Tichys Einblick
Mariupol und die Zivilisierungsillusion

Putins Rache an der Stadt der Maria

Wer glaubte, die Menschheit sei in den vergangenen 3.000 Jahren in irgendeiner Weise „zivilisiert“ geworden, sieht sich getäuscht. Selbst die Massaker der letzten, global angelegten Selbstvernichtung schufen nur ein kurzes Innehalten.

Mariupol, 28. März 2022

IMAGO / ITAR-TASS

Als der assyrische Gottkönig Sanherib im Jahr 701 v. Chr. die 44 Kilometer südwestlich von Jerusalem liegende, jahudaische Stadt Lachisch (auch: Lékish) einnahm, statuierte er ein Exempel. Da deren Bewohner es gewagt hatten, dem Herrscher über Ashur und den Rest der bekannten Welt vehementen Widerstand zu leisten, wurde die Stadt mit Mann, Frau und Kind geschleift, und wessen man an männlichen Bewohnern habhaft werden konnte, endete auf dem Pfahl vor den Toren der Ruinen.

Als der makedonische Eroberer Alexander im Jahr 332 v. Chr. die phönizische Handelsstadt Tyr(os) übernehmen wollte, leisteten ihm deren Bewohner sieben Monate erbitterten Widerstand. Nachdem der Massenmörder aus der nordgriechischen Provinz endlich die Stadtmauern überwunden hatte, rächte er sich bitterlich. Rund 2.000 überlebende Männer sollen an der Küste gekreuzigt worden sein; über 13.000 Frauen und Kinder wurden in die Sklaverei verschleppt. Die Nachwelt schmückte den Massenmörder mit dem Beinamen „der Große“.

Als der kaiserliche Oberkommandierende Tilly am 20. Mai 1631 endlich den Widerstand der Handelsmetropole Magdeburg gebrochen hatte, gab er die Stadt und ihre Bewohner für drei volle Tage der Plünderung durch seine Soldateska frei. 20.000 Menschen sollen dabei vorsätzlich ermordet worden sein, Frauen vergewaltigt, Kinder versklavt. Der Nachwelt, zumindest einem großen Teil er katholischen, galt der Schlächter als ehrenwerter Feldherr.

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Wer sich dem Irrglauben hingegeben hatte, die Menschheit sei in den vergangenen 3.000 Jahren in irgendeiner Weise das geworden, was gemeinhin als „zivilisiert“ bezeichnet wird, sieht sich nun getäuscht. Selbst die Massaker der letzten, global angelegten Selbstvernichtung schufen nur ein kurzes Innehalten. Das Schlachten und Vernichten seiner eigenen Art ist dem Menschen offenbar derart tief in den Gencode gelegt, dass ihn nichts und niemand aufhalten kann, wenn er wieder einmal von der Kette gelassen wird oder sich von ihr losgerissen hat.

Um sich dieses ihm innewohnenden Charakterzugs nicht zu sehr schämen zu müssen, erfindet der Schlächter Begründungen, mit denen er sein Handeln vor sich selbst zu legitimieren sucht. In den drei anfangs genannten Beispielen sollte es dem militärischen Ziel dienen, bei künftig anstehenden Belagerungen den Widerstand aus Angst vor dem bevorstehenden Grauen ohne Kriegshandlung zu brechen.

Der Selbst- und Weltbetrug der Mörder konnte so nicht nur die höheren Überlebenschancen der ihm unterstehenden Angreifer rechtfertigen – er wurde sogar zu einer humanen Tat stilisiert, denn die widerstandslose Unterwerfung unter den Willen des Aggressors diente doch vorgeblich vor allem dem Zweck, die Bewohner künftiger Kriegsziele vor dem Selbstmord durch Widerstand zu bewahren.

Doch bei allem Selbst- und Weltbetrug – das Verbrechen bleibt ein Verbrechen, der Massenmord ein Massenmord. Und des Verbrechers Motiv ist Rache – die Rache dafür, dass das Opfer es gewagt hatte, dem Eroberer zu widerstehen. Wer vergewaltigt werden soll, der hat sich klaglos in sein Schicksal zu fügen. Wagt er es zu widerstehen, so hat er sich die Folgen selbst zuzuschreiben.

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Die europäische Illusion war es, dass die Menschheit sich geändert hätte. Dass sie gelernt hatte aus dem Massenschlachten, mit dem sie sich im 20. Jahrhundert wiederholt dezimiert hatte. Die Menschen seien vernünftig und friedfertig geworden, lautete die Illusion. Sie hätten gelernt aus ihren Verbrechen. Wer allen Ernstes solch naiven Vorstellungen anhing, der wird nun in der Ukraine eines Besseren belehrt.

Nichts hat sich verändert – nichts ist zivilisierter, nichts ist friedlicher geworden. Die Vergewaltigung des Schwachen durch den Stärkeren feiert fröhliche Urständ und die Welt schaut zu, wirft dem Opfer bestenfalls ein paar Schlagringe zur Verteidigung zu aus Angst, selbst in den Kreislauf der Gewalt zu geraten. Immer noch ist es vor allem das Motiv Rache, das den Vergewaltiger antreibt. Auch wenn er wahnhaft sich einredet, höhere Ziele zu verfolgen.

Ich musste kein Prophet sein, um bereits vor Wochen zu schreiben: Das erste Opfer des russischen Überfalls wird Mariupol sein. Ich musste nur wissen, was im Kopf eines Putin vor sich geht. Denn diese Stadt am Asowschen Meer hatte es gewagt, sich wie einst Lachisch, Tyr oder Magdeburg dem Vergewaltiger zu widersetzen. Sie, die Widerspenstige, wird zum Symbol des Täters, die Schmach der Niederlage zu sühnen und den Widerspenstigen endlich seinen Willen aufzuzwingen.

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Strategisch wichtig sei die Stadt, phantasieren die Zuschauer und rechtfertigen das Vorgehen des Schlächters so auch dann, wenn sie es an den Pranger zu stellen suchen. Was aber an einer Stadt, deren Zugang zum Meer längst vom Feind kontrolliert wird, ist strategisch wichtig? Was an dieser Stadt ist strategisch wichtig, wenn Russland sie vom Rest der Ukraine abgeschnitten hat? Die vermeintliche Landbrücke zwischen den seit 2014 von Russland besetzten Territorien der Ukraine benötigt die Einnahme von Mariupol nicht. Sie könnte einfach an der eingekesselten und von jeglicher Versorgung abgeschnittenen Stadt vorbeigeführt werden. Nein, um seinen Eroberungsfeldzug zu gewinnen, ist Mariupol für Putin nicht von Bedeutung.

Dennoch wird die Vergewaltigung der Stadt Mariupol gnadenlos und total sein. Denn Mariupol, diese strategisch unbedeutende Widerspenstige, ist Symbol von Niederlage und Selbstbehauptungswillen in einem. Im Jahr 2014 endete der russische Versuch, sich den Osten der Ukraine einzuverleiben, an den Ostgrenzen dieser zuletzt über 400.000 Menschen beherbergenden Stadt. Sie brachten dem Kriegsherrn im Kreml so die erste Niederlage in seinem Feldzug gegen die Ukraine bei. Sie, die widerspenstigen Bewohner von Mariupol, hatten es gewagt, dem Vergewaltiger eine Grenze aufzuzeigen. Und deshalb darf nichts von der Stadt bleiben, was an diese Niederlage, an diesen Widerstand erinnert. Ist schon der Name nicht von der Welt zu tilgen, so muss es zumindest der Ort sein.

Mariupol wird es ergehen wie der tschetschenischen Metropole Grosny, die Wladimir Putin 1999 in Schutt und Asche legen und als russische, nicht als tschetschenische Stadt neu aufbauen ließ. Die Anzahl der damals ermordeten Zivilisten in der Hauptstadt jener Region, die als letzte den Versuch unternahm, sich von den russischen Kolonialherren zu befreien, ist nicht bekannt – Berichte gehen von mindestens 8.000, vielleicht aber sogar von bis zu 45.000 Menschen aus, die der Rache des Kremlherrn zum Opfer fielen. Tschetschenien, nördlich von Georgien und westlich von Dagestan im Kaukasus gelegen, war in den 1820er Jahren von zaristischen Truppen unterworfen und dem Großrussischen Reich einverleibt worden. Wer sich von der russischen Kolonialherrschaft zu befreien sucht, hat keine Gnade zu erwarten. Und Schlächter zählen ihre Opfer nicht.

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Der in Leningrad geborene Präsident der Russischen Föderation ist hemmungs- und zügellos, wenn er auf Widerstand trifft. Gleich den Vergewaltigern der Vergangenheit rechtfertigt er seine Rachegelüste fadenscheinig mit angeblich kriegsnotwendigen Zielen. Das Muster gleicht sich von Grosny über Aleppo bis Mariupol. Terroristen, mal islamisch, mal faschistisch, mal nationalistisch, sind es, die dem Despoten in Moskau seine Legitimation zum Massenmord geben. Früher waren es Heiden und Ungläubige, die den Widerstand wagten. Oder Aufständische, die sich von der Fremdherrschaft befreien wollten und deshalb zu Rebellen wurden.

Nie aber waren es einfach nur Menschen. So auch heute. Für den Despoten ist Terrorist, wer es wagt, zu widerstehen. Der Gegner darf kein Mensch sein, denn wenn er es wäre, zwänge er den Täter zur Unerträglichkeit der Erkenntnis des eigenen Seins. Auch deshalb kennt seine Rache keine Gnade. Das Opfer zwingt ihn, sich seines eigenen, animalischen und triebgesteuerten Verhaltens zu stellen. Deshalb muss dieses Opfer einem höheren Ziel dienen. So war es in der Antike, die ohne kulturellen Fortschritt, ohne zivilisatorische Entwicklung bis in die Gegenwart reicht.

Der Despot erhebt sich zum Herrn über Leben und Tod, um sich seiner eigenen Unzulänglichkeit nicht stellen zu müssen. Er verliert die menschliche Kontrolle über sich selbst und seinen Hass, weil er lernt, sich für sich selbst zu hassen. Wer sich gegen ihn stellt, hat deshalb jegliches Recht auf Leben verloren. Das war so in Lachisch, in Tyr, in Magdeburg, in Grosny. Es wird so sein in Mariupol, der Marienstadt, die einst von christlichen Schwarzmeergriechen begründet worden war. Auch das symbolisch, wenn der schmächtige Mann, der seine Minderwertigkeitskomplexe hinter der Fassade eines aufgesetzten Männlichkeitswahns zu verstecken sucht, als ersten Akt seines Rachefeldzugs ausgerechnet jene Stadt vergewaltigt, deren Namensgeberin von den Christen als die Mutter Gottes verehrt wird.

Wie viele von den nach seinem Bürgermeister noch 160.000 dagebliebenen Einwohnern Mariupols überleben, denen es heute ergeht wie den Bewohnern Leningrads, als die Deutschen die Stadt belagerten, interessiert Despoten nicht. Am Ende sind die Opfer nichts als eine Zahl.

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Die anstehende Vernichtung wird die klassischen Rechtfertigungen finden. Die Verteidiger ihrer Familien und ihres Lebens werden von den Siegern zu Untermenschen kretiniert. Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Putin nennt jeden, der sich ihm zu widersetzen wagt, einen Terroristen, der „Nationalist“ und „Faschist“ ist. Er knüpft an jene Urängste, als Russland im Kampf der Psychopathen zwischen Hitler und Stalin unterzugehen schien. Dabei ist es die Hybris des Nationalisten, nur den eigenen Nationalismus gelten zu lassen. Und es ist das Paradoxon des Faschisten, das eigene faschistische Handeln nicht erkennen zu wollen.

Der Fall der Stadt der Maria wird in der perfiden Logik der Vernichtung als Exempel dienen, um den Widerstand in den Metropolen der Ukraine zu brechen. Putin agiert archaisch wie Sanherib und Alexander. Unzivilisiert. Barbarisch. Vor allem aber unmenschlich und dennoch in seinem unmenschlich-menschlichen Hass berechenbar. Seine Rache ist grenzenlos und wird nicht befriedigt sein, wenn das widerspenstige Mariupol gefallen und zum Symbol russischer Barbarei geworden sein wird. Putins Rache wird ihre Opfer fressen, bis dem eine Ende gesetzt ist. Wann und durch was oder wen auch immer.

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