Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki ist dafür bekannt, in regelmäßigen Abständen kleinere Provokationen zu starten, bei denen er sich am Sturm im Wasserglas ergötzt, um am Ende dann doch wieder artig auf Parteilinie einzuschwenken. Damit hält sich der Rechtsanwalt aus dem hohen Norden in der Öffentlichkeit präsent – und streichelt seine Eitelkeit. Insofern sind es Kubickis Provokationen in der Regel auch nicht wert, ernstgenommen zu werden.
Nun allerdings hat er sich an ein Thema gewagt, dass einer gewissen Brisanz nicht entbehrt und bei dem er sich sofort den geballten Widerspruch aus den eigenen Reihen eingesammelt hat. Denn Kubicki fordert angesichts der spätestens im Winter zu erwartenden Wind-Sonne-Gas-Flaute, die Republik möge doch, da man nun einmal derzeit noch vom russischen Gas abhängig sei, die einsatzbereite Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb nehmen. Das ist selbstverständlich ein hochbrisantes Politikum. Nein, mehr noch: Es ist fast schon ein Sakrileg.
Nord Stream 2 in Betrieb nehmen
Mit dem russischen Überfall allerdings hatte sich die Situation grundlegend geändert. Die Ukraine musste fürchten, dass Russland seinen gesamten Gastransfer in zwei Leitungen durch die Ostsee lenken könnte und damit nicht nur die Transfergelder ausfielen, sondern auch eine gewisse russische Zurückhaltung gegenüber der Pipeline-Infrastruktur aufgegeben werden könnte. Deutschlands haltungsorientierte Außenpolitik musste sich folglich mit der überfallenen Ukraine auch in Sachen Gas solidarisch erklären und erklärte umgehend den nun regierungsamtlich angestrebten Ausstieg aus dem sibirischen Gasimport, was mit der Verweigerung der Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 einherging.
Dumm allerdings war, dass die Bundesrepublik sich infolge des grün-ideologischen Kampfes gegen Energiegewinnung aus Kernkraft, Kohle und Öl mittlerweile in eine energetische Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen begeben hatte, die nicht nur über Nacht, sondern über Monate und vielleicht Jahre nicht durch andere Lieferanten zu ersetzen war. Zudem war jener Rückgriff auf andere Gaslieferanten deutlich teurer als eben jenes Erdgas aus den Weiten Asiens.
Also setzte die Bundesregierung unter Olaf Scholz zu einem energiepolitischen Eiertanz an, der sowohl die Fahne der Solidarität mit der Ukraine hochhalten und gleichzeitig den Faden zum Hauptgaslieferanten nicht gänzlich abschneiden sollte. Gleichzeitig kam das Gasdesaster zumindest jenen sehr zupass, die nach Kernkraft, Öl und Kohle auch den möglichst sofortigen Ausstieg aus dem Gas fordern, weil dieses als fossiler Energieträger ebenso wie die anderen Fossilen dazu beiträgt, dass sich der Erdball unweigerlich in absehbarer Zeit in einen unbewohnbaren Feuerball verwandeln wird. Die Klima- und Weltenrettung hängt insofern unmittelbar davon ab, auch die Gasnutzung am besten gestern durch die umweltzerstörenden Windräder zu ersetzen, die im Narrativ der Blase „erneuerbare Energien“ produzieren, was allerdings nach dem Energieerhaltungssatz wissenschaftlicher Schwachsinn ist.
Gleichwohl: Auch den Grünen – zumindest denen, die nun in Regierungsverantwortung standen – dämmerte, dass es für sie persönlich zu heiß werden könnte, wenn es den Bürgern zu kalt wird. Von der Industrie ganz zu schweigen, deren Erfolg immer noch maßgeblich vom ständigen Zustrom des Gases abhängt. Also wurden Sparappelle ausgegeben und nach Möglichkeiten gesucht, dennoch genug Reserven einzulagern, um auch bei einem russischen Lieferstopp irgendwie über den Winter zu kommen.
Putins Spiel mit dem Gas
Nun mag zwar der russische Präsident nach internationalen Maßstäben unbegründet über Nachbarländer herfallen – aber dumm ist er nicht. Und so ersann er flugs Wege, wie er die in seine Abhängigkeit geratenen Deutschen ständig mehr ein wenig quälen konnte, ohne den offenen Vertragsbruch zu riskieren. Wladimir Putins Kalkül liegt auf der Hand. Gelingt es ihm, die Deutschen aus der westlichen Solidarität mit der Ukraine herauszubrechen; schafft er es vielleicht sogar, die Bundesrepublik durch soziale Unruhen zu lähmen, so kann dieses seinen Kriegs-Zielen nur dienlich sein.
Putin spielte also seine Spielchen, was man ihm aus seiner Sicht auch nicht verdenken kann, und wies nicht ohne Süffisanz anlässlich eines Besuchs in Teheran im Juli darauf hin: „Was das Gas betrifft, so haben wir noch eine fertige Trasse – das ist Nord Stream 2. Die können wir in Betrieb nehmen.“ Will sagen: Wo ist das Problem, liebe deutsche Erdgaskunden? Funktioniert Nord Stream 1 nicht, so nehmt doch Nord Stream 2.
Den Spieß umdrehen
Selbstverständlich kann man dieses Angebot als Erpressungsversuch bezeichnen – aber Erpressungen funktionieren nur, wenn der Betroffene erpressbar ist. Was – siehe oben – nun einmal in Sachen deutscher Energieversorgung der Fall ist.
Da man sich aber nicht erpressen lassen will und zudem das Eingehen auf Putins Angebot als Einknicken und unsolidarischer Akt gegenüber der Ukraine zu verstehen wäre, wurde auf diesen Hinweis bestenfalls ablehnend eingegangen. Bis nun eben jener Kubicki um die Ecke kam und genau diese Inbetriebnahme von Nord Stream 2 forderte – und sei es nur vorübergehend, weil ja demnächst sowieso kein Gas aus Russland mehr bezogen und alle Energie aus anderen Quellen gewonnen wird.
Wörtlich sagte der FDP-Mann: „Wir sollten Nord Stream 2 jetzt schleunigst öffnen, um unsere Gasspeicher für den Winter zu füllen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Nord Stream 2 nicht zu öffnen. Wenn die Gasspeicher gefüllt sind, können wir Nord Stream 2 ja wieder schließen – und die anderen Pipelines auch, wenn wir unabhängig geworden sind.“
Die Reaktionen kamen prompt. Und mit der Vernunft ist es in der Bundesrepublik ja ohnehin so eine Sache. Kubickis Parteichef Christian Lindner, derzeit auch als Bundesfinanzminister unterwegs, bezeichnete den Vorstoß daher umgehend als „falsch und abwegig“. Vize-Regierungssprecher Wolfgang Büchner ließ wissen: „Nord Stream 2 ist aus guten Gründen gestoppt worden!“
Und der Chef des Koalitionspartners der grünideologischen Fraktion, Omid Nouripour, weisheitete: „Wenn Putin liefern wollte, er hätte Jamal, er hätte die Ukraine-Route, er hätte Nord Stream 1. Es gibt politische Gründe, warum er es nicht tut. Warum sollte er das mit Nord Stream 2 anders machen?“
Putin unter Zugzwang setzen
Damit dürfte Nouripour zwar eine bislang unbewiesene Tatsache ausgesprochen haben – nur hat er damit ebenso wie die anderen Kritiker unter Beweis gestellt, dass er nicht in der Lage ist, über den tagespolitischen Tellerrand hinaus zu schauen. Denn all das, was Nouripour verkündet, weiß Kubicki auch. Nur: Warum nicht den Spieß umdrehen und Putin beim Wort nehmen?
Wenn laut Putin die Drosselung der Gasversorgung ausschließlich dem maroden Zustand von Nord Stream 1 geschuldet ist, dann steht der Schließung dieser Pipeline zwecks Generalüberholung doch überhaupt nichts entgegen – vorausgesetzt eben, dass man sie einfach vorübergehend durch Nord Stream 2 ersetzt. Denn dann steht Putin unter Zugzwang. Will er ernst genommen werden, müsste umgehend die vereinbarte Liefermenge ihren Weg nach Westen antreten. Dann wäre es, wie Kubicki zutreffend feststellt, kein Problem, die Gasspeicher zu 100 Prozent zu füllen und die Republik sicher durch den Winter zu bringen.
Wenn aber auch mit Nord Stream 2 nur ein Bruchteil der vereinbarten Menge käme, dann müsste Putin sich offenbaren. Er könnte den Versuch unternehmen, nun auch Nord Stream 2 als defekt und nicht leistungsfähig zu deklarieren. Damit müsste er jedoch einräumen, dass Russland nicht in der Lage ist, fehlerfreie Technik zu bauen. Und glauben würde ihm die Welt weder das eine noch das andere.
Wollte er also immer noch nur geringe Mengen liefern, so müsste er sich dann auch öffentlich dazu bekennen, dass er seine Energielieferungen bei Bedarf als Waffe und Erpressungsmittel einsetzt. Nicht, dass das wirklich überraschen würde – aber es wäre ein deutliches Signal nicht nur an künftige Opfer, es mit den Abhängigkeiten von Putins Reich nicht zu übertreiben. Und die Bundesrepublik hätte dann sogar die Möglichkeit, gegen Russland auf Vertragserfüllung zu klagen. Ob das am Ende erfolgreich wäre, lassen wir dahingestellt. Aber damit wären zumindest die Verantwortlichkeiten ein für allemal geklärt.
Deshalb – und nur deshalb ist Kubickis Vorstoß in diesem Falle ausnahmsweise einmal richtig. Wobei er gewusst haben wird, dass er damit in der gründominierten Fraktion an die Gummiwand läuft. Weshalb es dann eben doch wieder nichts anderes gewesen ist als einer der regelmäßigen Vorstöße des FDP-Vizes, seinem Ego durch öffentliche Aufmerksamkeit ein wenig zu schmeicheln. Die Gegenattacken steckt er dabei locker weg. Ganz im Gegenteil: Ohne den geballten Widerspruch fiele ja die ersehnte öffentliche Beachtung aus. Insofern: eine bewusst kalkulierte Provokation unter vielen. Nur dieses Mal eben auch eine, die durchaus Sinn machen könnte, würde in der Politik einmal einen klitzekleinen Schritt weitergedacht.