Pharisäer waren für Jesus von Nazareth jene Kleriker, die Wasser predigten, aber Wein tranken. Die Verballhornung Phérushjm, abgeleitet von der althebräischen Bezeichnung jener persischen Schriftgelehrten, die im sechsten vorchristlichen Jahrhundert im Zuge der Umsiedlung aus dem Zweistromland an die Küste des Mittelmeeres kamen, stand für jene Glaubensgelehrten, die nicht nur das Urjudentum des geschriebenen Tanach lebten, sondern auch mündliche Überlieferungen als Interpretation des Glaubens gelten ließen. Gleichzeitig standen sie in der zeitaktuellen Tradition der hasmonäischen Priesterkaste, die von 167 bis 63 vC zwischen Mittelmeer und Transjordanien einen jüdischen Gottesstaat eingerichtet hatte, und bestimmten die jüdische Glaubenswelt bis hinein in die Spätantike.
Die christlichen Autoren der frühen Jahre hatten recht konkreten Anlass, ihren Bruch mit dem Judentum durch Diffamierung jüdischer Vordenker zu untermauern. So entstand von den Pharisäern das Bild selbstgefälliger, arroganter Autoritäten, die sich selbst nicht an jene Vorgaben hielten, die sie dem Volk aufzuerlegen gedachten. Charakteristisch dafür ist jenes vorgebliche Jesuswort aus Matthäus 5: „Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“
Merkel nun durfte die Begrüßungsrede halten. Dabei unterstrich sie ihre Auffassung, dass „wir alle von der globalen Konnektivität profitieren“, denn das World Wide Web überschreite Grenzen und brächte Menschen zusammen.
Abgesehen davon, dass Merkel mit ihrem beliebten „wir alle“ wieder einmal ihren Collectivius majestatis zur Anwendung gebracht hat – bedeutet: Ich, die Merkel, definiere die Menschheit als Kollektiv nach meinem Bilde und definiere dessen Wohl und Wehe – ist allein schon die Einbringung der „Konnektivität“ als klassisch-merkelsche Wortschraube bemerkenswert. Denn „Konnektivität“ kann wahlweise bedeuten:
- Die Verbindung von Nervenzellen des Gehirns zwecks geistiger Bewältigung allfälliger Anforderungen des Alltags
- Die Verbindung von elektronischen Geräten als Schnittstelle zum Datenaustausch
- Die minimale Anzahl von Netzwerkknoten, welche zu beseitigen ist, um komplexe Netzwerke aufzulösen – ein Problem, mit dem sich aktuell die Peking-gesteuerte Polizei in Hongkong in besonderem Maße beschäftigt.
Unterstellen wir einmal, dass Merkel in ihrer allumfassenden Kenntnis über das einst von ihr als „Neuland“ definierte „World Wild Web“ (wie es manche auch verstehen), gepaart mit ihrem global ausgerichteten Kollektivismus auch hier ein sich alle Türen offen lassendes Gemenge aller drei Interpretationsvarianten meinte. Denn mit der ihr eigenen Eleganz der Sprache schuf sie es aus dem Handgelenk, fast alle historisch-netzwerkaffin bedeutsamen Jubiläen des Jahrs 2019 miteinander in Beziehung zu stellen: Die Erfindung des Internets vor 50 Jahren, das Verlangen der Menschen der DDR nach einen Grundrecht auf Entkommen aus dem Netz der Staatsaufsicht sowie wiederum die Erfindung des „World Wide Web“ vor jeweils 30 Jahren.
„Freiheit“ – und hier vor allem jene im Internet – sei „keineswegs selbstverständlich“. Wie Recht sie hat! Schließlich war es ihre Bundesregierung, die mit einem Netzwerkdurchsetzungsgesetz die Blaupause lieferte für zahlreiche, vor allem autoritäre Staaten, welche die Abtretung staatlicher Hoheitsaufgaben an private Netzwerkbetreiber bei gleichzeitiger Androhung von existenzvernichtenden Strafen bei Nichtdurchsetzung des staatlichen Zensurwillen durchzusetzen die Aufgabe hat.
Wieder einmal zeigt die Frau aus der Uckermark mit einem Finger auf vorgebliche Sünder, während die verbliebenen auf sie selbst weisen. Da darf sich der geneigte Zuhörer nun auch fragen, wie es zu verstehen ist, wenn Merkel in ihren wohlversetzten Worten im Sinne der Selbstnegierung des Gesagten feststellt, dass „die Freiheit des Internets keineswegs selbstverständlich sei, aber auch dort Grenzen erfahren muss, wo individuelle Rechte gestört oder zerstört werden“. Gibt sie sich scheinbar als Jean d’Arc der Freiheit des Internets (womit vermutlich die Freiheit der Menschen in der Nutzung desselben gemeint sein soll), um gleichzeitig die Unverzichtbarkeit des Anlegens von Ketten an diese vorgeblich geforderte Freiheit zu manifestieren.
Wer heute noch in Facebook, Twitter und Co. unterwegs ist, dem kann nicht verborgen geblieben sein, dass die von Merkels NetzDG implizierte Selbstzensur längst all jene individuellen Rechte auf Freiheit im Web vernichtet hat, weil sich kaum noch jemand traut, seine Meinung als Wiedergabe seiner persönlichen Gedanken frei zu äußern. Denn auch ohne konkrete Beleidigung oder Bedrohung einer Person, die bei entsprechender Strafbewehrung nach Gesetzbuch zu ahnden wäre, streichen und blocken die netzwerkbetriebenen Algorithmen unkontrolliert und unkontrollierbar fröhlich vor sich hin.
Da klingt es auch eher nach Drohung denn nach Erlösung, wenn Merkel zum Ende mit einer weiteren der klassischen Plattitüden aus digitalen Reserven des Kanzleramt-Sprechblasenkoffers feststellt: „Deutschland ist bereit, die Neuausrichtung des Internets mitzugestalten!“
Wie auch immer: Wenn die christliche Definition des Pharisäers eine zutreffende ist, dann hätte jener Sozialrevolutionär aus Nazareth mehr als jeden guten Grund, Merkel des real angewandten Pharisäertums zu bezichtigen – und dafür als Ersttäter mindestens eine einmonatige Sperre bei Facebook aufgebrummt zu bekommen, bevor die noch final zu legitimierende Gedankenpolizei der Kahanes und Correctivs gefordert ist, im staatseigenen Intranet entsprechende Vermerke in die Kaderakte des Delinquenten einzutragen.
Oder, um es ein weiteres Mal in Anlehnung an die Bibel mit Jesuswort zu beschreiben: „Nochmals sage ich euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass Merkel in das Reich des Netzes gelangt.“ Vom ursprünglich avisierten Himmelreich wollen wir an dieser Stelle angesichts des Niedergangs der Freiheit ohnehin besser schweigen.