Tichys Einblick
Teil 7: Levitische und prä-levitische Texte

Keine jüdische Geschichte vor dem siebten vorchristlichen Jahrhundert

Ist, wie viele Theologen meinen, zum Alten Testament tatsächlich alles gesagt? TE-Autor Tomas Spahn ist anderer Auffassung. TE veröffentlicht die Zusammenfassung seiner Überlegungen zur Entstehung des Monotheismus als Serie. In Teil 6 ging es um Unlogiken bei Königsbuch und Chronik. Lesen Sie heute Teil 7:

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Wenn wir uns der Erwähnung der Leviten im Tanach unter statistischen Gesichtspunkten nähern, so sticht ins Auge, dass es im gesamten Komplex der Königsbücher nur eine einzige Erwähnung dieser Personengruppe gibt. In K1.0804 treten sie unter Shelemah einmalig auf als jene, die die Jahɰah-Lade sowie alle weiteren Heiligtümer gemeinsam mit den Priestern zwischen Davidstadt und Zion bewegen. Doch diese Formulierung wirkt fast wie ein nachträglicher Einschub und steht zum Kontext nur unwesentlich in Verbindung. Ansonsten aber ist die Königs-Chronik Leviten-freie Zone.

Wenn diese Gruppe tatsächlich so bedeutend war, wie uns bereits in den Mose-Büchern, der Tora, suggeriert wird – warum wird auf sie in den Königsbüchern überhaupt kein Bezug genommen? Diese offensichtliche Diskrepanz in der Wahrnehmung konnte nur eines bedeuten: Die Autoren der Königsbücher hatten für die Erwähnung der Leviten keine Ursache. Und das wiederum konnte nur bedeuten: Entweder gab es die Leviten zum Zeitpunkt der schriftlichen Niederlegung der Königschronik (noch) nicht – oder sie waren für die Autoren gänzlich unbedeutend.

Folgerichtig mussten die uns bekannten Fassungen des Tanachs in ihrer zeitlichen Produktionsfolge auch an dieser Feststellung festgemacht werden können. Was wiederum bedeutete, dass weitgehend Leviten-frei Texte älteren Datums sind (demnach prä-levitisch), jene wiederum, in denen die Leviten von Bedeutung oder gar hoher Bedeutung sind, als levitische Texte zu bezeichnen wären.

Levitische und prä-levitische Texte

Werfen wir unter diesem Aspekt noch einmal einen Blick in den Tenek, so sind von den Schlüsselwerken als prälevitisch die Bücher Mose 1 bis 3, Richter und Samuel sowie neben den Königsbüchern die Werke Jesaja und Jeremia einzuordnen. Die Bücher Mose 4 und 5, Josua, die Chroniken, Esra, Nehemia und Hesekiel sind hingegen eindeutig levitischen Ursprungs. Wenn dem so ist, wird damit auch deutlich, welche Motivation der literarischen Leistung der Chroniken zu Grunde liegt: Es ging darum, die Geschichte der Königsbücher pseudohistorisch zu levitisieren.

Wenn wir einen zeitlichen Schnitt ziehen zwischen jenen Texten, die prälevitisch sind, und jenen, die levitisch sind, dann ist dieser zwischen Jeremia und Esra anzusiedeln. Die notwendige Schlussfolgerung lautet: Die Leviten sind als relevante Gruppe erst im babylonischen Exil entstanden – levitische Texte können in der vorliegenden Fassung nicht vor dem Untergang Jerusalems im Jahr 587 vc geschrieben worden sein. Die Geschichte der Eroberung des kanaanitischen Palästinas in den späten Mose-Büchern ebenso wie im Buch Josua ist folgerichtig eine Dichtung, die erst nach dem Untergang Jahudahs verfasst wurde.

Der Hinweis auf das Gesetzbuch des Mose

Unabhängig davon fällt bei der Darstellung in der Chronik die Mitteilung auf, dass es sich bei dem im Zuge der Renovierung aufgefundenen Buch um „das Buch des Gesetzes des Jahwɰah durch Mose“ gehandelt habe. Wie nun mit dieser Mitteilung umgehen, wenn der Nachweis erbracht war, dass die Chronik eine levitische Dichtung – oder in diesem Falle eine levitische Interpretation des Königsbuches ist? Ist diese Darstellung dann ebenso in die levitische Geschichtsumschreibung einzusortieren – oder übermittelt uns die Chronik hier eine Tatsache?

Unstrittig war festzuhalten: Die Bücher 4 (רבדמב . bémédébér) und 5 (םירבד . débérjm) der Mose (Méshah)-Erzählung konnten nicht zu dem gehören, was Hilkia aufgefunden zu haben behauptete. Denn diese Parts gehören zu den levitischen Texten. Blieben nur die ersten drei Bücher.
Sollte sich der „Fund“ tatsächlich in der Tora (הרות . tɰrah) befinden, so könnte die Prophezeiung göttlicher Strafen einen Hinweis geben. Und tatsächlich findet sich eine umfassende Liste der Konsequenzen einer nicht-jahɰahistischen Glaubensausübung in M3.26. Dort verspricht Jahɰah seinen Anhänger umfangreiche Unterstützung in allen Lebenslagen – und droht das, was das Mittelalter unter Höllenstrafen verstand, an für den Fall, dass die Menschen sich nicht zu ihm bekennen.

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Die Angebote und Drohungen haben grundsätzlichen Charakter. Sie sind ein entschiedenes Entweder-Oder. In dieser Absolutheit können sie als Ursache zur Zerknirschung des Josia geführt haben, die uns im Königsbuch beschrieben wird. Den Angeboten und Drohungen vorangestellt ist – eingebettet in die Offenbarungsgeschichte des Mose – ein umfangreicher Katalog religiöser und weltlicher Regeln – heute als mosaisches Gesetz bekannt. Dieses Regelwerk umfasst alles, was ein Staat zu jener Zeit zur Organisation einer geordneten Gesellschaft benötigte. Konnte es folglich der historischen Wahrheit entsprechen, dass es sich um dieses umfangreiche Werk handelte, das Hilkia dem Josia überbringen ließ – wie es uns in der Chronik mitgeteilt wird?

Neben der Möglichkeit, dass die Androhungen den Anlass für den theatralischen Auftritt des Herrschers geboten haben mögen, gibt es weitere Hinweise darauf, dass dieses Gesetzeswerk in die Zeit des Josia passt. So ist in Vers 1 von geschnitzten Bildern und Bildsäulen die Rede – Symbole des assyrisch-phönizischen Baals-Kultes. In Vers 10 erfolgt die Zusage, Überkommenes zu entfernen und damit Platz für etwas Neues zu schaffen. In Vers 11 kündigt Jahɰah an, seine Wohnung in ihre Mitte zu setzen – was ein Hinweis auf den zentralen Tempel in Jerusalem darstellen könnte. In Vers 30 ist von den Höhenheiligtümern und den Sonnensäulen die Rede – ebenfalls Einrichtungen und Symbole der polytheistischen, assyrischen Gottesverehrung. Auch wird dort angekündigt, dass die Ungläubigen als Leichen auf die Überreste der Götzen geworfen werden – ein Vorgehen, das wenig später dem Josia im Zuge seiner religiösen Säuberungen zugewiesen wird.

Am ehesten zu überzeugen schien der letzte Vers, in dem recht wörtlich das umfangreiche Gesetzeswerk mit der entsprechenden Formulierung in der Chronik definiert wurde: Die Gesetze des Jahɰah, die dem Volk durch Mose gegeben wurden. Dennoch blieben Zweifel, die nicht nur in der zuvor nachgewiesenen Geschichtsklitterung durch die Chronik-Autoren begründet waren. So wollte die Länge des Textes kaum dafür geeignet scheinen, auf die Schnelle verlesen zu werden. Allerdings – darüber, wie lang die Verlesung gegenüber dem Josia (und später dem „Volk“) gewesen ist, erfahren wir nichts. Und so mag es durchaus sein, dass man sich auf die Kerninhalte beschränkt hatte und auf die umfangreichen Regelungen der religiösen und weltlichen Gesetze verzichtete.
Folglich galt es, die in der Chronik unmissverständlich dargelegte Möglichkeit, dass es sich bei dem aufgefundenen Buch tatsächlich um die entsprechenden Teile der Bücher Mose gehandelt hat, auf ihre Konsequenzen zu untersuchen – und auf die möglichen Ziele, die die Autoren der Chronik damit verknüpft hatten.

Die Ordnung von Staat und Religion

Wenn die Chronik unmissverständlich die mosaischen Gesetze vorgibt, die Königsbücher dieses jedoch nicht tun – was könnte die Autoren veranlasst haben, so zu verfahren? Wenn die Chronik levitischen, die Königsbücher jedoch älteren Ursprungs waren, dann konnte es eine simple Erklärung geben: Die levitischen Autoren wussten nach vermutlich kaum mehr als fünfzig Jahren noch darum, um was es sich gehandelt hatte – und sie wollten diese Kenntnis der Nachwelt erhalten. Das wäre aller Ehren wert und die Nachwelt hätte ihnen dafür Dank geschuldet.
Andererseits: Was hat die Autoren der Königsbücher davon abgehalten, diese Mitteilung bereits in ihrem Text zu machen? Die einfache Antwort darauf könnte lauten: Es war für sie derart selbstverständlich, dass es keiner Erwähnung bedurfte.

Vieles spricht dafür, dass die Königsbücher bereits zu Lebzeiten des Josia – vielleicht sogar früher – gleichsam auf Federkiel gelegt worden waren. Saphan wird als Schreiber vorgestellt. Da ich der Darstellung zuneige, dass er der Einzige war, der zwischen Josia und Hilkia den Kontakt hielt, wird er auch derjenige gewesen sein, der die entsprechenden Passagen der Königsbücher maßgeblich zu verantworten hat.

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Des Weiteren war nicht zu übersehen, dass der Fund eines umfänglichen Gesetzeswerks göttlichen Ursprungs genau das war, was man etwas spöttisch als „glückliche Fügung“ bezeichnen kann. Der Staat Jahudah, der zu diesem Zeitpunkt zumindest ein Vasall des Weltreichs von Ashur gewesen ist, wird nach der Jahrzehnte währenden Abhängigkeit maßgeblich von assyrischen Rechtsvorschriften geprägt gewesen sein. Ein Recht, das sich sowohl in Ursprung als auch in Inhalt deutlich von diesem Hegemonialrecht unterschied, wäre eine ideale Basis für den Aufbau eines unabhängigen Staatswesens. Mehr noch: Es war in gewisser Weise unverzichtbar, wenn man einen deutlichen Trennungsstrich ziehen wollte. Dass die Elite von Jahudah dieses wollte – darauf werde ich später eingehen.

Da ich nach jahrzehntelanger Erfahrung mit dem politischen Geschäft weit davon entfernt war, an derart glückliche Zufälle und noch viel weniger an göttliche Fügungen zu glauben, stellte ich die Frage andersherum: Cui bono – wem nützte es?

Das mosaische Gesetzeswerk ist eindeutig: Es erwartet das vorbehaltlose Bekenntnis zu dem einen Gott, dem Jahɰah der (von den) Allmächtigen (םיהלא הוהי). Dieses Bekenntnis wird verknüpft mit umfangreichen Gesetzen, die eine perfekte Basis darstellen nicht nur für den korrekten Dienst an Gott, sondern die gleichzeitig ein umfassendes Zivilrecht als göttlichen und damit unanfechtbaren Willen definieren.

Das mosaische Gesetz ist damit die ideale Grundlage zum Aufbau eines Gottesstaates – also eines Staatswesens, dass nicht zwischen Religion und Zivilgesellschaft trennt. Unabhängig davon, dass diese Verbindung zu der Zeit des Josia durchgängig als Verfassungsmodell zum Einsatz kam, bediente sie die Interessen der beiden Hauptakteure Hilkia und Josia.

Ein ideales Werk zur Staatsführung

Der Hohepriester erhielt ein religiöses Regelwerk, das ohne jeden Zweifel seinen Vorstellungen umfänglich entsprach. Der Staatsführer wiederum erhielt ein Zivilgesetzbuch, mit dem er sein Volk in geregelten Bahnen führen konnte.

M3.26 bietet aber noch mehr. Dort wird dem Volk seiner Anhänger die Zusage gegeben, dass es mit seinem Beistand erfolgreich gegen jeden Feind ziehen kann. Dieses Muster findet sich bis heute, wenn beispielsweise ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika von einem „Kreuzzug“ spricht oder dessen Gegner sich darauf berufen, ihren Kampf im Namen Allahs (welcher wiederum auch der Allmächtige aus dem Götterkollektiv des Tanach ist) zu führen. Göttlicher Beistand ist bis in die Gegenwart ein propagandistisch wirksames Mittel, um den Menschen zu erklären, weshalb sie ihr wertvollstes Gut – ihr Leben – aufs Spiel setzen sollen für die Interessendurchsetzung anderer, die sich selbst im Idealfalle aus der Zone der unmittelbaren Todesgefahr tunlichst heraushalten.

Mit dem mosaischen Gesetz in der Version M3.26 erhielt der Staatsführer somit nicht nur eine ziviles Gesetzbuch – er erhielt auch die Grundlage für einen Expansionskrieg, wenn er denn einen solchen führen wollte. Wenn ein kluger Staatsführer mit großen Ambitionen sich ein Gesetzeswerk für seine Ziele maßschneidern könnte – das mosaische Gesetz würde ein optimales Ergebnis dieses Tuns sein.

Ein unbekanntes, ewiges Gesetz

Doch bevor ich mich möglicher Schlüsse aus diesen Überlegungen zuwendete, galt es eine andere Überlegung auf ihre Wahrscheinlichkeit abzuklopfen.

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Unterstellt, das besagte mosaische Gesetz wäre das gewesen, was Hilkia dem Josia zukommen ließ, dann musste der theatralische Auftritt des Josia nicht nur bedeuten, dass dieses mosaische Gesetz ihm und seinen Getreuen bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannt gewesen ist – er belegt auch, dass das Volk von Jahudah diesen Gesetzen nicht folgte, weil es ihnen mangels Kenntnis nicht folgen konnte, sondern genau jene religiösen Handlungen vollzog, die im Buch als Sünde wider Jahɰah beschrieben werden.

„Denn groß ist der Grimm Jehovas darum daß unsere Väter auf die Worte nicht gehört haben, um nach allem zu tun, was geschrieben ist.“ So begründet Josia den Auftrag an seine Mitarbeiter, wegen des Buchfundes jemanden zu befragen. Scheinbar geht es darum, dass die Vorfahren gesündigt hatten. Jedoch – siehe oben – in diesem Falle hätte sich Jahɰah als äußerst ungerechter Gott geoutet – und Josia hätte keinen Grund gehabt, sich seine Kleider zu zerreißen. Denn das Volk hätte dann ja zwischenzeitlich den Fehler seiner Vorfahren korrigiert und durch das Bekenntnis zum einzigen wahren Gott seine uneingeschränkte Bereitschaft erklärt, sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen. Mehr noch: Wenn das Volk, wie im Tanach geschildert, ohnehin dem Verderben preisgegeben war – welchen plausiblen Grund hätte es dann geben sollen, sich nunmehr noch diesen Gesetzen zu unterwerfen?

Sowohl die Ungerechtigkeit des Jahɰah – die insbesondere dann eine Ungerechtigkeit bleibt, weil sie dem Volk keine wirkungseffektive Chance zur Umkehr einräumt – als auch die Theatralik des Josia konnten nur eines bedeuten: Das Volk von Jahudah hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von den Wünschen und Vorstellungen des Gottes Jahɰah – und es verehrte ihn auch nicht. Wie aber passte nun der explizite Hinweis auf die Väter in diese Vorstellung?

Nun – Josia und seine Getreuen waren offensichtlich willens, sich zu Jahɰah zu bekennen – und faktisch taten sie dieses bereits, weil … – doch auch mit dieser Erklärung sollten wir noch etwas warten. Die Väter dieser Getreuen jedoch hatten tatsächlich nicht auf die Worte des Jahɰah gehört. Für die politisch-religiöse Zielsetzung der Getreuen spielte es dabei keine Rolle, dass ihre Vorfahren ebenso wie das Volk nicht für diese Missachtung haftbar zu machen waren, wenn das via Mose vermittelte Gesetz des Jahɰah sich über einen unbekannt langen Zeitraum in irgendwelchen Tiefen des Tempels verborgen hatte. Und dass dieses so gewesen sein muss, wenn die in der Quelle übermittelte Darstellung stimmt, daran konnte es keinen Zweifel geben.

Gab es vor Josia einen mosaischen Glauben?

Warum das so ist? Nun, zum einen gibt es von diesem Gesetz nur dieses eine Exemplar. Denn hätte es andere gegeben, so wäre der Inhalt bekannt gewesen und der Tempelfund vielleicht archäologisch und im Sinne der Zeit als Reliquie bedeutsam – doch er hätte weder Josia zu seinem Auftritt bewegt, noch wäre es notwendig gewesen, jemand anderen wegen der Richtigkeit des Textes zu befragen.

Der Tanach vermittelt den Eindruck, dass dieses Gesetzeswerk zu irgendeinem früheren Zeitpunkt im Tempel verschollen oder versteckt worden war. Für die Zeitgenossen der damaligen Elite war dieses plausibel. Doch ganz offensichtlich wusste man nicht einmal rudimentär um dieses Gesetz. Folglich musste dessen Verschwinden bereits lange zurück liegen. Hatte es Salomo dort verstecken lassen, als er den Tempel errichtete? Für die damaligen Bewohner mag auch dieses eine plausible Erklärung gewesen sein.

Dank Finkelstein und Silberman war jedoch bekannt, dass diese Tempelbaugeschichte archäologisch nicht aufrecht zu erhalten war. Zudem war darüber hinaus bekannt, dass das Schrifthebräisch der Josia-Phase weit von jenen protosemitischen Schriftzeichen entfernt war, welcher Salomo sich hätte bedienen müssen.

Teil 3: Original und gesprochene Sprache
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Hätte es sich bei dem Fund um ein Dokument aus der Zeit des Salomo gehandelt, so wäre der Schreiber Saphan außer Stande gewesen, es unmittelbar nach Erhalt dem Josia zu verlesen. Dieses Faktum war der überzeugendste Beleg dafür, dass dieses Buch kaum älter als einhundert Jahre alt sein konnte. Also hätte es theoretisch unter Hiskia im Tempel versteckt worden sein können, als Sanherib vor den Toren der Stadt stand. Nur – zum einen hätte er es schnell wieder herausholen können, nachdem der Assyrer abgezogen war. Zumindest dann, wenn es nur dieses eine Exemplar des Gesetzbuches gegeben hat. Und wenn es diesen erfolglosen Abzug tatsächlich geben haben sollte.

Wenn es jedoch Kopien dieses Buches gegeben hätte, dann wiederum – und ich wiederhole mich hier – wäre der Fund zwar kulturhistorisch bedeutsam gewesen, hätte aber nicht jene umfangreichen Konsequenzen ausgelöst, die uns Königsbuch und Chronik schildern.

All diese Überlegungen begründeten allein für sich schon deutliche Zweifel an der Botschaft des Tanach. Nun aber kam noch jene unmissverständliche Mitteilung aus der Chronik hinzu, wonach es sich bei dem Fund um das mosaische Gesetz gehandelt habe.

Es galt, zwei und zwei zusammen zu zählen. Wenn zum einen dieses Gesetzeswerk den maßgeblichen Personen des Staates Jahudah nicht bekannt gewesen ist – und dem Volk zwangsläufig ebenso wenig – und wenn zum anderen die Aussage zutreffend war, dass es sich dabei um das mosaische Gesetz gehandelt hat, dann erforderte diese Verknüpfung eine grundsätzliche Frage, die mit ihrer Antwort ein Weltbild zum Einstürzen bringen kann. Sie lautete: Was war die religiöse Basis des jüdischen Glaubens bis zu diesem Zeitpunkt, wenn das Gesetz des Mose unbekannt war?

Diese Frage war identisch mit der, was das Christentum wäre ohne die Evangelien? Oder der Islam ohne den Koran? Der Hinduismus ohne die Bhagavad Gita? Der Zoroastrismus ohne die Avesta?
Die Antwort konnte nur lauten: Nichts! Eine Religion ohne Basis aber, wie es ein Jahɰahismus vor dem Fund des Buches gewesen sein muss, wenn die Darlegungen des Tanach zu diesem Fund zutreffend sind, kann es nicht gegeben haben. So stand fest: Vor Josia konnte es kein Judentum als Religion in Palästina gegeben haben! Und damit waren auch die historischen Darstellungen des Alten Testaments mit einem Male null und nichtig. Denn wenn es vor 622 vc keine Glaubensjuden gegeben haben kann, dann sind die Geschichten von Abraham bis David tatsächlich nichts anderes als dieses: Geschichten! Eines aber waren sie keinesfalls: Wahrhaftige Geschichte. Und daraus folgte zwangsläufig: All die angeblich historischen Darstellungen der hebräischen Geschichte, die vor 622 vc zu datieren sind, haben mit Geschichtswissenschaft nichts zu tun und in Geschichtsbüchern als Faktenbehauptungen nichts zu suchen. Sie sind Legenden, die ausschließlich als solche zu behandeln sind.

Dieses Ergebnis hatte ich beim Einstieg in meine Beschäftigung mit Josia nicht erwartet. Und es ging weit über das hinaus, was Finkelstein und Silberman auch nur ansatzweise zu denken gewagt hatten.

Hatte ich irgendetwas übersehen? War mir ein fundamentaler Denkfehler unterlaufen? Hatte ich mich möglicherweise von einigen missverständlichen Zeilen auf einen Irrweg führen lassen? Gab es irgendwo eine Erklärung dafür, dass meine Schlussfolgerungen falsch waren?

Lesen Sie in Teil 8, wie aus einer Hohepriesterin des Asherah-Kultes eine biblische Prophetin wird.


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