Tichys Einblick
Appeasement ist immer falsch

No Peace for Our Time – Pence, Syrien und die Türkei

„Peace for our time“ war 1938 der Auftakt zur bisher größten Katastrophe, die die Menschheit sich selbst geschaffen hat. Hoffen wir inständig, dass das aktuelle US-Appeasement nicht eines Tages ähnlich beurteilt werden muss.

Murat Kula/Anadolu Agency via Getty Images

„My good friends, for the second time in our history, a British Prime Minister has returned from Germany bringing peace with honour. I believe it is peace for our time. We thank you from the bottom of our hearts. Go home and get a nice quiet sleep.“
Der das sagte, war der Premierminister des Vereinigten Königreichs. Neville Chamberlain sprach diese Worte, als er am 30. September 1938 aus München zurückgekommen war. Er glaubte, was er sagte. Denn dafür hatte er die tschechischen Partner den Begehrlichkeiten eines skrupellosen Machtpolitikers ausgeliefert. Adolf Hitler hatte ohne Waffengewalt bekommen, was er wollte. Und er hatte gelernt: Die von ihm verachteten Demokratien muss man nur heftig genug in die Zange nehmen, um ihnen ohne Waffeneinsatz das abzuringen, was man zu erlangen sucht. Tags darauf marschierte die Wehrmacht in der Tschechoslowakei ein. Polen okkupierte das Teschener Gebiet der Tschechen und Ungarn setzte seine Ansprüche im Süden und Osten gegen die Slowaken durch.

Der „Frieden für unsere Zeit“, den Chamberlain und sein französischer Amtskollege Edouard Daladier dadurch zu sichern suchten, indem sie dem Diktator gaben, was er verlangte, sollte nicht einmal ein halbes Jahr währen. Mitte März 1939 rollten die deutschen Panzer aus dem Sudetenland heraus in die Rest-Tschechei, schufen das Generalgouvernement Böhmen und Mähren sowie den deutschen Klientelstaat Slowakei. Nicht einmal ein Jahr nach dem sogenannten Münchner Abkommen dann steckten die Deutschen unter Hitlers Führung ganz Europa in Brand. Der Lernprozess der ungehinderten Übernahme der Tschechischen Staatsschöpfung schien zu gewährleisten, sich Scheibchen für Scheibchen all jene Gebiete zurückholen zu können, die nach 1918 von den Siegermächten aus dem Territorium des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs herausgeschnitten worden waren. Doch mittlerweile hatten auch Briten und Franzosen gelernt. Sie hatten begriffen, dass Imperatoren nie zufrieden sind – und dass auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, der – umso früher eingesetzt – desto mehr Schaden verhütet.

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Der Auftritt des US-amerikanischen Vizepräsidenten Mike Pence auf dem Luftwaffenstützpunkt im deutschen Ramstein erinnerte auf erschreckende Weise an jenen Auftritt Chamberlains. Der Amerikaner ließ sich feiern dafür, dass er einem Despoten widerspruchslos das geschenkt hatte, was er zu begehren schien. Als Gegengabe erhielt er die vage Zusage einer 120-stündigen Waffenruhe. 120 Stunden, in denen die Opfer türkischer Aggressionspolitik sich gleichsam selbst gegenüber dem Feind entblößen sollen. Friede in unserer Zeit? So sicherlich nicht.

Mit dem gänzlich undurchdachten Rückzug der US-Militärs aus dem nordöstlichen Syrien hatte Donald Trump dem türkischen Imperator das Freizeichen gegeben, nun endlich gegen die ihm verhassten Kurden auf syrischem Territorium losschlagen zu können. Er setzte seine Militärwalze in Gang und marschierte, wie ein Jahr zuvor in Afrin, unprovoziert und ohne Kriegserklärung im Nachbarland ein. Seit 1939/45 spricht die Welt in solchen Fällen von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, dessen Verursacher als Kriegsverbrecher vor das Tribunal in Den Haag gehören.

Offiziell wollen die Kriegstreiber in Ankara „nur“ einen 30 Kilometer breiten „Schutzstreifen“ sichern – um eine herbeigedichtete Bedrohung seitens der syrischen Kurden abzuwenden. Allerdings: In diesem Streifen liegen bedeutende Kurdenstädte wie das einst mit hohem Blutzoll von radikalislamischen Terrorbanden befreite Kobane und die Universitätsstadt Qamishli, welche gleichzeitig Kantonshauptort im selbstverwalteten Kurdengebiet Rojava ist. Und nicht nur, dass der beanspruchte 30-Kilometer-Streifen einer Selbstentleibung der Kurden entspräche und die in Ost-West-Richtung verlaufende Hauptverbindungsstraße der Kurdengebiete dem türkischen Feind auslieferte – es ist auch davon auszugehen, dass diese dreißig Kilometer wie einst das Sudetenland nur der Einstieg in weitere Eroberungsgelüste des kleinen Sultans aus Ankara sind. Dem geht es nur scheinbar um einen „Schutzstreifen“ – sein eigentliches Ziel ist die Vernichtung jeglicher kurdischer Selbstverwaltung in und außerhalb der Türkei, im optimalen Falle verknüpft mit der genozidalen Vertreibung der kurdischen Bevölkerung, die er durch syrische Araber und Turkmenen – und Brüder im radikalislamischen Geist – ersetzen möchte.

Der Widerstand war größer als erwartet

Bis vor einer Woche wusste das US-Militär diese Gelüste des von einem neuen Großosmanien träumenden Erdogan zu verhindern. Allein durch die friedliche Präsenz des US-Militärs in Rojava waren dem Möchtegern-Großtürken die Hände gebunden. Bis Trump ihm grünes Licht gab – ob aus Kalkül, Dummheit oder in der Hoffnung, dafür von seinen Wählern gefeiert zu werden, mag dahingestellt sein. Erdogan und seine Bande von AKP-Terroristen gab dem eigenen Militär grünes Licht – und musste zu ihrem Leidwesen feststellen, dass die Selbstverteidigungskräfte der mit den demokratischen Arabern verbündeten YPG (in deutschen Sprechmedien neuerdings immer „Dscheh-Peh-Geh“ ausgesprochen) ein härterer Gegner als erwartet sind. Statt mit der zweitgrößten NATO-Armee auf breiter Front erfolgreich zu sein, konnten die Türken bislang nur einen rund 50 Kilometer langen Streifen westlich der türkisch-syrischen Grenzstadt Ceylanpinar/Ras al’Ayn besetzen und Luftangriffe auf Kurdenstädte durchführen. Gleichzeitig zwangen sie die Kurden in die Koalition mit den syrischen Assad-Kräften, die zwischenzeitlich das von Erdogan begehrte Manbidj und die Region um Kobane unter ihre Kontrolle gebracht haben. Damit stehen Assads Einheiten unmittelbar an der türkischen Grenze – und werden verhindern, dass Erdogans Wunsch nach einem durchgehenden „Schutzstreifen“ Wirklichkeit werden kann.

Frieden in unserer Zeit

Frieden in unserer Zeit? Wie soll das funktionieren, wenn türkische Begehrlichkeiten auf syrische Territorialansprüche treffen und beides mit dem kurdischen Wunsch nach Selbstverwaltung kollidiert?

Trump hat mit seinem undurchdachten Rückzug ein weiteres Pulverfass in das Kriegsgebiet gestellt. Und er hat gleichzeitig dafür gesorgt, dass die unter großen Mühen und mit hohem Blutzoll festgesetzten Islamterroristen gute Chancen haben, sich der kurdischen Kontrolle zu entziehen und ihren von Erdogan klammheimlich unterstützten Kampf gegen alles, was nicht wortgetreu den Gewaltphantasien eines gewissen Mohammed folgt, wieder aufzunehmen.

Dieses zu verhindern, hätten nur und ausschließlich die USA eine reelle Chance gehabt. Indem der Rückzugsbefehl umgehend gestoppt worden wäre und die US-Einheiten ihre aufgegebenen Stützpunkte in Rojava erneut übernehmen. Statt aber dieses zu tun, schickte Trump nun Pence zum Despoten von Ankara – und schenkte diesem wie einst Chamberlain dem Hitler all das, was er begehrte. Wobei der deutsche Reichskanzlerpräsident damals immerhin geltend machen konnte, dass es ihm um die Heimholung volksdeutscher Sudeten ging, während es Erdogan die Hoheit über die von ihm in nationaltürkischer Tradition als Bergtürken diskriminierten Kurden geht.

Pence feiert sich und seinen Präsidenten für eine angebliche Waffenruhe, die nichts anderes ist als jene Unterwerfung des Appeasement unter die Wünsche eines Diktators. 120 Stunden Waffenruhe hat der Despot zugestanden. 120 Stunden, in denen die kurdischen Selbstverteidigungskräfte ihre befestigten Stellungen aufgeben und sich – so die türkische Lesart – selbst entwaffnen sollen. Und das Gegengeschäft in diesem Trump’schen Superdeal? Für die Kurden nichts. Keine Garantie, dass mit dem 30-Kilometer-Streifen die türkischen Gelüste befriedigt sind. Keine Anerkennung ihres Bestrebens nach autonomer Selbstverwaltung. Nicht einmal die Anerkennung als Partner auf diplomatischem Parkett. Stattdessen die Beschimpfung als Terroristen und damit bereits die türkische Vorankündigung, den Waffengang sofort wieder aufzunehmen, sobald das Etappenziel der Übernahme und Entwaffnung der kurdischen Stellungen und Einheiten im 30-Kilometer-Streifen erreicht ist. So glauben außer Pence und Trump nicht einmal mehr Merkel und Macron daran, dass dieser „deal“ ein guter ist.

Vielleicht werden die Kurden ein paar Positionen räumen, die im Verteidigungskrieg gegen die Invasoren ohnehin kaum zu halten wären. Aber sie werden sich nicht selbst entwaffnen und damit ungeschützt der Rache des IS und der Willkür aufgehetzter türkischer Soldaten ausliefern, die ihren Hass bereits an wehrlosen Kurdinnen ausgelebt haben. Sie werden nicht selbst zu Verrätern an ihrem Volk werden und ihre dicht besiedelten Städte widerstandslos den Invasoren und ihren islamischen Horden überantworten. Womit allein schon deshalb dieser von Pence gefeierte Deal nicht einmal als Camouflage taugt.

Trumps Außenpolitik – nur fauler Zauber

Die Frage steht im Raum: Merken Trump und Pence nicht, wie sie die USA abschließend um ihre internationale Reputation bringen? Oder ist es tatsächlich so, dass diese Preisgabe weltpolitischer Brennpunkte einer Trump-wählenden Wahlergebnismehrheit völlig egal ist? Vielleicht auch nur sind sie mit ihrem US-Zentrismus nicht im Stande, die Tragweite dessen zu erkennen, was die US-Administration einmal mehr an weltpolitischem Desaster produziert.

Möglich, dass Trump mit seiner verantwortungslosen Außenpolitik meint, die Seele seines Wählers zu streicheln. Möglich auch, dass dem tatsächlich so ist. Fragwürdig allerdings ist die Trump‘sche Politik deshalb mittlerweile nicht nur in der Sicht von außen. Denn seine immer wieder angekündigten Deals und No-Deals entpuppen sich zunehmend als fauler Zauber.

Ähnlich stellt sich die Situation überall auf der Welt dar, wo der amerikanische Dealmaker im wahrsten Sinne des Wortes auftrump(f)t: Außer Spesen nichts gewesen. Stattdessen rächt er sich an den Chinesen dafür, dass seine US-Wirtschaft sich von den Asiaten hat überrollen lassen, mit Strafzöllen. Und quält nun auch den deutschen und europäischen Mittelstand mit Strafzöllen, weil die USA im Subventionswettlauf ihrer jeweiligen Luftfahrtindustrien auf der Etappe ins Hintertreffen geraten sind.

Nicht America-first ist das Problem

„America first“, dieses den europäisch-sozialistischen Globalisten so verhasste Prinzip, war nicht zu kritisieren. Auch wenn es manche wie die Frau Bundeskanzler vergessen haben: Es ist die Aufgabe eines Staatsführers, die Interessen seines Landes als oberste Priorität zu betrachten. Der Glaubenskrieg, den EU-Führer mit medialer Unterstützung deshalb gegen den Immobilienmogul gestartet hatten, war falsch und unsinnig – und er rächt sich dadurch, dass jeglicher Einfluss, jegliche Einwirkungsmöglichkeit auf Trump verloren gegangen ist.

Etwas anderes aber ist es, wenn sich die reale Politik des „realDonaldTrump“, wie er bei twitter firmiert, als ständige Schaumschlägerei und Selbstentmannung entpuppt. Wenn US-Soldaten gänzlich unamerikanisch ihre bisherigen Verbündeten zum Abgeschlachtet-werden preisgeben. Wenn die kleinen und großen Despoten dieser Welt gebummfiedelt werden, um werbewirksame Fotos posten zu können, und sie dabei ungestört ihr mörderisches Treiben fortsetzen dürfen. Wenn die Klappe gegen vorgebliche Terrorunterstützer groß aufgerissen wird und der Angebellte dennoch in Ruhe seinem bellum schiiticum frönen und die Weltenergiepolitik bedrohen kann. Wenn die US-Administration wie einst Chamberlain vom „peace for our time“ träumt und dafür die aggressionspositiven Lernprozesse von Imperatoren befördert.
„Peace for our time“ war 1938 der Auftakt zur bisher größten Katastrophe, die die Menschheit sich selbst geschaffen hat. Hoffen wir inständig, dass das aktuelle US-Appeasement nicht eines Tages ähnlich beurteilt werden muss.

Nachtrag

Wie am Nachmittag des Freitag bekannt wurde, hat EU-Ratspräsident Donald Tusk die US-türkische Vereinbarung scharf kritisiert. Bei dem Deal handele es sich nicht um eine Waffenruhe, sondern um eine Kapitulationsaufforderung an die Kurden.

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Ali Ertan Toprak, Präsident der Kurdischen Gemeinde Deutschland, drückte gegenüber TE sein absolutes Unverständnis zur Unterwerfungspolitik der westlichen Staaten gegenüber Erdogan aus. „Die Türkei geht bereits wirtschaftlich auf dem Zahnfleisch. Die Aggressionspolitik Erdogans dient in erster Linie der Ablenkung vom eigenen Versagen. Wenn EU und USA wollten, könnten sie innerhalb eines Tages den Zauber beenden und Erdogan die Luft ablassen. Lässt man ihn jedoch gewähren, dann wird er als nächstes die autome Kurdenregion im Nordirak angreifen – und sich dann den griechischen Ägäisinseln zuwenden. Von sich aus wird er keinen Halt machen.“

Toprak unterstrich, dass die Kurden derzeit in Deutschland seitens der Bevölkerung eine bisher nie gekannte Solidarität erfahren, wofür er sich herzlich bedankt. Er forderte noch einmal alle Kurden auf, sich weder bei den Demonstrationen noch im täglichen Leben von den Nationaltürken provozieren zu lassen. „Einige türkische Nationalisten versuchen, die Kurden in Deutschland zu Gewalttaten zu verleiten. Wir bleiben dabei: Wer gegen einen verbrecherischen Krieg demonstriert, darf nicht selbst zu Gewalt greifen. Auf Provokationen nicht reagieren – es so machen wie die kurdische Fußballmannschaft, deren türkische Gegner nach deren ersten Tor militärisch salutierten: Einfach schweigend den Platz verlassen und die Provokation ignorieren!“

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Macron, Merkel und Johnson wollen kommende Woche zu Erdogan reisen. Wacht die europäische Achse endlich auf? Oder werden sie wie gewohnt weiterkuscheln und dem kleinen Sultan die Füße küssen?

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Die angebliche Waffenruhe hält nicht. Die Kämpfe um die kurdische Grenzstadt Ras alAyn gehen unvermindert weiter.

Die syrische Armee hat mittlerweile den Ort Tal-Tamr erreicht. Dieser liegt unmittelbar an der strategisch wichtigen Querverbindung M4 und grenzt im Südosten unmittelbar an den 50 Kilometer breiten Streifen, den die türkische Armee bisher besetzt hat.

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Die Verwaltung der letztverbliebenen Rebellenregion um das nordwest-syrische Idlib meldete am frühen Nachmittag den Abwurf einer Vakuumbombe durch russische Kampfflieger. Vakuumbomben, über die sowohl Russland als auch die USA verfügen, gelten als besonders zu ächtende Kampfmittel. Allerdings ist bei derartigen Meldungen Vorsicht geboten, solange sie nicht durch neutrale Stellen bestätigt sind.

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