die fast schon als klassisch zu bezeichnende Situation eingetreten ist, bei der aus Angst vorm Zorn des Despoten nur noch geschönte Berichte bis zum Kremlherrscher durchdringen. Es kursieren allerdings auch Berichte, wonach Wladimir Putin, der über keinerlei militärische Erfahrung verfügt, die beiden zuständigen Mitarbeiter – Shoigu und Armeechef Gerassimow – bereits weitgehend entmachtet und selbst die operative Leitung des Überfalls an sich gerissen haben soll.

Das erinnert nicht nur an Verzweiflungsakte früherer Kriegsherren, sondern könnte auch als Hinweis darauf betrachtet werden, dass die Gesamtsituation Russland mittlerweile wesentlich deutlicher berührt, als die offiziellen Statements glauben machen wollen.

Die Mängel der russischen Rüstungsindustrie

Tatsächlich soll die russische Rüstungsproduktion mittlerweile die Sanktionen des Westens deutlich zu spüren bekommen. Vor allem der Ausfall wichtiger Chips macht deutlich, dass Russland zwar wie einst nach 1940 schwerindustrielle Möglichkeiten hat, jedoch der technologische Fortschritt des Westens – und der Chinesen – um Äonen vor den russischen Möglichkeiten liegt. Nicht zuletzt deshalb musste Russland nun bereits technisch unzuverlässige Drohnen aus iranischer Produktion ankaufen, während der türkische Hersteller der Bayraktar-Drohne offenbar die Errichtung eines Werks in der Ukraine plant. Und nicht nur im Hightech-Sektor scheint Russland an seine Grenzen zu stoßen. Die Personalprobleme versucht Russland, dass es bislang nicht wagt, der Ukraine offiziell den Krieg zu erklären, mittels Lockverträgen für Rekruten und Altgediente lösen zu wollen. Allerdings wird zunehmend mehr Russen bewusst, dass die Verachtung der Führung für ihre Volk vor allem Kanonenfutter benötigt. Zudem soll das russische Raketenarsenal mittlerweile um mehr als die Hälfte verbraucht sein und es auch im konventionellen Segment erheblich Lücken geben. So soll Putin zwischenzeitlich große Mengen an Granaten ausgerechnet beim Welt-Paria Nordkorea eingekauft haben.

Putins Unberechenbarkeit und erste Widerstände

All das verheißt auf russischer Site nichts Gutes, da die Unberechenbarkeit eines in die Enge getriebenen Putin auch weitere irrationale Handlungen nicht ausschließen lässt. Die als Blitzkrieg geplante Übernahme der Ukraine ist jedenfalls krachend gescheitert. Die einst als Ziele ausgegebenen Erwartungen erscheinen zunehmend irreal – Putin hat sich wie ein Terrier in sein Opfer verbissen und jede sinnvolle Perspektive verloren.

Das scheinen auch zunehmend mehr „Untertanen“ des Kremlherren wahrzunehmen. Zumindest regte sich dieser Tage in regionalen Gremien erster öffentlicher Widerstand gegen Putin. So beschloss am 7. September der Rat des Peterburger Stadtbezirks Smolninskoje mit sieben von zehn Stimmen eine Aufforderung an die Staatsduma, Putin wegen Hochverrats abzusetzen und anzuklagen. Er opfere Russlands Jugend und vernichte die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit des Landes.
Besonders bemerkenswert bei diesem Vorgang, der allein für sich schon viel Mut erfordert: Die Vertreter der Putin-Partei hätten diesen Antrag mit ihrer Mehrheit ablehnen können, sollen jedoch in Absprache mit den Antragstellern aus der Opposition bewusst der Abstimmung ferngeblieben sein.

Nun werden ein oder zwei solcher Regionalbeschlüsse Putin noch nicht ins Schleudern bringen, doch die hohen Verlustzahlen mit offenbar bereits über 50.000 toten und 40.000 verwundeten Kämpfern, mehr als 1.000 Panzern sowie 4.500 weiteren Militärfahrzeugen, über 100 Flugzeugen und Hubschraubern sowie elf Kriegsschiffen lassen sich vor der russischen Öffentlichkeit nicht mehr geheim halten.

Vor allem aber dokumentieren sie der Welt etwas, das bis vor wenigen Monaten noch als undenkbar galt: Eine offenbar der Konkurrenz hoffnungslos unterlegene Armee, deren Wunderwaffen, so es sie überhaupt jemals außerhalb von Putins Erzählungen gegeben haben sollte, mittlerweile verpufft sind und deren Führung in der Weltkriegslogik der Roten Armee steckengeblieben ist, während die Ukraine nach westlichen Konzepten ausgebildet wurde und mit den Mitteln moderner Kriegsführung ihre Erfolge erringt.

Hohe Verluste und Putins Erzählungen

Damit hat Putin den Beweis erbracht, dass er auf konventionellem Weg nicht nur den Armeen der Nato hoffnungslos unterlegen ist. Vor allem auch die Volksrepublik China, die dieser Tage einmal mehr die Möglichkeit hatte, Russlands Armee anlässlich den Manövers Wostok zu bewundern, wird ihre Schlüsse ziehen.

Russland als potentieller Partner im Krieg gegen die USA wird in Peking zunehmend mehr als Totalausfall, sogar als Risiko wahrgenommen werden. Und die nie beantwortete Frage, ob China sich die im 19. Jahrhundert vom Zarenreich abgezwungenen Gebiete Sibiriens – und vielleicht noch mehr – im Falle eines Kollapses des Putin-Regimes zurückholen wird, dürfte zumindest in der strategischen Abteilung der Volksbefreiungsarmee zielorientiert erörtert werden. Immerhin war es Mao, der in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts mit der Überlegung liebäugelte, die vom wahren kommunistischen Glauben abgefallenen Moskowiter in Koalition mit den USA auf präkoloniale Größe zurück zu stutzen.

Im Moment noch eint die Despoten in Peking und Moskau ihre gemeinsame Abneigung gegen die Dominanz Washingtons. Angesichts der sich offenbarenden Situation Russlands jedoch könnte sich wie einst Mao auch ein Xi die Frage stellen, ob eine Aufteilung der Welt zwischen China und den USA nicht attraktiver ist, als mit einem dahinsiechenden Russland einen schwächelnden und militärisch unfähigen Partner an seiner Seite zu haben.

Gelingt es Russland nicht innerhalb kürzester Zeit, den aktuellen Erfolgen der Ukraine auf dem Gefechtsfeld spürbar etwas entgegenzusetzen, dürften die Erschütterungen des Kampfes um eine unabhängige Ukraine auch an der Moskwa zu spüren sein. Dabei stellt sich angesichts der Situation die Frage, ob es überhaupt noch einen halbwegs gesichtswahrenden Ausweg für Putin geben kann.

Der zwingende Rückzug der Russen aus der Ukraine einschließlich Rückgabe der Krim dürften allein schon reichen, um Putin aus dem Amt zu fegen. Darüber hinaus jedoch macht die Ukraine angesichts des Terrorüberfalls durch Russland mittlerweile auch berechtigte Regressansprüche geltend. Derzeit steht eine Summe von „nur“ 300 Milliarden Dollar im Raum. Angesichts der tatsächlichen Schäden, die der russische Überfall bereits verursacht hat und noch verursachen wird, kann das jedoch nur ein Anfang sein.

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