Tichys Einblick
Ein Projekt wie geschaffen für die Grünen

NEOM – Saudi-Arabiens Vision in der Wüste

Baut Mohammed ibn Salman die Traumstadt der Grünen? NEOM wärer die Zukunftsstadt einer wohlhabenden Elite. Off-limits.

picture alliance / Cover Images | NEOM

Das Königreich des Mohammed ibn Salman gilt nicht unbedingt als einer der modernsten Staaten auf diesem Planeten. Spätestens seit dem Mord an seinem Landsmann Jamal Kashoggi im Istanbuler Konsulat des Königreichs Saudi-Arabien ist der Ruf des Thronfolgers aus der arabischen Sippe der Söhne Sauds nachhaltig beschädigt. Doch nun prescht ausgerechnet der Kronprinz und faktische Herrscher über das radikalislamische Wahabitenreich auf der Arabischen Halbinsel mit einer im wahrsten Sinne des Wortes fantastischen Zukunftsvision vor, plant den Bau der ultimativen Zukunftsstadt.

Das Projekt, mit dem der Thronfolger nun seinen beschädigten Ruf zu sanieren sucht, wird unter der Bezeichnung NEOM (نيوم) präsentiert. Werbespots für dieses Projekt, aktuell nicht nur in deutschen Medien geschaltet, wirken auf den ersten Blick wie ein Zukunftsbekehrungsprogramm jener zahlreichen grün-klimareligiösen NGO-Meinungsmacher: Die autofreie Stadt, eingebettet in die Natur und sich weitgehend selbst versorgend – das biblische Paradies ewiger Harmonie! Nicht nur die ständig wachsende Gemeinde der grünen Klimareligiösen wird in Jubel und Lobpreisung ausbrechen. NEOM ist das, was ihnen als Stadt der Zukunft vorschwebt – und es ist ein Projekt, dass auch jene mit Interesse begleiten sollten, deren Realismus mit den Füßen auf dem Boden unserer Erde steht.

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Denn tatsächlich steckt hinter NEOM weitaus mehr als nur eine Phantasterei irgendwelcher unausgelasteter Großstadtkinder auf Sinnsuche. Was der Mann – früher hätte man ihn als Ölscheich bezeichnet – nun angeht und offensichtlich zu seinem Renommierprojekt machen will, darf mit Fug und Recht als revolutionär bezeichnet werden. Wengleich – auch das sei nicht unterschlagen – es aufgrund seiner Ambition durchaus zu Skepsis Anlass geben kann. Und zu der Frage: Was plant Mohammed tatsächlich, wenn er als künftiger Führer eines durch islamische Fesseln gefangenen Königreichs ein derartiges Projekt angeht?
Die Vision einer neuen Zukunft

NEOM steht, so wird es von der Regierung in Riad präsentiert, für „eine Vision, wie eine neue Zukunft aussehen kann“. Es steht für ein städtebauliches Konzept, welches am Nordostufer des Roten Meeres nahe der jordanischen Hafenstadt Aqaba Wirklichkeit werden soll. Es steht für die Idee einer Metropole der Zukunft, die alle städtebaulichen Traditionen überwindet. Es soll stehen für eine „Denkweise“, die mit allem bricht, was die Menschheit in ihrer Geschichte geprägt hat.
„Imagine a community of dreamers and doers from all over the world – from a mix of homelands, religions and backgrounds – all living and collaborating toward a common goal.“

So bewirbt Kronprinz Mohammed, Sohn des Salman, das, was als „Kernstück der Vision Saudi Arabien 2030“ bezeichnet wird. Ein Aufbruch in die Welt des 22. Jahrhunderts? Fast will es so scheinen.

NEOM ist konzipiert für eine Million Einwohner, die in allen Teilen der Welt angeworben werden sollen und dort, an einer Felsenküste, gemeinsam am Ziel der Zukunftsstadt arbeiten sollen. Dabei hat es der Kronprinz eilig: Die Realisierung soll nicht morgen oder übermorgen in Angriff genommen werden, sondern jetzt. Heute. Starttermin des Aufbaus dieser neuen Stadt ist das erste Quartal 2021. Spätestens 2030 soll die geplante Weltkulturgemeinschaft in dieser Stadt ihren festen Wohnsitz haben. Da ist tatsächlich Eile angebracht.

„The Line“

Wie aber stellt sich das rückständige Land in einer der wärmsten und trockensten Regionen der Welt diese Zukunftsstadt vor?
Bemerkenswert ist bereits die Dimension. Die Stadt soll sich über eine Länge von 170 Kilometern erstrecken. Das entspricht in etwa der Entfernung zwischen Berlin und Dresden. „The Line“, wie diese Idee deshalb genannt wird, weil NEOM tatsächlich nur entlang dieser Linie als Schlagader der künftigen Metropole entstehen soll – nur in die Länge, nicht aber in die Breite geplant ist – soll dennoch garantieren, dass jeder Bewohner nicht mehr als 20 Minuten benötigt, um jeden Ort entlang dieser Linie zu erreichen. Höchsten fünf Minuten Fußweg soll jeder Bewohner aufwenden müssen, um aus dem urbanen Bereich in unberührte Natur zu kommen. Egal, wo entlang der Linie er startet.

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„The Belt“, die Gürtelstadt, als welche das Projekt aufgrund dieses Konzepts auch bezeichnet wird, soll für ein hochmodernes Mobilitätskonzept ohne Kraftfahrzeug und motorisierten Individualverkehr stehen. Die „Linie“ selbst ist ein öffentliches Hochgeschwindigkeits-Transportsystem, welches, so die Projektleitung, das Auto überflüssig macht. Straßen und Bürgersteige wird es in NEOM nicht geben. Die Gebäude werden in Plätze und unmittelbar in die Natur eingebettet, die Nahversorgung soll durch integrierte Landwirtschaft organisiert und die Wasserversorgung mit modernster Hydrotechnologie gewährleistet werden.
Es ist ein in vielerlei Hinsicht faszinierendes Projekt, welches der arabische Kronprinz dort in einen heute kargen Landstrich stellen will. Und es ist durchaus interessant, sich ein wenig mit den zahlreichen Details zu beschäftigen, die darzustellen den Rahmen von TE sprengen müsste.
Eine Vision für die Zukunft der Menschheit?

Baut Kronprinz Mohammed nun die Antwort für eine Menschheit, die in nicht allzu ferner Zukunft die 10-Milliarden-Marke überschreiten wird? Auf den ersten Blick will es so scheinen – und Ibn Salman beschreibt es genau so. Es soll die Traumstadt einer grünen und friedlichen Zukunft sein. Die Antwort auf Klimaänderung und Selbstzerstörung – ohne jede Umweltverschmutzung, ohne religiöse Ressentiments, ohne ethnische und soziale Konflikte. Doch genau da liegen die Probleme, die der Araber in seinem Enthusiasmus vielleicht nicht wahrhaben will.

Aufbruch ins All
Auf dem Mond wartet die Zukunft
Beginnen wir mit der Vision einer unumschränkt in die Natur eingebetteten Stadt. Die Idee mag begeistern – doch sie übersieht die Dynamik jeglicher menschlichen Ansiedlung. Unterstellt, die eine Million glücklichen Bewohner haben alle einen Job und die perfekte Rundumversorgung. Doch sie werden Kinder bekommen. Kinder, die vielleicht auch dann in ihrer perfekten Heimat bleiben möchten, wenn sie selbst erwachsen sind und ihre Eltern noch leben. Das aber macht es unverzichtbar, dass NEOM wächst. Genau dieses Wachstum aber sieht das Konzept nicht vor. Die Gebäude sind auf Dauer gebaut – das Stadtgebiet ist durchplant bis in den letzten Winkel. Da ist für Erweiterung kein Platz. Also bliebe nur eine Möglichkeit: The Line müsste länger und länger werden. Aus 170 Kilometern werden 200, dann 250, dann 300. Denn mehr Bewohner benötigen mehr Platz. Das in sich perfekte Konzept aber setzt so oder so voraus, dass eine individuelle Lebensplanung ebenso kaum möglich sein wird wie die freie Verfügung beispielsweise über vorstellbaren Immobilienbesitz.

Damit sind wir bei dem zweiten Problem. Jedes Paradies übt magische Anziehungskraft aus auf Personen, die aus ärmlichen Verhältnissen kommen, ihrem Slum entrinnen möchten und – wie in Rio de Janeiro. Kalkutta und andernorts – doch nur neue Slums errichten, die weiter in die Natur wuchern. Zwar will der Sohn Salmans in NEOM Menschen aus allen Ländern und allen Kulturen ansiedeln – doch für eines hat das Stadtkonzept keinerlei Platz: Für Wellblechhüttenstädte und Wohngebiete für sozial Schwache. Das „mindset“ dieser Idee duldet keinen Plebs.

Die Zukunftsstadt der Elite

NEOM ist die Zukunftsstadt einer wohlhabenden Elite. Proletariat kann und darf dort nicht geduldet werden. Und das bedeutet: Diese Zukunftsstadt wird sich mit allen denkbaren Möglichkeiten gegen unkontrollierte und ungewollte Zuwanderung abschotten müssen. Der im unbegrenzten Reichtum sozialisierte Araber vom Stamme der Saud träumt von einer wunderbaren Menschheitszukunft – doch wie viele dieser Traumstädte will er in den kommenden zwanzig Jahren errichten, um, wie es sein deklariertes Ziel ist, der überbordenden Menschheit ein paradiesisches Heim zu geben?

Kann es das Projekt, kann es die dahinterstehende Vision leisten, die Slums der Millionenmetropolen nicht nur vor den Toren NEOMs zu halten, sondern sie mit vielen NEOMs überflüssig zu machen?
Die Erfahrung will diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Soll NEOM die Musterstadt der Zukunft werden, dann benötigt die Menschheit bereits zum Ende dieses Jahrzehnts rund 80.000 NEOMs – oder eine „Line“ von 13.600.000 Kilometern Länge. Das entspricht gut dem zehntausendfachen Erdumfang.

Nicht mit der saudischen Gegenwart vereinbar

Doch es ist nicht nur die Perspektive, die Fragen aufwirft. Es ist auch die Realität der Gegenwart. Das Königreich, auf dessen Territorium die Zukunftsstadt entstehen soll, ist in Sachen Menschenrecht eines der rückständigsten Länder auf diesem Planeten. Das Projekt des Kronprinzen aber ähnelt in gewisser Weise jenem gescheiterten Versuch des persischen Schahs Reza Pahlewi, eine in vielerlei Hinsicht rückständige Kultur in die Moderne der Gegenwart zu zwingen.

Meint Ibn Salman es tatsächlich ernst mit seiner Vision, so wird er die wahabitischen Imame nebst allen islamisch geprägten Traditionen seiner Heimat in die Verbannung schicken müssen. Es wird nicht genügen, Kinos zuzulassen und Frauen das Recht auf einen Führerschein zu geben, den sie in NEOM ohnehin nicht benötigen. Es wird nicht reichen, die arabische Machokultur mit ihrem archaischen Scharia-Recht in eine Gegenwart der Gleichberechtigung und des Bürgerrechts zu zwingen – werden Homosexuelle und Transgender in NEOM leben können; werden sie von dort aus ihr Land bereisen, vielleicht sogar in Riad einen CSD feiern dürfen, wenn sie von ihren islamischen Mitbürgern als biologische Satansgeburten betrachtet werden?

NEOM ist das Projekt eines göttlichen Diktators

Technisch mag das Projekt durchführbar sein. Es mag auch funktionieren und den Bewohnern die versprochene Einheit von Mensch und Natur schenken. Politisch aber wird NEOM ausschließlich unter dem Diktat seines Schöpfers existieren können. Jeder Versuch der gestaltenden Mitsprache der Bewohner, jedes kommunalpolitische Begehren, eigene Ideen einzubringen – gleich, ob sie mit mehr Wohnraum oder Umgestaltung oder Abriss und Neubau einhergehen – muss das Projekt zerstören.

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Es ist eine Idee, die in gewisser Weise an jene ersten Zeilen der Genesis erinnert: Und Gott beschloss, eine Stadt der Zukunft als Garten Eden zu bauen – und erbaute sie! Doch wenn die Bewohner sich ihrer Individualität besinnen, wenn sie vom goldenen Apfel der Verführung zum eigenen Gestalten gegessen haben, dann wird der Gott dieser Stadt sie aus diesem Garten Eden vertreiben. Denn sie würden diesen Traum vom Paradies ebenso zerstören, wie sie ihn überall andernorts zerstört haben.

NEOM ist der Traum eines Phantasten. Es mag legitim sein, ihn zu träumen und es ist legitim, ihn zu verwirklichen. Doch eine Antwort auf die Zukunftsprobleme der Menschheit ist NEOM nicht. Vielmehr gibt uns das Projekt einen tiefen Einblick in die Psyche dieses Mannes, den die Welt immer noch nicht einschätzen kann.

Der Reformer Mohammed ibn Salman

Mohammed ibn Salman ist, daran kann kein Zweifel mehr bestehen, ein Visionär. Er ist offensichtlich jemand, der die archaische Kultur seines frühmittelalterlichen Namensgebers mit aller Radikalität überwinden will. Er denkt im Rahmen seiner Sozialisierung global und entgegen der seine Sippe prägenden Kultur tolerant, emanzipiert und technikbegeistert. Doch vielleicht wäre es ihm zu raten gewesen, erst seine Untertanen mit auf den Weg in die Zukunft des 21. Jahrhunderts zu nehmen, statt in ein Meer mittelalterlicher Traditionen eine Insel zu bauen, die Äonen von den Vorstellungswelten seiner Landsleute entfernt ist. Und so offenbart NEOM dann eben auch die Hybris eines Despoten, der ähnlich jenen frühantiken Herrschern zwischen Nil und Euphrat sich zum Gott aufschwingt und den Menschen im Wollen des von ihm definierten Guten seinen Willen aufzwingt.

Dieser Gott Mohammed ibn Salman will es, also ist es. Ob es auch sein wird, muss die Zukunft zeigen. Schon andere Despoten sind mit ihren Visionen gescheitert – auch wenn diese noch so wohlmeinend gedacht waren.
Achen Aton, den wir Echnaton nennen, baute Achet Aton in die Wüste, um seinem Volk den Weg in eine glorreiche, monotheistische Zukunft zu weisen. Doch das Volk hörte statt auf ihn auf die Priester der überkommenen, rückwärtsgewandten Kulte – und die von Echnaton verwirklichte Vision wurde zu Wüstensand.

Mohammed ibn Salman wird darauf achten müssen, dass es ihm nicht ähnlich ergeht.

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