Ha‘ìl, die Oasenstadt am Südrand der mit rotem Sand bedeckten Sahara a’Nafud, war einst eine weltoffene und lebenslustige Station für Pilger und Handlungsreisende. Die dort lebenden Krieger vom Stamme der Shamar bekannten sich zwar zu Allah und dessen Erfinder Mohamed, doch das hinderte sie nicht, dem nicht immer ganz leichten Leben auf der arabischen Halbinsel seine guten Seiten abzugewinnen. Und Ha’il war auch eine prosperierende Stadt, denn sie lag auf halbem Wege zwischen Bagdad, der einstmals mächtigsten Metropole der arabischen Welt, und Mekka, dem Sehnsuchtsort aller Muslime.
Als 1921 die Sippe der zentralarabischen Sa’ud die Stadt endgültig eroberte, war es vorbei mit der Freude ihrer Bewohner. Den dem fundamental-islamischen Wahabismus anhängenden Wüstenkämpfern galten nicht nur die Shamar als Feinde – für sie war der Lebensstil der Bewohner des nordarabischen Ha’il ein Verbrechen gegen ihren Gott. Wie überall in ihrem im Namen Allahs eroberten Reich formten sie die Gesellschaft der Region um nach den Worten des Koran. Nicht nur den Bewohnern Ha’ils erging es vor 100 Jahren so, wie es in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts die Bewohner von Raqa, Mosul und anderen, von den Geistesverwandten jenes Wahab besetzten Städten erging, die den Terror des salafistischen „Islamischen Staats“ erleiden mussten.
Die Sa’ud, die innerhalb von nicht einmal zwei Jahrhunderten fast die gesamte arabische Halbinsel unter ihre Kontrolle brachten, führten eine streng an den koranischen Regeln orientierte Diktatur ein. Die Imame des die Politik bestimmenden Wahabismus setzten mit Glaubenspolizei und archaischem Denken ihre Vorstellungen durch. Heute gilt das Land zwischen Rotem Meer und Arabisch-persischem Golf, das am 23. September 1932 als „Königreich Saudi-Arabien“ gegründet worden war, weithin als „konservativ“. Tatsächlich aber ist es wie kaum ein anderes reaktionär – verfangen in einem Weltbild aus dem Frühmittelalter, in dem Frauen kein Mitspracherecht haben und „Ungläubige“ bestenfalls aus pragmatischen Gründen geduldet werden.
Ein Zeitsprung in die Vergangenheit
In der Mitte des 14. vorchristlichen Jahrhunderts machte sich im Reich der ägyptischen Pharaonen ein junger Herrscher auf, das Unmögliche zu wagen. Als vielleicht erster Politiker der Weltgeschichte unternahm er den Versuch, die in seinem Reich übliche Anbetung zahlreicher Götterfiguren durch einen Monotheismus zu ersetzen. Sein sich selbst gegebener, bis heute überlieferter Name war gleichzeitig das Programm seiner Regentschaft: Diener des Aton, oder, in der aus dem Altägyptischen abgeleiteten Form, Echnaton.
Nofretetes Gatte Echnaton war das, was man heute als „Radikalreformer“ bezeichnen würde. Privat führte er eine emanzipierte Beziehung mit seiner Frau, ließ sich für die Nachwelt mit ihr und den gemeinsamen Kindern abbilden. Schon das war unüblich in der Welt der Pharaonen, die sich als Verkörperung des Göttlichen verstanden und schon deshalb niemanden neben sich duldeten. Doch Echnaton beließ es nicht bei einer neuen Form des familiären Zusammenlebens. Er wollte seine ägyptische Gesellschaft von Grund auf umformen und alte Zöpfe radikal abschneiden. Deshalb verordnete er seinem Volk eine grundlegende Korrektur der traditionellen Götterverehrung. Statt die göttliche Aufgabenfülle unter einer Vielzahl unterschiedlichster Verkörperungen aufzuteilen, befahl er den Glauben an nur noch eine einzige göttliche Instanz: Jenen Atun, als dessen Diener und Vertreter auf Erden er sich verstand, und dessen Wirken und Inkarnation er in der Sonne als dem Quell allen Lebens erblickte.
Um den Anspruch seiner gesellschaftlichen Umwälzung für alle Ewigkeit zu manifestieren, ging er sogar daran, dem Reich eine neue Hauptstadt aus dem Nichts zu bauen. Rund 400 Kilometer nördlich der alten Hauptstadt Theben erstand auf einem Nilfelsen in der Wüste Achet-Atun – der Anfang und das Ende des Aton, Welthauptstadt für die Verehrung des einzigen Gottes und seines Dieners und Stellvertreters auf Erden.
Doch Echnaton hatte in seinem Eifer die Rechnung ohne sein Volk gemacht. Vor allem hatte die göttlich-pharaonische Hybris ihn übersehen lassen, dass eine neue Religion mit nur noch einem einzigen Gott jene in Sinnkrise und Erwerbslosigkeit schicken musste, die dem Volk als Mittler jener nun abgeschafften, traditionellen Götter dienten. Tempelschließungen und die Beschlagnahme von Gütern der alten Priesterschaft ließen Echnatons Eifer bei einer bedeutsamen Elite Ägyptens auf wenig Gegenliebe stoßen. So schuf er neben einer neuen Anbetung und einer neuen Hauptstadt auch ein weit verzweigtes Netz von menschlichen Feinden seiner Neuerungen. Als Echnaton starb, sahen diese ihre Stunde gekommen. Nach Stand der Erkenntnis knickte bereits seine Gattin unter dem Druck der Herrengarde aus der alten Priesterschaft ein: Der gemeinsame, einzige Sohn und Thronanwärter Tutanch-Atun ist der Nachwelt nur noch unter seinem der Gegenrevolution geschuldeten Namen Tutanch-Amun bekannt. Die entehrte Priesterschaft hatte sich durchgesetzt und den aus ihrer Sicht unentschuldbaren Frevel an den alten Göttern getilgt. So, wie sie nun auch ansetzte, mit Hammer und Meißel jegliche Erinnerung an den Gotteslästerer aus den Annalen der Zeit Echnatons herauszuschlagen. Achet-Atun, eine Residenzstadt, die unter erheblichen Entbehrungen der Ägypter im Eiltempo auf Sand und Fels gebaut war, wurde aufgegeben und zerfiel.
Rückkehr in die Gegenwart
An der Spitze des wahabitischen Reichs auf der arabischen Insel steht als absoluter Herrscher der greise Salman ibn Abd al Aziz. Geboren am 31. Dezember 1935 gelten die Tage des heute 82 Jahre alten Mannes als gezählt. Mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten, weshalb er bereits am 23. Januar 2015 seinen Sohn Muhamad ibn Salman zum Verteidigungsminister und Chef der königlichen Garde ernannt hatte. Im Juni 2017 wurde Muhamad offiziell zum Thronfolger des schwerkranken Regenten bestimmt – seitdem ist es faktisch der mit heute 32 Jahren junge Mann, der die Geschicke der islamischen Glaubensdiktatur leitet.
Dieser Muhamad hat seitdem Bemerkenswertes in die Wege geleitet. Sieht man von seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Schiiten im Südosten der arabischen Halbinsel einmal ab, zeigen sich erstaunliche Handlungen und Ansätze.
Eine der ersten Handlungen des frisch ernannten Thronfolgers war es, am 4. November 2017 elf Prinzen, vier Minister und zahlreiche Staatsdiener festsetzen und ihr Vermögen beschlagnahmen zu lassen. Muhamads einen Tag zuvor gegründete „Anti-Korruptionseinheit“ machte es möglich.
Dann ließ er verkünden, dass das strenge Autofahrverbot für Frauen im Königreich aufgehoben wird. Einige mutige Damen hatten immer wieder mit selbstgedrehten Videos ihre Ausflüge dokumentiert und damit unangenehme Strafen durch die geifernde Scharia-Polizei beschworen.
Jüngst nun verkündete Muhamad in einem Interview, das mit dem islamischen Schleiergebot sei so radikal auch nicht zu verstehen. Prompt wagten sich die ersten hübschen Frauengesichter an das Licht der Sonne – und manche bislang total versteckte Dame soll im stillen Kämmerlein darüber sinnieren, ob ihr unverhülltes Angesicht die nun anstehende Schönheitskonkurrenz bestehen könne.
Undenkbar bislang auch, dass ein Herrscher über die Heiligen Stätten des Islam das Existenzrecht Israels anerkennt – wie sollen dass die Eiferer des frühmittelalterlichen Mohameds ihren Gefolgsleuten erklären? Prompt startete dann auch die Hamas in Gaza freitags ihre Probeläufe für den „Grünen Marsch“ nach Jerusalem. Und doch mag für den künftigen Herrscher Arabiens auch hier die klassische Formel des „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ gelten. Israel wie die Sa’ud erblicken im Iran ihren gefährlichsten Gegner. Das Schicksal einiger „Ägypter“ in Gaza, die nichts als Unruhe stiften und mit den Osmanen kooperieren, wird Muhamad weder um den Schlaf noch von seinen Zielen abbringen.
Arabiens Echnaton oder fähiger Machtpolitiker?
Für einen Europäer mag das alles befremdlich erscheinen. Den Meisterinnen der Emanzipation gehen die zaghaften Befreiungsversuche weiblicher Selbstbestimmung nicht einmal ansatzweise weit genug. Was allerdings unverständlich ist, agieren doch viele von ihnen in Europa genau im Sinne des fundamentalistischen Islam, unterwerfen sich angeblich verletzten religiösen Gefühlen und lassen es zu, dass ein archaisches Menschenbild mitten in Europa Frauen unter Schleier und Kopftuch zwingt.
Gern wird eingeworfen, dass es ökonomische Zwänge wären, die zumindest das Autofahren nicht länger verbieten lassen. Und verschleiert lenkt es sich eben nicht so sicher – und bei Verkehrsübertretungen wird die Strafverfolgung dadurch selbstverständlich auch erschwert.
Selbst die Kinopläne gehen vielen Europäern nicht weit genug. Ob dann nicht nur linientreue Filme gezeigt würden, wird kritisiert. Nun, es wird sicherlich so sein, dass „Fifty Shades Of Grey“ und ähnliche Filmwerke bis auf Weiteres ihren Weg noch nicht bis auf die sa’udische Kinowand finden werden.
Selbstverständlich sind diese gern als „Lockerungen“ bezeichneten Änderungen aus europäischer Sicht jene berühmten Tropfen auf den heißen Wüstenstein. Gleichzeitig aber offenbart die Kritik dann eben auch Europas Unfähigkeit, sich in andere Situationen als die eigene zu denken.
Selbstverständlich mögen manche der Neuerungen ökonomischen Zwängen folgen – allerdings sollte uns die Geschichte gelehrt haben, dass weder ökonomische noch intellektuelle Vernunft auch nur die geringste Chance haben, gegen aus angeblich religiösen Geboten geborene Dummheit und Borniertheit anzukommen. Und insofern ist das, was der sa‘udische Thronfolger derzeit wagt, durchaus mit jenen Taten Echnatons zu vergleichen.
Es ist noch nicht lange her, da ereiferte sich die Führung der islamisch-wahabitischen Priesterschaft in einem unfassbaren Ausmaß an schlicht nichts anderem als grenzenloser Dummheit darüber, dass Frauen am Steuer entweder ihr Gehirn beschädigen würden – oder dieses überhaupt nicht geeignet sei, ein Kraftfahrzeug zu lenken. Die behutsame Lockerung der Vollverschleierung, nun von Muhamad angestoßen, gilt jener bornierten Einfalt des wahabitischen Islam als Sakrileg, welches fast schon als Gotteslästerung einer Todsünde gleich kommt.
Für wahabitische Verhältnisse ist der Thronfolger jetzt schon über die Grenzen des Zumutbaren hinausgegangen. Es deutet sich an, dass er es dabei nicht bewenden lassen wird. Offenbar hat er sich das Ziel gesetzt, sein Land umfassend zu modernisieren – und es dabei auch vom Öl unabhängig zu machen. So plant er ein umfassendes Programm zur Energieversorgung über erneuerbare Rohstoffe – etwas, das zwar nicht im Widerspruch zum Islam steht, dennoch erstaunt in einem Land, das gefühlt in billiger Energie aus fossilen Trägern zu schwimmen scheint.
Wenn Muhamad ibn Salman anders als Echnaton bei seiner Modernisierung den revolutionären Übereifer bändigt, kann es ihm und der Sache nur nützlich sein. Denn seine Vorstellungen in die Köpfe der alten, senilen und in einem Welt- und Menschenbild des siebten Jahrhunderts festhängenden Priestergreise zu bringen – das wird ihm nicht gelingen. Diese kann er nur im Zaum halten, indem er weder übertreibt, noch ihnen den Raum zum Widerstand gibt. Und wenn er seine Gesellschaft für ein Islambild öffnet, welches bislang regelmäßig am Wort des Propheten gescheitert ist. Doch jene Anti-Korruptionsaktion, mit welcher der mit großen machtpolitischen Instinkt ausgestattete Mann bereits einige wichtige Köpfe entfernt hat, mag jenen in den Tempeln der Reaktion als Mahnung dienen.
Chance und Risiko
Selbstverständlich wird Muhamad den Islam seines Namensvorgängers nicht abschaffen. Und ebenso selbstverständlich wird das Arabien der Sa’ud nicht über Nacht eine Demokratie mit Gleichberechtigung, Glaubens- und Meinungsfreiheit und politischer Partizipation werden. Denn versuchte Muhamad dieses, so würde wie in den anderen arabischen Staaten, die ohne Konzept einen arabischen Frühling wagten, der Islam umgehend die Macht ergreifen und sein zukunftsfeindliches Werk fortsetzen.
Selbstverständlich auch mögen Mohameds Neuerungen nicht zwangsläufig einem unbändigen Revolutionswillen, sondern tatsächlich ökonomischen Überlegungen folgen. Aber auch das ist nur mit der arroganten Brille des Außenstehenden zu kritisieren. Das Beispiel Echnatons hat gezeigt, wie Herrscher enden, die ein tradiertes und von zahllosen Nutznießern getragenes System mit einem Akt revolutionärer Brachialgewalt verändern wollen. Insofern gilt es, weiter auf das Land zu schauen, auf dessen grünem Banner das Bekenntnis zu Allah und dessen Erfinder Mohamed als ewige Botschaft steht.
Das gilt vor allem auch deshalb, weil der künftige Herrscher einen Klotz am Bein hat, den er sich selbst als Verteidigungsminister schuf.
Im Yemen, was auf Arabisch einfach „Süden“ bedeutet, kämpfen seine hochgerüsteten Truppen seit geraumer Zeit mit kaum mehr als mäßigem Erfolg gegen den schiitischen Konkurrenten. Schon immer trachteten die Söhne der Sa’ud danach, diesen Süden für den sunnitischen Islam zu erkämpfen.
Mit den dort, im gefühlten Garten Eden der arabischen Halbinsel lebenden, schiitischen Arabern besteht eine über Generationen wirkende Fehde, die dadurch, dass die Aufständischen umfassende Unterstützung vom persischen Erbfeind der Araber erhalten, ständig befeuert wird. Muhamad ibn Salman gerät in die Gefahr, dort einen langwierigen Vernichtungsfeldzug zu schaffen, der seiner internationalen Reputation schadet und ihn, so er ihn nicht bald löst, eines Tages in den offenen Krieg mit dem persischen Nachbarn am Golf zwingen könnte.
Insofern gilt: Die aus europäischer Sicht minimalen, aus Sicht der wahabitischen Priesterschaft jedoch ungeheuren Neuerungen, die der Sohn und designierte Nachfolger des kranken Salman angestoßen hat, sind noch lange nicht für die Ewigkeit. Es wird von Muhamads Geschick und Selbstbeherrschung abhängen, ob er den von ihm eingeschlagenen Weg, das geistig im archaischen Mittelalter verharrende Reich zu modernisieren, erfolgreich fortsetzen kann. Oder ob es ihm und seinen Ideen so ergehen wird wie jenem Echnaton, der so plötzlich verschwand, wie er im Mittelpunkt der damaligen Welt stand – und bei dem bis heute nicht geklärt ist, ob er eines natürlichen Todes starb oder ob er einem Attentat jener zum Opfer fiel, deren tradiertes Weltbild er brachial zu ersetzen suchte.