Tichys Einblick
Corona als Systemtest

Ist die politische Kaste selbst in kollektive Panik geraten?

Geht es der Politik tatsächlich überhaupt darum, die Menschen und damit die Alten und Gebrechlichen vor dem Virus zu schützen? Oder geht es lediglich darum, die Durchseuchung möglichst in die Länge zu ziehen, um die Mängel der Krankenhaussysteme nicht zu offen deutlich werden zu lassen?

Credit Fusion Animation

China scheint die Pandemie weitgehend überwunden zu haben. Das ist die Nachricht, die die roten Mandarine in Peking seit einiger Zeit verbreiten. Sie sind nun sogar in der Lage, das in besonderem Maße von Covid-19 geschlagene Italien und andere Länder mit Hilfslieferungen und medizinischem Personal zu unterstützen. China glänzt nicht nur dem Aufbau von Krankenhäusern in Rekordzeit – manch Zyniker verweist nicht ohne Häme auf die Dauerbaustelle des unnötigen, bundesdeutschen Hauptstadtflughafens.

Russlands Präsident Putin lässt den ewigen Kampf mit dem Gegner in Nordamerika ruhen, schickt mit dem Militärtransporter Antonow 124 rund 60 Tonnen Hilfsmaterialien wie Beatmungsgeräte und Masken nach New York.

Auf der anderen Seite die Staaten Europas und Amerikas, in denen die vom Virus ausgehende Gefahr erst zu spät wahrgenommen wurde, und deren medizinische Ausstattung offenbar außerstande ist, mit einer Pandemie fertig zu werden. So unterstrich die Frau Bundeskanzler am ersten Freitag des April, dass sie mittlerweile von einer noch längeren Phase der Isolation und des wirtschaftlichen „Shutdowns“ ausgehe, weil nicht genug Intensivbetten zur Verfügung stünden.

Der US-Präsident, zuerst ähnlich Putin und Brasiliens Bolzonaro an vorderster Front derer, die die Gefahr herunterzuspielen suchten, rechnet mittlerweile mit mindestens 100.000 Toten allein in den USA, sieht sich am Ende der ersten Aprilwoche mit über zehn Millionen Arbeitslosen konfrontiert. Um die fehlende Krankenversicherung insbesondere der ärmeren Bevölkerungsschichten zu ersetzen, kündigt US-Vizepräsident Pence die Kostenübernahme durch den Staat an.

Der Weltverein UNO beschließt erstaunlich einvernehmlich eine Resolution zur gemeinsamen Bekämpfung der Virusinfektionen – Russlands Vorstoß, deshalb nun bestehende Sanktionen aufzuheben, bleibt allerdings ungehört.

Corona als Gradmesser der Systeme?

Ist die Corona-Krise ein Gradmesser der Effizienz von Systemen? Fast will es so scheinen. Die Börsen, diese kapitalistischste aller Menschheitserfindungen, lassen die Aktien in den Keller rauschen: Über 30 Prozent Wertverlust sind die Regel – zumindest auf dem Papier und im Depot. Denn welch realer Unternehmenswert am Ende tatsächlich ernsthaften Schaden genommen hat, wird sich erst nach dem Ende der Krise zeigen

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All das scheint zu belegen: Je totalitärer ein System aufgebaut ist, desto effizienter kann es auf Ereignisse wie Corona reagieren. Was auch deshalb naheliegt, weil eine Gesellschaft wie die des kommfuzionistischen China eben keine Diskussion zu fürchten hat darüber, wie weit die staatlich verordneten Freiheiteinschränkungen gehen dürfen. Der totale Staat, Anfang der 1930er Jahre von Carl Schmitt beschrieben, hat ohne jeden Zweifel die besten Möglichkeiten, das aus seiner Sicht Unverzichtbare umgehend und unmittelbar durchzusetzen. Und da in Rotchina ohnehin die individuelle Freiheit sich grundsätzlich den von der politischen Führung definierten Staatszielen unterzuordnen hat, brachte es seine Effizienz auf die griffige Formel des „Gesundheit statt Freiheit“. Eine Losung, die manchen geneigt werden lassen könnte, die Errungenschaften einer liberalen Demokratie grundsätzlich in Frage zu stellen.

Damit steht nun auch das kapitalistische Wirtschaftsmodell auf dem Prüfstand. Ohne Frage haben die marktwirtschaftlich scheinbar gebotenen Maßnahmen der Gewinnmaximierung ihren Anteil an der Hektik, mit der in marktliberalen Ländern auf die Bedrohung reagiert wird. So wurde allein in der Bundesrepublik die Anzahl der Krankenhausbetten zwischen1998 und 2018 von 571.600 auf 497.200 reduziert. Ein Rückgang um rund 13 Prozent. Staatlich gefördert, weil man das Risiko Krankenpflege lieber den Privaten aufbürdete, um mehr Mittel für sozialistische Wahlgeschenke freizuschaufeln.

Die Produktion von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung – früher einmal ein Kernelement der in Deutschland produzierenden Unternehmen – wurde nach Indien und China verlagert. Die Gurus der sogenannten Unternehmensberater ließen nicht nur diese Produktion „aus Kostengründen“ in die sogenannten Schwellenländer verlagern. Unmittelbare Folge: In der Not fehlen Ausrüstung und Arzneimittel. Mittelbare Folge: Durch die in den Schwellenländern unkontrollierte Verbringung beispielweise von Antibiotika in die Umwelt erhalten die Bakterien ihr eigenes Biolabor, um für ihren evolutionären Kampf gegen die menschliche Gesundheit zu rüsten. Auch dieses scheint jenen kollektivistischen Kritikern Recht zu geben, die in der marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft die Quelle allen Übels sehen.

Wenn der Verzicht auf Freiheit zur Gewohnheit wird

Jüngst veröffentlichte ich einen Text zur Social Fiction, in dem ich eine mögliche Entwicklung in der Nach-Corona-Ära aufzeigte. Sie wies den Weg in den scheindemokratischen, gleichzeitig jedoch totalitären Staat, in dem zum Wohle der Menschheit die Freiheit des Menschen auf ein Maß reduziert wird, welches unter dem Banner angeblich alternativloser Notwendigkeiten die Individualität auf ein Mindestmaß einschränkt. Es ist ein Weg, den die Politik zumindest der führenden EU-Staaten längst eingeschlagen hat. Beispielsweise mit AKW- und Kohlekraftwerksabschaltung im Großen, mit Dieselverboten und gezielter Vernichtung von Kfz-Stellplätzen im Kleinen. Und aktuell nicht nur mit den Kontaktverboten, sondern auch mit Maßnahmen wie der Bitte, „freiwillig“ auf Bargeldzahlung zugunsten der Karte zu verzichten – wobei vor allem hier die Sinnfälligkeit dahinsteht, tragen doch die Kassierer ohnehin längst Handschuhe und dürfen die Kunden nun ihre Coronas über die Geheimzahleingabe weiterreichen.

Doch der Mensch ist ein Gewöhnungstier. Gegenwärtig gewöhnt er sich daran, in der Enge der Städte Distanz zu halten, seinen Lebenswandel von der analogen Begegnung auf die virtuelle umzustellen, über Cashcard und Wegeverfolgungs-App dem Staat die absolute Kontrolle über sein Tun einzuräumen. Noch – so die offizielle Darstellung – alles auf freiwilliger Basis. Selbstverständlich zeitlich befristet, wie die Politik ständig unterstreicht. Und doch erleben wir gegenwärtig ein Experimentierfeld jener, denen die Individualität von Menschen ein Graus ist. Die betroffenen Menschen akzeptieren es, weil es vorgeblich unverzichtbar ist, um die Gesundheit der Menschheit nicht in unerträglichem Maße zu gefährden. Hat also das kollektivistische Modell bereits gesiegt? Hat China, das bereits dank maßgeblicher Hilfe durch die gewinnmaximierenden Unternehmen an die Spitze des Welthandels vorrücken konnte, seine Überlegenheit unter Beweis gestellt?

Politische Medien des Wohlgefallens

Die Medien haben es sich zur Gewohnheit gemacht, die Zahlen der Infizierten und vorgeblich an Corona Verstorbenen gleich Wasserstandsmeldungen zu veröffentlichen. Sie überschlagen sich förmlich – und wir nehmen in Deutschland dabei vielleicht nicht ungewöhnliche, aber bedeutsame Unterschiede wahr.

– China, so das Narrativ, hat das Virus besiegt. Kaum ein Wort dazu, dass China, in dessen Metropole Wuhan das Virus erstmals festgestellt worden ist, wie jedes System, das über eine gelenkte Presse verfügt, anfangs die sich anbahnende Katastrophe zu verschleiern suchte. Die Älteren mögen sich dabei an den sowjetrussischen Umgang mit der Energieanlage in Tschernobyl erinnert fühlen: Wochenlang schwebte die radioaktive Wolke über Europa und regnete ihre Gefahr über Land und Leute, bevor die Gesundheitsgefährdung überhaupt richtig erkannt wurde. Ähnlich China: Bis heute weiß niemand, wie viele Menschen tatsächlich Opfer des Virus wurden. Dem Beobachter bleibt nur, die offiziellen Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. Ob die offiziellen den tatsächlichen Zahlen entsprechen, bleibt in der Beurteilung des Betrachters. Ähnlich die Berichterstattung über die Ursachen. Angeblich sollen Fledermäuse und Schuppentier das Virus auf den Menschen gebracht haben – eine Folge von für Europäer manchmal schon ekelerregenden Essgewohnheiten und Marktzuständen, die jeden echten Tierfreund und Naturschützer in die Verzweiflung stürzen müssten.

Kein Wort auch darüber, dass angeblich schon vor geraumer Zeit in der betroffenen Provinz Experimente mit der Züchtung von Viren stattgefunden haben sollen. Sind diese Informationen zutreffend oder lediglich eine Verschwörungstheorie, die den Chinesen den Schwarzen Peter zuschieben soll? Träfen sie zu, dann ließen sie nur einen einzigen Schluss zu: Rotchina forschte an Biowaffen – und vertrat dabei offensichtlich eine rassistische Grundposition. Denn Biowaffen machen nur Sinn, wenn sie die eigene Bevölkerung verschonen – was wiederum nur möglich wäre, wenn eine Biowaffe ausschließlich bestimmte „Menschenrassen“ träfe.

Stattdessen staunte die Welt über die Effizienz der Kollektivisten. Wenige Tage, um ein komplettes Krankenhaus zu errichten. Dann der internationale Einsatz der Pekinger Mandarine; Hilfe für jene freiheitlichen Demokratien, die von der Wirkkraft des Virus an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gebracht wurden.

– Russland. Auch hier ist die Welt angewiesen auf die offiziellen Zahlen, die weder überprüfbar noch verifizierbar sind. Die Berichterstattung legt ihren Schwerpunkt auf Russlands internationale Hilfe. Nur zögerlich dann die Feststellung, dass Russlands Hauptstadt ebenso betroffen ist, wie jene Metropolen des „Westens“.

– Türkei. Das islamische Regime eines Erdogan steckt in einem besonderen Dilemma. Wenn alles von Allah kommt, dann auch dieses Virus. Und es steht nicht in der Macht des Menschen, etwas dagegen zu tun. Insofern verhallen des Präsidenten Appelle zum Kontaktverbot weitgehend ungehört. Denn Allah hat das Leben gegeben – und er nimmt es, wenn er es für richtig hält. Stattdessen kursieren in den sozialen Netzwerken Verschwörungstheorien, wonach eben dieser Allah das Virus als Strafe für die Chinesen wegen deren Umgang mit den mohammedanischen Uiguren geschickt hätte. Doch wie viele Menschen im Land der religiös-ideologisch Verblendeten tatsächlich vom Virus betroffen sind – auch darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Ohnehin: Wie soll Erdogan bei seinen Kriegszügen in Syrien, wie bei seiner Durchschleusung von illegalen Einwanderern Richtung EU überhaupt eine Chance haben, einer solchen Bedrohung Herr zu werden? Wer soll prüfen, ob ein gebrechlicher Anatolier nun an einer der alterstypischen Symptome verstorben ist – oder Corona hatte?

Tatsache bleibt: Die scheinbar zumindest in Russland und China effektiven Systeme mögen tatsächlich – in China mehr, in Russland weniger – über Instrumente verfügen, mittels radikaler Quarantänemaßnahmen die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Die tatsächlichen Opferzahlen bleiben jedoch unbekannt. Daraus kann man diesen Systemen nicht einmal einen Vorwurf machen. Denn wenn die Zahlen stimmen, wonach Corona vor allem für vorerkrankte und gebrechliche Menschen zur tödlichen Gefahr werden kann – welchen Wert hat dann die Behauptung, jemand sei an Corona verstorben? Aktuelle Zahlen des Robert-Koch-Instituts weisen bei knapp 872 Corona-Toten 103 der Altersgruppe über 90 Jahre, 447 der Altersgruppe 80 bis 89, 200 der Altersgruppe 70 bis 79 und 72 der Altersgruppe 60 bis 69 zu. Die unter 60-Jährigen sind kaum betroffen. Ihr Immunsystem kommt mit dem Virus klar: Nur 48 Infizierte dieser Altersgruppe starben bislang. Das entspricht einem Prozentsatz von 5,5 – Corona ist maßgeblich für ältere Menschen eine Gefahr, deren Körper durch das Alter geschwächt ist.

Die Frage nach der Effizienz

Das wiederum gestattet eine Frage, die ebenfalls kaum gestellt wird: Welchen Sinn macht der bewusst herbeigeführte Zusammenbruch eines funktionierenden Wirtschaftssystems, wenn die arbeitsfähige Bevölkerung durch das Virus nicht maßgeblich bedroht ist? Die eigentliche Gefahr liegt nicht darin, dass breite Bevölkerungsteile infiziert werden, sondern dass diese Infizierten ungewollt Personen jener Gruppe infizieren, deren Lebenssituation das Virus für sie zu einer besonderen Bedrohung werden lässt. Anstelle der staatlich verordneten Massenpanik wäre es insofern geboten gewesen, besondere Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln für die gefährdete Gruppe durchzusetzen, statt ein Volk in Gänze unter Quarantäne und die Wirtschaftsabläufe auf Null zu stellen.

Alarmstufe Rot
Wie zur Wiedererringung der Freiheit nach Corona?
Die Gegner einer solchen, gezielt wirkenden Politik verweisen darauf, dass die Verbreitung dann schneller erfolgt wäre – und damit die politisch ausgedünnten Kapazitäten der Krankenstationen überfordert hätten. Beispielhaft wird auf Italien und Spanien verwiesen, deren Überforderung offenkundig ist. Ob diese Überforderung jedoch eine Folge der dann doch zu lange andauernden Ignoranz gegenüber der Gefahr darstellt – so, wie auch das Land NRW erst die kollektiven Kuscheltage des Karnevals zu lange zuließ und Österreich der Virus-Weitergabe beim Skizirkus nicht früh genug Einhalt gebot – oder auch bei frühen und gezielten Vorsorgemaßnahmen für Alte und Gebrechliche in der festzustellenden Form zustande gekommen wäre, wird sich im Nachhinein nicht beantworten lassen.

Dabei wäre vor allem die Beantwortung solcher Fragen diskussionswürdig. Die stattdessen gewählte Vernichtung der Wirtschaftskraft bei gleichzeitigen, massiven Eingriffen in die Freiheitsrechte lässt dann durchaus den Verdacht aufkommen, dass hier eine unfähige, politische Kaste selbst in kollektive Panik geraten ist und ein aufkommendes Buschfeuer mit dem Flammenwerfer zu verhindern sucht.

Die versteckte Systemkritik der Medien

Statt aber solche Fragen zu stellen, konzentriert sich die öffentliche Debatte neben besagten Wasserstandsmeldungen auf die versteckte Systemkritik. Fast wie das Einbringen von Trophäen wirkt der ständige Blick auf die USA und dessen Präsidenten Donald Trump. Gewiss – auch dem Greis im Weißen Haus schien die Bedrohungslage lange Zeit nicht bewusst. Zu lange zögerte auch er, die spezielle Problematik der Alten und Gebrechlichen in den Vordergrund des Umgangs mit Corona zu stellen, tat die Gefahr auch öffentlich ab und darf sich insofern – gleich seinen Kollegen andernorts in der sogenannten Freien Welt – den Vorwurf gefallen lassen, mit seiner Fehleinschätzung die Verbreitung des Virus und den Zusammenbruch der Wirtschaft maßgeblich mit befördert zu haben. Doch die mediale Berichterstattung gleicht zumindest in Deutschland fast schon einem Triumphgeheul: Nun hat es den ungeliebten „Rechten“ in Washington voll getroffen! Da passt es dann perfekt, auch den Brasilianer Bolzonaro als unbelehrbaren Rechten abzukanzeln – wobei diesem durchaus mangelndes Mitgefühl für die Alten und Schwachen unterstellt werden darf, wenn er sich putinesk in die Brust wirft und seine eigene Gesundheit als Corona-Abwehrinstrument preist.

Auch in Europa macht der Kampf um die linke Deutungshoheit nicht halt. Der ebenfalls als „Rechter“ geschmähte Ungar Orban wird auf die Strafbank gesetzt, weil er sich nun durch sein demokratisch gewähltes Parlament Durchgriffsrechte hat zusprechen lassen, die die Kritiker als Einstieg in die Diktatur betrachten. Mag man sich darüber streiten, ob dieser Parlamentsbeschluss einem gewählten Präsidenten zu viele Rechte in einer Krisensituation einräumt – die Tatsache allerdings, dass das gepriesene China erst mit sehr viel mehr Durchgriffsrechten in der Lage gewesen ist, der Epidemie scheinbar oder tatsächlich Herr zu werden, wird ausgeblendet.

In den Köpfen der Kampf der Systeme

So ist der „Kampf“ gegen die Pandemie längst schon ein Kampf nicht nur um Deutungshoheiten, sondern um Systeme. Die von den ungeliebten „rechten“ Politikern beschrittenen Wege dienen als Beweis der Unfähigkeit freiheitlich-marktwirtschaftlicher Gesellschaftsmodelle. Die von „linken“ Politikern eingeschlagenen hingegen als Beleg der Effizienz.

Unsinnig ist das eine wie das andere nicht zuletzt deshalb, weil eine Situation wie die gegenwärtige alle kalt erwischt hat. Die letzte Pandemie, die in der Konsequenz noch verheerendere Folgen hatte, war die sogenannte Spanische Grippe der frühen Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie raffte zwischen 1918 und 1920 nach neueren Schätzungen knapp 50 Millionen Menschen dahin. Das entspricht bei einer damaligen Weltbevölkerung von rund 1,8 Milliarden fast drei Prozent. Anders als Corona traf sie jedoch vorrangig die Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen, was auch damit zusammenhängen mag, dass diese Gruppe nicht durch ein Influenza-Virus, das 1889/90 die Menschheit heimgesucht hatte, vorimmunisiert war. Tatsache bleibt auch, dass in der Nachkriegszeit viele Menschen ohnehin geschwächt waren – und insbesondere die britische Hungerblockade gegen Deutschland im Reich nun besonders viele Opfer forderte.

Viren-Pandemien gehören zur Menschheit

Jenseits jeglicher Verschwörungstheorien darf insofern festgestellt werden, dass Viren-Pandemien zur menschlichen Existenz gehören. Festgestellt werden darf auch, dass offensichtlich deren erfolgreiche Eindämmung nur scheinbar eine Frage des politischen Systems ist und jene, die hier in die Wertung zu gehen suchen, ihr eigenes, politisches Süppchen kochen. Eine solche Bewertung ließe sich, wenn überhaupt, nur in der Rückschau treffen – unter der Maßgabe, dass die Systeme tatsächlich unterschiedlich mit der Gefahr umgegangen wären. Ob sie dieses tatsächlich tun, darf mit Blick auf die aktuelle Situation durchaus bezweifelt werden.
Wenn es um einen Systemvergleich geht, wird am Ende vermutlich die Frage entscheiden, welches als erstes effektive Mittel gegen das Virus entwickeln konnte. Und welches in der Lage war, den durch die Panik angerichteten, wirtschaftlichen Schaden am besten zu überstehen. Hier allerdings ist die Globalisierung längst so weit, dass ohne ein funktionierendes China in Europa nichts läuft – und umgekehrt. Das gilt weltweit.

Die Durchseuchung ist unvermeidbar

Eine andere Frage allerdings bleibt gegenwärtig gänzlich unabhängig von Systemen unbeantwortet im Raum: Wenn die Spanische Grippe die mittelalte Bevölkerungsgruppe am stärksten traf, weil sie nicht vorimmunisiert war, und dabei gleichzeitig die jüngeren in der Lage waren, gegen das Virus eine körpereigene Immunität zu entwickeln – wäre dann nicht auch die Frage medizinisch zu diskutieren, ob der angestrebte, medizinische Rundumschutz gegen Viren möglicherweise sogar ein Irrweg ist? Oder ist diese Frage längst beantwortet, wenn Mediziner davon sprechen, dass ein Durchseuchungsgrad von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung der einzig sichere Schutz gegen den Fortgang der Pandemie ist? Denn dann ginge es der Politik tatsächlich überhaupt nicht darum, die Menschen und damit die Alten und Gebrechlichen vor dem Virus zu schützen. Dann ginge es lediglich darum, die Zeitschiene der Durchseuchung möglichst in die Länge zu ziehen, um die Mängel der Krankenhaussysteme nicht zu offen deutlich werden zu lassen. Oder darauf zu hoffen, dass möglichst schnell ein Antidot gefunden wird, mit dem die Erdbevölkerung von knapp acht Milliarden Menschen innerhalb weniger Wochen durchgeimpft werden könnte.

Wer die Wahrheit sehen will, sieht sie
In Krisen wie diesen fallen die Masken
Ob eine solche Perspektive es allerdings rechtfertigte, weltweit die Volkswirtschaften auf Null zu stellen, wäre dann eine Frage, die dringend der politischen Debatte bedürfte. Die Sensibilisierung der Bevölkerung zu mehr Hygiene und Abstand ist – zumindest in den dafür empfänglichen Kreisen – längst erreicht. Sie im Bewusstsein der französischen Banlieues zu verankern, hat Macron längst aufgegeben. Wie die Situation in den deutschen Gegengesellschaften ist, wird medial nicht betrachtet.

Wolfgang Herles sprach in diesem Zusammenhang von der absoluten Unsinnigkeit des österlichen Ausflugsverbots in der Familie. Tatächlich wirken die Maßnahmen spätestens dann absurd, wenn selbst Freiluftzoos ihre Tore geschlossen halten müssen, wo doch dort kein Problem bestehen dürfte, die geforderten zwei Meter Mindestabstand einzuhalten.

Statt sich, wie die Frau Bundeskanzler, weiter wirkmächtig aus selbstgewählter Quarantäne salbungsvoll zu Wort zu melden, um die Verlängerung des Ausnahmezustandes über Ostern hinaus anzudrohen, hätte eine verantwortungsvolle Politik längst Wege finden müssen und können, den Schutz der in besonderem Maße Gefährdeten ohne den Totalzusammenbruch des Wirtschaftssystems zu gewährleisten. Aber vielleicht – was wir selbstverständlich niemandem unterstellen wollen – kommt die Pandemie manchen auch gerade recht, um nun endlich das alte System sturmreif zu schießen.

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