Tichys Einblick
Skeptisch optimistisch

Mit dem Wahlrecht in den Rätestaat – Bürgernähe ist bedeutungslos

Der Ansatz des Grundgesetzes von 1949 war weder dumm noch falsch. Er war nur nicht bis zu Ende gedacht, weil man sich damals noch nicht vorstellen wollte, dass das Hauptinteresse der Parteien künftig nicht mehr im Gemeinwohl, sondern im individuellen Karrieredenken liegen wird.

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Reden wir nicht drum herum: Eine Wahlrechtsreform, an der sich gegenwärtig die im Bundestag vertretenen Parteien die Zähne ausbeißen, werden wir nicht erleben. Das nicht nur, weil von einer „Reform“ allein schon deshalb nicht die Rede sein kann, weil eine solche in ihrem eigentlichen Wortsinn bedeuten würde, den 1949 von den Verfassern des Grundgesetzes gewollten Zustand wieder zu reaktivieren. Sondern auch und vor allem deshalb, weil keine einzige der im Bundestag vertretenen Parteien ein Interesse daran hat, eine Wahlrechtsänderung – wie das Vorhaben korrekt zu bezeichnen wäre – im Sinne des Souveräns, der laut Grundgesetz immer noch das deutsche Staatsvolk ist, vorzunehmen.

Warum das so ist? Blenden wir die Utopien jener aus, für die Nationalstaat und Parlament ohnehin nur noch hinderliche Restanten einer abzuräumenden Welt sind, findet sich der Fehler bereits im Grundsätzlichen – darin, dass auf Druck der Westalliierten 1949 ein parlamentarisches System geschaffen wurde, welches de facto zwei nicht kompatible Systeme in eines gießen sollte. 

Seinerzeit lag dem zu schaffenden Wahlrecht die Idee zugrunde, ein System zu schaffen, welches auf der einen Seite die Unabhängigkeit direkt gewählter Bürgervertreter zwar gewährleisten, gleichzeitig jedoch einhegen, andererseits die Vorstellung einer imaginären Gerechtigkeit umgesetzt werden sollte, wonach der Bürgerwille entsprechend deren Abstimmungsverhalten über Parteien als Lobbygruppen proportional korrekt zu vertreten sei.

Zwei Wahlsysteme in einem

Einfacher formuliert: Es sollte einerseits die klassische Vorstellung gelten, wonach die Bürger in den Wahlkreisen ihre persönlichen Vertreter in das Bundesparlament entsenden. Dieses funktioniert über das klassische Mehrheitswahlrecht. The Winner takes it all: In den Bundestag zieht ein, wer in einem Wahlkreis die relativ meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. So war es beispielsweise noch in der ersten verfassten, deutschen Demokratie, die heute als „Kaiserreich“ abqualifiziert wird. So ist es heute noch im Vereinigten Königreich – der Urdemokratie der Alten Welt.

Da nun aber ein solches Wahlrecht dazu führen kann, dass die Bürgervertreter, die sich zu einer bestimmten Partei bekennen, deutlich mehr Sitze bekommen, als ihnen nach der Anzahl der insgesamt hinter dieser Partei stehenden Bürger zustünde, sollte einerseits die Mangel behoben und gleichzeitig eine Dominanz dieser direkt gewählten Bürgervertreter verhindert werden.

Das wiederum war die Grundlage des zweiten Teils des Wahlrechts: Das Parlament sollte durch Bürgervertreter besetzt werden, die entsprechend der auf ihre Partei insgesamt entfallenden Zustimmung das Volk vertreten. Dieses Modell nennt sich Verhältniswahlrecht und sorgt dafür, dass auch Parteien, denen dieses aufgrund mangelnder Zustimmung zu ihren Repräsentanten in den einzelnen Wahlkreisen nicht möglich ist, über eben diese Wahlkreise die entsprechende Anzahl von Parlamentariern in die Legislative zu entsenden.

Mathematisch simpel dachte man sich 1949, die Unvereinbarkeit beider Systeme dadurch in den Griff bekommen zu können, indem die willkürlich festgesetzte Gesamtzahl der Parlamentarier geteilt würde. Die eine Hälfte der Sitze sollte über Direktkandidaten besetzt werden, die andere Hälfte war jenen Vertretern zugedacht, die zwar keinen Wahlkreis erobern konnten, aber im Sinne des Proporzes aller abgegebenen Stimmen zu Bürgervertretern werden sollten.

Ein System für Volksparteien

Eine Zeitlang schien dieses System tatsächlich zu funktionieren. Damals konkurrierten zwei sogenannte Volksparteien – die Union und die Sozialdemokratie – maßgeblich um die Direktmandate. Die meisten davon gingen an die Unionsparteien, aber auch der SPD gelang es nicht nur in den großstädtischen Ballungsgebieten, zahlreiche Abgeordnete als direkt gewählte Bürgervertreter zu entsenden. Damit deckten die direkt vergebenen Mandate einen großen Teil der über das Verhältniswahlrecht zu beanspruchenden Sitze ab. So konnte die zweite Hälfte des Parlaments durch Vertreter jener Kleinparteien – lange Zeit ausschließlich die FDP – besetzt werden, die in den Wahlkreisen chancenlos waren. Was dann noch übrig blieb, ging wiederum an die beiden Großen, die dadurch ihre proportionalen Ansprüche erfüllt sahen.

Das (Un)Wesen der Ausgleichsmandate

Zwar gab es auch damals schon gelegentlich die Situation, dass die Union über Direktmandate zu viele Parlamentssitze, genannt Überhangmandate, erhielt – doch das ließ sich seinerzeit über ein paar wenige, sogenannte Ausgleichmandate abfangen. Die erfolgloseren Parteien erhielten so zwar mehr Sitze, als ihnen auf Grundlage der vorgesehenen Gesamtzahl der Parlamentsmandate zustand, doch im Sinne eines „gerechten“ Proporzes galt dieses Modell als zulässig und akzeptabel.

Der diesem System innewohnende Makel offenbarte sich, als erst mit den Grünen und nach dem Beitritt der Länder der ehemaligen DDR nicht mehr nur drei, sondern nun fünf, und nach dem Erstarken der AfD sogar sechs Parteien in das Bundesparlament einzogen – und darüber angesichts einer immer bürgerferneren Politik die Union schrumpfte und die SPD sich zum Lager der Kleinparteien gesellte. Konkret: Die Union erhielt über die Direktwahlkreise unproportional viele Sitze, deren Überhang nun zu fast schon akrobatischen Übungen des Ausgleichs führte.

Verschärft wurde die Situation dadurch, dass nicht nur ein bundeseinheitlicher Ausgleich zu schaffen war, sondern dieser sich im Sinne des föderalistischen Aufbaus der Republik auch noch an den jeweiligen Länderergebnissen orientierte. Letzteres wiederum war nötig, da die Parteien nicht mit Bundeslisten antreten, sondern mit Landeslisten. Es galt folglich: Die Anzahl der Direktmandate, die der stärksten Partei zufielen, bestimmte, wie viele Mandate insgesamt zu vergeben sind – die Ergebnisse in den jeweiligen Bundesländern sorgten dafür, dass auch Parteien, die bereits „über den Durst“ vertreten waren, zusätzlich Mandate beanspruchen konnten. So geschah es nicht selten, dass das von der Union zu beanspruchende Kontingent bereits ausgefüllt war und trotzdem im Sinne der Wahlgerechtigkeit Unionsbewerber der Landeslisten beispielsweise in den Stadtstaaten auch dann noch zusätzlich in das Bundesparlament einziehen mussten, selbst wenn sie in ihrem Bundesland nicht ein einziges Direktmandat erobern konnten. Und so blähte sich das Bundesparlament von Wahl zu Wahl weiter auf, um das doppelte Verhältnis der Parteien auf Bundesebene neben dem internen Verhältnis der Bundesländer „gerecht“ auszugleichen – oder besser: Durch Aufblähung des Parlaments zu heilen.

Eine Wahlrechtsänderung gilt als unumgänglich

Ein solches, aufgeblähtes Parlament macht, darin sind sich so ziemlich alle Parteien einig, keinen Sinn. Also gilt eine Wahlrechtsänderung als unumgänglich. Doch wie diese organisieren in einem System, in dem zwei nicht miteinander kompatible Modelle gleichzeitig berücksichtigt werden sollen? Denn wie auch immer man es dreht und wendet: Am Ende werden Ansprüche auf der Strecke bleiben. Und da die Bundestagsmandate zunehmend mehr von der Bürgervertretung zum individuellen Karriereaufbau verkamen, sind nun Menschen aufgefordert, sich selbst abzuschaffen, für die eben diese Abschaffung einen kaum zu heilenden Karriereknick bedeuten muss. Solch ein Altruismus im Sinne eines funktionsfähigen Systems jedoch widerspricht der menschlichen Natur – womit wir beim Kernproblem sind. 

Doch als wäre die Selbstabschaffung des einen oder anderen, auf wackeligen Zustimmungsbeinen stehenden Parlamentariers nicht schon Hinderungsgrund genug: Auch hat der stillschweigende Umbau des deutschen Parlamentarismus von einem Modell der Bürgervertretung zu einem Modell der Parteienvertretung einen weiteren Hinderungsgrund aufgebaut. Denn vor allem den Parteiführungen, aber auch den zahllosen Parlamentssitzbesetzern, die ausschließlich über das Proporzsystem in den Genuss einer nicht unbedeutenden Subventionierung namens „Diät“ kommen, ist nicht daran gelegen, ihren Einfluss zugunsten von mehr Bürgervertretung zu verringern.

Bürgervertretung ist vernachlässigbar

Die Folge: Nicht wenige der gewählten Gesetzgeber liebäugeln mit der Idee, die vom Grundgesetz vorgesehene Gleichrangigkeit von direkt gewählten und über die Listen eingezogenen Parlamentariern auszuhebeln – allen voran der Bundestagspräsident und Unions-Altbestand Wolfgang Schäuble. Ihre Idee: Die Anzahl der Direktwahlkreise wird derart verringert, dass die über das Verhältniswahlrecht zu beanspruchenden Sitze die gewünschte Gesamtzahl der Parlamentarier nicht mehr überschreitet.

Das mag auf den ersten Blick sogar vernünftig klingen – wäre aber ein radikaler Bruch mit dem ursprünglich vorgesehenen Anspruch, unmittelbar gewählte Bürgervertreter und Parteienvertreter gleichrangig zu behandeln. Anders formuliert: Die ohnehin in der Repräsentativen Demokratie nur äußerst geringe Einflussmöglichkeit des Souveräns auf das parlamentarische Geschehen würde weiter verringert. Der Souverän im Sinne des GG gäbe folglich noch mehr Kompetenzen und damit Macht an Personen ab, deren Wohl und Wehe ausschließlich von den Parteien, nicht aber von den Bürgern abhängt. Der ohnehin schon längst vollzogene Schritt weg von der Bürgerdemokratie zur Kaderdemokratie der Parteien würde deutlich beschleunigt. Das ist zwar durchaus im Sinne der Parteiführungen, die so maßgeblich über ihren Einfluss die Besetzung des Bundestags bestimmen können – es kann aber nicht im Sinne des Souveräns sein, der dadurch noch weiter zum bloßen Stimmvieh ohne Einflussmöglichkeit degradiert wird.

Konsequenzen der Verfassungsüberwindung

Auch sind bei einer solchen, ausschließlich über Verfassungsänderung im Sinne eines Verfassungsbruchs zu organisierenden Neugestaltung des Wahlrechts die absehbaren Konsequenzen zu berücksichtigen. 

So wäre damit der finalen Abschaffung des Direktwahlkreisrechts der Weg gebahnt. Denn sollte, was nicht auszuschließen ist, dennoch aufgrund von Parteienvielfalt und Parteienverzwergung der Anteil der immer noch notwendigen Ausgleichsmandate das Parlament aus allen Nähten platzen lassen, folgte schnell auf eine Wahlkreisverringerung die nächste. Bis dann irgendwann festgestellt werden kann, dass die paar wenigen Abgeordneten, die noch direkt vom Souverän entsandt werden, überflüssig sind, weil sie ohnehin keinen Bürgerwillen mehr durchsetzen können. Daher gilt: Wer zu Lasten der Direktmandate Hand legt an das Modell der Gleichwertigkeit von Direkt- und Listenmandaten, der sollte von vornherein so ehrlich sein, die sofortige Abschaffung des Direktwahlkreismodells zu beschließen. Der hier vorgesehene Tod auf Raten dient lediglich dem Zweck, genau dieses Ziel zu verschleiern. Solches Vorgehen ist zwar in der Politik nicht unüblich – doch es wäre nur ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Kaderstrukturen der Parteien längst von jeglichem Bürgerinteresse gelöst haben.

Wer also daran geht, die Direktwahlkreise zu Lasten der Listenmandate im Zweifel bis zu deren Abschaffung zu verringern, der bewegt sich damit nicht mehr auf dem Boden der noch geltenden Verfassung. Was allerdings durchaus zulässig ist dann, wenn in einem parlamentarischen Verfassungsänderungsprozess diese Verfassungswidrigkeit selbst Verfassungsinhalt wird. Will sagen: Beschließen zwei Drittel der Parlamentarier, das Grundgesetz dahingehend zu ändern, dass es künftig nur noch wenige oder auch gar keine Direktmandate mehr gibt, so wäre dieses parlamentarisch zulässig. Ob dann allerdings noch die Floskel vom Staatbürger als Souverän Sinn macht, steht auf einem anderen Blatt. Die Wirkmächtigkeit dieser Floskel darf allerdings auch heute schon in Frage gestellt werden, da der Einfluss der Parteien längst übermächtig geworden ist.

Der steigende Einfluss der NGO-Räte

Eine weitere Konsequenz der Verringerung oder Abschaffung der Direktmandate wäre zwangsläufig das weitere Erstarken außerparlamentarischer Lobbygruppen, die als sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO)  einer imaginären „Zivilgesellschaft“ als demokratisch nicht legitimierte Interessenvertretungen ihren Einfluss ausbauen werden. Bereits heute ist das NGO-Unwesen maßgeblich eben dadurch zu erklären, dass die unmittelbare, politische Einflussnahme des Bürgers über die Parlamente scheinbar oder auch tatsächlich infolge des Mischsystems der Inkompatibilitäten außerparlamentarische Gremien geschaffen hat. „Bürgerbeiräte“, die Teilnahme von NGO-Lobbyvereinen an vorgeblichen Kompromissfindungen der Gesetzgebung für alles und jedes – all das wäre unnötig in einem funktionsfähigen System der unmittelbaren Bürgerrepräsentation über die von ihm gewählten Abgeordneten. 

Die 1949 bereits eingeleitete Umwandlung eines Bürgerstaates in einen Parteienstaat erzwingt fast schon notwendig das Entstehen außerparlamentarischer Lobbyvereine – denn wer sich vom gewählten Repräsentanten nicht mehr repräsentiert fühlt, der sucht nach anderen Wegen, seine Vorstellungen umzusetzen.

Das nun bedeutet: Wird der ohnehin schon geringe Einfluss des direkten Mandats noch weiter verringert, ist der Weg in den Rätestaat nicht mehr aufzuhalten. Wir hätten dann nur noch eine Art Scheinparlament, über deren Zusammensetzung und damit Handeln maßgeblich die führenden Parteikader bestimmen – und ein Konglomerat außerparlamentarischer Räte, die sich als Bürgervertreter gerieren und damit ihren Einfluss auf die Parteien ausüben. 

Mit dem vom Grundgesetz gewollten System eines repräsentativen Parlamentarismus hat das alles nichts mehr zu tun.

Gibt es verfassungskonforme Lösungen?

Gibt es dennoch eine Chance, den Grundgesetzwillen zu retten und dennoch die Überblähung des Bundestages zu verhindern? Sind wir ehrlich, lautet die Antwort nein.

Das gegenwärtig präferierte Modell einer weiteren Verringerung des Bürgereinflusses durch Verringerung der Wahlkreise läuft auf die ohnehin schon ausgeprägte Parteien-Oligarchie hinaus. Scheitern kann ein solches Modell nur noch an jener Minderheit, die ihre persönliche Karriereplanung über eben diese Wahlkreise organisieren kann. Was wiederum bedeutet: Nur jene zumeist Unionspolitiker, die über „sichere“ Wahlkreise in den Bundestag einziehen, werden sich diesem Ziel widersetzen. Befürworter hingegen sind all jene, die ihr parlamentarische Wohl und Wehe ausschließlich über die Listenwahl organisieren können. Das nun ist bereits heute eine deutliche Mehrheit, die sich nicht nur in den Kleinparteien von FDP über Kommunisten, Sozialdemokraten und Grünen bis zur AfD findet, sondern längst auch in der CDU eine breite Lobby hat.

Insofern liegt die Annahme nahe, dass es entweder einen windelweichen Scheinkompromiss geben wird, der das Ende der Direktmandate einläutet – oder aber alles noch so bleibt, wie es ist, mit der Folge, künftig noch mehr Abgeordnete in einem ohnehin übermäßig aufgeblähten Parlament sitzen zu haben.

Kann es überhaupt eine Lösung geben, die dem gegenwärtigen Willen des Grundgesetzes entspricht, und das die dort implementierte Ausgewogenheit zwischen Bürgervertretern und Parteienvertretern gewährleistet?

Im ersten Moment ist man geneigt, auch diese Frage mit einen klaren nein zu beantworten. Eine Begründung hierfür wurde bereits aufgezeigt: Jedwede Verringerung des Anteils der Direktmandate bis hin zu deren Abschaffung steht im eklatanten Widerspruch zur noch geltenden Verfassung.

Doch auch die Alternative, die zumindest die Bürgernähe im Sinne einer Reform wiederherstellen könnte, ist nicht nur chancenlos – sie muss zwangsläufig am Machtwillen der Parteikader scheitern. Denn sie lautet: Abschaffung des Verhältniswahlrechts, stattdessen die Anzahl der Wahlkreise verdoppeln, sodass mehr Bürgervertreter die Chance bekämen, als solche in den Bundestag einzuziehen.

 Denkbar wären bei einem qualifizierten Mehrheitswahlrecht auch andere Wege:

Doch machen wir uns nichts vor. Beide Varianten sind absolut chancenlos. Denn sie versperren nicht nur jenen den Weg in die Parlamente, die in der direkten Konkurrenz gegenüber dem Wähler chancenlos sind – sie verringerten auch den Einfluss der Parteikader gegen Null, soweit diese nicht regional angebunden sind. Bundes- und Landesvorstände wären hier schnell überflüssig – zumindest, was die Besetzung künftiger Parlamentsmandate betrifft.

Ein mögliches Modell für die Zukunft

Auch wenn folglich Sinnvolles nicht geschehen wird, so möchte ich dennoch einen dritten Weg vorstellen, der das Problem tatsächlich lösen könnte – der allerdings in der auf das Schaffen eines Rätestaates gerichteten Entwicklung vorerst ebenfalls chancenlos ist. Vielleicht aber irgendwann, wenn das gegenwärtige System mit Wumms an die Wand gefahren und die Phase des Rätestaates überwunden ist, mag sich jemand an das nun vorgestellte Modell erinnern.

Wirklich neu im eigentlichen Sinne ist es nicht – und es orientiert sich daran, den Willen des Grundgesetzes zu respektieren und die dort implementierten Fehler zu heilen. Um dieses zu tun, empfiehlt sich im Gegensatz zum heutigen Parlamentsmodell ein Zwei-Kammer-System. 

Die Erste Kammer – mit nur der Hälfte der heute vorgesehenen Parlamentssitze – wird ausschließlich über Direktmandate besetzt. Hier griffe uneingeschränkt das Mehrheitswahlrecht und könnte so die verloren gegangene Nähe zur Bürgerrepräsentation reaktivieren. 

Die Zweite Kammer – ebenfalls mit der Hälfte der heute vorgesehenen Parlamentssitze versehen – hingegen wird ausschließlich über das Verhältniswahlrecht und Parteilisten besetzt. Hier also könnten die Parteienvertreter zu ihrem Recht kommen, ohne dass sie durch eine nicht vorgesehene, künstlich aufgeblähte Überrepräsentation die kommunalen Bürgerinteressen quasi wegstimmen können.

Im Gesetzgebungsprozess wären beide Kammern gleichberechtigt zu behandeln – bedeutet: Beide Kammern müssen Gesetzgebungsvorhaben und Haushaltsvorlagen mehrheitlich ihre Zustimmung erteilen. Damit wäre jenes Korrektiv, welches das Grundgesetz 1949 durch das Splitting in Direkt- und Listenmandate vorsah, uneingeschränkt gewährleistet. Auch könnte das Zwei-Kammern-Modell dafür sorgen, dass kommunale und regionale Interessen über die Erste Kammer wieder deutlich mehr an Gewicht gewönnen. Das wiederum kann und sollte dazu führen, dass die vom Bürger zu Recht gefühlte Ohnmacht gegenüber einem abgehobenen Parteienkadersystem überwunden werden kann. Zumindest dieser Teil des Doppel-Parlaments rückte folglich wieder näher an den eigentlichen Souverän heran.

Die Angst der Kader vor dem Bürger

Das allerdings auch wird der Grund sein, weshalb eines solches Zwei-Kammern-Modell vorerst chancenlos bleiben muss. Denn vor nichts haben die Parteikader mehr Angst als vor dem Bürger. Schließlich haben sie nicht umsonst in den vergangenen 70 Jahren aus dem Bürgerstaat in einen Parteienstaat gemacht, den sie gegenwärtig zum Rätestaat umwandeln. Legen wir diesen Vorschlag also erst einmal in die Schublade und warten wir ab.

Die Unfähigkeit des gegenwärtigen Systems, fundamentale Fragen im Sinne des Souveräns zu lösen, wird zunehmend unübersehbar. Die neomarxistischen Utopien, die sich gegenwärtig durchsetzen, sind, das zeigt die geschichtliche Erfahrung, auch nicht von Dauer. Und vielleicht begreifen künftige Generationen dann irgendwann, dass weder absolute Basisdemokratie noch absolute Oligarchenherrschaft das optimale Regierungssystem garantieren können. 

Der Ansatz des Grundgesetzes von 1949 war ja angesichts der geschichtlichen Erfahrungen weder dumm noch falsch. Er war nur nicht bis zu Ende gedacht, weil man sich damals noch nicht vorstellen wollte, dass das Hauptinteresse der Parteien künftig nicht mehr im Gemeinwohl, sondern im individuellen Karrieredenken liegen wird.

Dabei hätten sie es ahnen können: Macht geht immer dorthin, wo der Wille zur Macht vorhanden ist. Zwischen 1871 und 1918 fand sich dieser Machtwille zunehmend beim Reichspräsidenten mit dem Namen Deutscher Kaiser, dem sich ein gewähltes Parlament nichts mehr entgegen zu setzen traute. Zwischen 1918 und 1945 war dieser Machtwille zunehmend bei einer kriminellen Truppe kollektivistischer Chauvinisten konzentriert und führte in die Weltkatastrophe. Nach 1949 konzentrierte sich der Machtwille in den Parteiführungen und deren Kadern nebst angeschlossenen NGO-Ablegern. 

Der Dumme war und ist in allen drei Fällen der Bürger. Hoffen wir daher, dass die nächste Katastrophe etwas weniger vernichtend ausfällt, als es bei den beiden vorangegangenen der Fall gewesen ist, und die Demokratie als Regierungssystem des Bürgerwillens doch noch eine Chance bekommt.

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