Da ist sie nun also, die Koalition der Wahlverlierer. Angela Merkel hat es geschafft, noch einmal Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Doch ein Vergnügen wird es nicht werden. Zu inhomogen ist die Truppe, mit der sie die kommenden zwei Jahre zu jonglieren hat.
Merkels Tage sind gezählt – so, so oder so
364 Abgeordnete entschieden sich am Mittwoch für Merkel als Bundeskanzler. Das waren deutlich weniger, als die Koalition eigentlich hätte bringen können, bringen müssen, um zu überzeugen. 35 Abgeordnete aus der Koalition konnten sich nicht überwinden, die Frau aus Brandenburg mit Wahlkreis im Nordosten der Republik zu unterstützen. Menetekel oder normaler Vorgang?
Im ZDF spricht eine hinzugeladene Politikwissenschaftlerin von einem „ehrlichen Ergebnis“. Den logischen Umkehrschluss ihrer Aussage reflektiert sie nicht. Denn wenn ein Wahlergebnis, bei dem nicht alle zustimmen, die zustimmen müssten, ein „ehrliches Ergebnis“ ist – dann wäre jedes Ergebnis, bei dem die Parlamentarier der Regierungsfraktionen geschlossen hinter ihrem Regierungschef stehen, zwangsläufig ein unehrliches. Doch selbst, wenn 35 Verweigerer „ehrlich“ sind – wie viele Abgeordnete jener, die mit „Ja“ gestimmt haben, sind dennoch unehrlich? Unehrlich, weil sie Angst vor Neuwahlen haben, bei denen sie möglicherweise ihr Mandat verlieren könnten. Unehrlich, weil sie den Fraktionszwang ihrem Gewissen überordnen. „Ehrlich“ – ist das ein Kriterium, mit dem jemand, der ernst genommen werden möchte, Abstimmungsergebnisse beurteilen sollte? Eher nicht.
Schauen wir also darauf, was dieses Ergebnis tatsächlich aussagt über den Zustand des Parlaments, der irgendwie auch der Zustand der Republik ist.
399 Abgeordnete sollten hinter Merkel und ihrem künftigen Kabinett stehen. Nur 364 haben diese Bereitschaft in geheimer Abstimmung bekundet. Auch wenn erfahrungsgemäß nun in den Fraktionen die Suche nach den „Verrätern“ losgehen wird und zumindest die Vorsitzenden der Unionsfraktionen schnell mit dem Finger auf die SPD zeigen, bei denen zumindest einige bereits vor der Abstimmung so „ehrlich“ waren, ihr „Nein“ zu bekunden: Es ist müßig, nach jenen zu forschen, die sich Merkel verweigern. Und so ist es auch müßig, darauf zu verweisen, dass insbesondere in der CSU die Bauchschmerzen mit der Neuauflage einer Koalition, die keine Neuauflage ist, spürbar sind.
Sollbruchstellen im Vorfeld
Bereits im Vorhinein wurden erste Sollbruchstellen deutlich. Die SPD möchte gern das Werbeverbot für den legalisierten Mord an Ungeborenen aufheben. Da fände sie Unterstützung bei der FDP, den Grünen und vermutlich auch den Kommunisten. Das „Kneifen“ der Fraktionsspitze in dieser Frage gefällt nicht allen – doch für die Führung der Sozialdemokraten wird dieses Thema zu unbedeutend sein, um die nun errungenen Regierungsmandate aufs Spiel zu setzen. Vielleicht hofft sie auf eine ähnliche Überrumpelungsaktion wie bei der sogenannten „Ehe für Alle“, die Merkel in einem anheimelnden Gespräch mit einer Illustrierten unabgestimmt mit Partei und Fraktion freigab. Nicht auszuschließen, dass die kinderlose Merkel etwas ähnliches versuchen könnte – was dann allerdings fast schon zwangsläufig den abschließenden Bruch mit der CSU verursachen müsste, ist doch in Bayern immer noch ein großer Teil der Bevölkerung christlich geprägt und betrachtet die Tötung Ungeborener als Sakrileg wider die göttliche Schöpfung. Insofern wird dieses Thema weiter im Hintergrund virulent bleiben und vermutlich in den nächsten Wahlkampf gerettet werden.
Selbstverständlich hat er recht: Kein deutscher Bürger muss verhungern oder auf der Straße leben – aber ebenso selbstverständlich reicht Hartz IV trotz sonstiger Unterstützungsmaßnahmen nicht aus, um den offensichtlich unverzichtbaren Anspruch auf ein „gutes Leben“ zu garantieren. Das aber ist der Anspruch, den Sozialindustrie und die Parteien der ewigen Umverteilung den Betroffenen ins Hirn gepflanzt haben. Und insofern ist auch klar: Egal, auf welche Höhe die Sätze der staatlichen Unterstützung steigen werden – sie werden immer zu niedrig sein.
Im Griff der Sozialindustrie
Hier trifft zu, was der schweizerische Kulturhistoriker Jakob Burckhardt bereits 1864 zur Demokratie feststellte:
„Denn [es] wirkt als allgemeiner Ausdruck teils der Ideen der französischen Revolution, teils der Reformpostulate neuerer Zeit die sogenannte Demokratie, d. h. eine aus tausend verschiedenen Quellen zusammengeströmte, nach Schichten ihrer Bekenner höchst verschiedene Weltanschauung, welche aber in Einem konsequent ist: insofern ihr nämlich die Macht des Staates über den Einzelnen nie groß genug sein kann, so daß sie die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft verwischt, dem Staat Alles das zumutet, was die Gesellschaft voraussichtlich nicht tun wird, aber Alles beständig diskutabel und beweglich erhalten will und zuletzt einzelnen Kasten ein spezielles Recht auf Arbeit und Subsistenz vindiziert.“
Kein Wunder also auch, dass nach der Tafel nun auch der mittlerweile vereidigte Gesundheitsminister den geballten Zorn dieses Komplexes zu spüren bekamen – Tafel wie Spahn sahen sich schnell bemüßigt, dem Druck zu weichen und zurück zu rudern. Der öffentliche Druck der Sozialindustrie ist so stark, dass Widerspruch gleichbedeutend ist mit öffentlichem Pranger.
Das Volksvermögen wird weiter verfrühstückt
Doch das Thema ist längst nicht ausgestanden. Immer noch verbreiten die Akteure des sozialindustriellen Komplexes die Mär vom „reichen Deutschland“, welches sich alles leisten könne. Gleichzeitig aber wird das, was diesen scheinbaren Reichtum schuf, beständig zerstört.
Gleichzeitig vernichtet deutsche Bildungspolitik selbst die Idee der geistigen Leistungselite, indem das Abitur zum Hauptschulabschluss degradiert wird und die Universitäten statt Wissenschaft Sozialphilosophie betreiben. Die konzertierte Aktion europäischer und US-amerikanischer Konkurrenz auf die tragende Säule des bundesdeutschen Wohlstands wird ein weiteres tun, die gegenwärtig noch sprudelnden Quellen der Steuereinnahmen versiegen zu lassen. Und schauen wir auf die Pro-Kopf-Verschuldung, die Bund und Länder über die Jahrzehnte generiert haben, ist die Idee vom „reichen Deutschland“ längst schon nichts anderes als ein Placebo der Gewissensberuhigung. Nichts deutet darauf hin, dass die Koalition der Verlierer an diesen Entwicklungen irgendetwas ernsthaft ändern wird.
Der Staat muss tun, was die Gesellschaft nicht tut
Stattdessen hat die Koalition der Wahlverlierer im Sinne Burckhardts dennoch ein Bündel an weiteren Ersatzleistungen dessen beschlossen, „was die Gesellschaft vermutlich nicht tun wird“ und das deshalb durch „den Staat“ ersatzweise geleistet werden muss.
Es ist absehbar und wird von den sozialdemokratischen Protagonisten der Sozialindustrie ein ums andere Mal unterstrichen: Es ist noch lange nicht genug. Das Verfrühstücken des Volksvermögens soll weitergehen – bei weiterer Gleichmacherei von Leistungsträger und Leistungsunfähigem. Der Weg in den Niedergang wird daher nicht aufzuhalten sein – doch vielleicht werden zumindest in den Unionsparteien über kurz oder lang einige nach dem Stopp-Schild greifen und versuchen, damit das Ende des Merkel-Sozialismus einzuläuten. Doch selbst wenn nicht: Sollbruchstellen sind bereits genug installiert.
Die Sollbruchstellen der Koalition
Horst Seehofer, der nicht begreifen will, wann es mit aktiver Politik vorbei ist, rettet sich nach Berlin – und er wird alles daran setzen, seinen ungeliebten Nachfolger Marcus Söder schlecht aussehen zu lassen. Die zu erwartende Bundespolitik der kommenden Monate wird das Abschneiden der CSU bei den Bayernwahlen maßgeblich beeinflussen. Sollte Söder dabei besser abschneiden als sein Vorgänger, wäre das für Seehofer unerträglich. Zu erwarten allerdings ist das nicht. Der neue Heimat-Innenminister hat bereits erste Pflöcke der Unglaubwürdigkeit eingeschlagen, indem er vollmundig verkündet, die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen. Doch dabei werden ihm jene von der Sozialindustrie gesteuerten Landesregierungen ebenso schnell Riegel vorschieben wie die bundesdeutschen Gerichte. Seehofer könnte sich einmal mehr als Papiertiger entpuppen – und damit seiner bayerischen CSU den größtmöglichen Schaden zufügen.
Wie aber soll das funktionieren mit einem Ideologen im Ministerium des Äußeren, der vermutlich nichts Eiligeres zu tun haben wird, als die US-Administration abschließend mit Antifa-Sprüchen zu verschrecken? Und wie soll das funktionieren mit einem Scholzomaten auf dem Stuhl des Finanzministers, der sich vor den Forderungen seiner Genossen nach sozialen Füllhörnern kaum wird retten können und in erheblichen Erklärungsnotstand geriete, wollte er es wagen, die Futtertröge der Sozialindustrie zu Lasten der Wehrfähigkeit etwas weniger aktiv zu füllen?
Kein Modell für Deutschland
Nein, diese Koalition der Wahlverlierer ist alles andere als ein Modell für Deutschland. Und das Ergebnis der Abstimmung war alles andere als ehrlich. Es war die Fortsetzung der Verlogenheit auf der Regierungsbank, in der auf dem Sessel des Bundeskanzlers die erfolgreichste Person sitzt, die die Sozialdemokratie dort jemals platziert hatte.
Und doch werden alle Beteiligten – das haben insbesondere die Sozialdemokraten längst deutlich gemacht – alles daran setzen, den Eindruck eines gemeinsamen Regierungsprojektes zu vermeiden. Merkel hat sich mit dem Koalitionsvertrag die Opposition aus dem Parlament ins Kabinett geholt.
In der berechtigten Angst vor dem Untergang wird die Sozialdemokratie ständig um Eigenprofilierung bemüht sein. Die bayerische CSU wird nicht anders agieren, um zumindest ihre Dominanz in Bayern zu retten. Sollten dann bei künftigen „Prognosen“ gar noch AfD und FDP zulasten der Union an Zustimmung gewinnen, werden auch bei zu nehmend mehr Christdemokraten Existenzängste um sich greifen.
Evaluierung in zwei Jahren
Da kommt dann die „Evaluierung“ der Koalitionsarbeit nach zwei Jahren, von der SPD geschickt in den Koalitionsvertrag geschrieben, gerade recht. Sollte es aus irgendwelchen, heute nicht absehbaren Gründen so aussehen, als ob die SPD deutlich an Land gewinnen und vielleicht doch an den ewigen Traum von Rotrotgrün anknüpfen könnte, wird sie feststellen: Hat nicht so funktioniert, wie wir uns das gedacht haben. Also Schluss mit dieser Koalition. Die Merkel-Union wäre dann kalt erwischt – mit einer Spitzenfrau, die sich in zweijährigen Grabenkämpfen verschlissen hat, und keinem einzigen Gesicht, das dem Bürger bei Neuwahlen ernsthaft als Alternative präsentiert werden könnte.
Denn vor einem Ende steht immer auch die Frage, wer die Medienwirksamkeit des Aussteigers dann für sich verbuchen kann, wenn dieser Ausstieg als Erlösung gesehen wird. Will man das Ende des Schreckens den Sozialdemokraten gönnen, die damit bei ihrer Klientel nur dann nicht punkten könnten, wenn das Kabinett Merkel IV wider Erwarten auf breite Freude bei den Bürgern träfe – etwas, was von Nahles über Schäfer-Gümbel bis Stegner allein schon um ihres eigenen Selbsterhalts Willen vor allem Sozialdemokraten zu verhindern werden wissen? Die Frage, die hinter dem Ende dieser Koalition der Verlierer steht, lautet: Wessen Klientel wird am meisten Freude darüber empfinden, dass Merkel in die Ahnengalerie der ausgedienten Bundeskanzler an der Wand des Kanzleramts einzieht? Manches deutet nicht nur angesichts der Koalitionsvereinbarung darauf hin, dass hier die bürgerlichen Kräfte einen größeren Stoßseufzer der Entlastung von sich geben werden als jene nun wieder durchfinanzierte Klientel der Sozialindustrie.
Der Kevin und die Parteibasis
Doch selbst, wenn sich die Berufsaussitzer doch über die angesetzten zwei Jahre hinaus würden retten wollen – da ist ja immer noch der kleine Kevin aus Berlin, der seinen Führungskadern in den vergangenen Monaten so viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Das Problem dieser Führung: Sie hat nichts, womit sie Kevin Kühnert würde einkaufen können. Der im Juni 30 Jahre alt werdende Vorsitzende der Jungsozialisten hat offensichtlich Spaß daran gefunden, als Stachel im Fleisch der Partei wahrgenommen zu werden. Was also sollte ihn davon überzeugen können, davon abzulassen?
Alles andere wäre zutiefst „undemokratisch“ und wider die durch den aussortierten Sigmar Gabriel verursachte Abtretung der politischen Führungsaufgaben an die Niederungen der Partei. Ein Zurück hinter so viel gefühlte „Demokratie“? Undenkbar – und so kann sich Merkel jetzt schon darauf einrichten, zur Halbzeit erneut von den roten Parteigenossen gewählt werden zu müssen. Womit bereits jetzt auch klar ist: Die kommenden zwei Jahre hat Deutschland eine Regierung der Sozialindustrie mit christsozialdemokratischer Duldung. Denn mit Hinblick auf die „Evaluierung“ kann die SPD nun jede noch so absurde Forderung durchdrücken, sodass Merkel eigentlich auch die Restressorts, die ihr und Seehofer verblieben sind, gleich an die Sozialdemokratie hätte abtreten können.
Merkels sozialindustrielle Regierungspolitik
Sollte sich Merkel sozialdemokratischen Wünschen verweigern, endet ihre Kanzlerschaft mit größter Wahrscheinlichkeit in zwei Jahren. Verweigert sie sich diesen Wünschen nicht, geschieht dieses erst in vier. Oder vielleicht auch früher, wenn den verbliebenen Bürgerlichen in den Unionsparteien über die sozialindustrielle Regierungspolitik „ihrer“ Minister die Hutschnur platzen sollte.
Warten wir also ab – Merkel Tage aber sind gezählt. So oder so.