Man mag über Donald Trump denken, was man will – in Sachen Nahost war er der erste Präsident der Vereinigten Staaten, der sich von lang gehegten Illusionen verabschiedete und ein neues Kapitel aufschlug. Ein Kapitel, das sein Nachfolger im Präsidentenamt dann, wenn es nach dem linken Flügel der aktuell die Mehrheit im US-Kongress stellenden Demokraten geht, am besten umgehend zuschlagen und fest verkleben sollte. Ein Kapitel aber auch, von dem Joe Biden wissen muss, dass es nicht mehr zuzuschlagen sein wird, soll nicht die gesamte US-Politik im Nahen Osten scheitern.
Und so rettet sich der ehemalige Vizepräsident Barack Obamas in jene klassische Unlogik, die einerseits die in den USA wichtige Lobby der Juden ebenso ruhig halten wie sie andererseits die Beziehungen zu den arabischen Verbündeten nicht über Gebühr belasten soll. Dabei – das hatte Trump bewiesen – können die Araber sowohl mit einer konsequenten US-Politik leben als auch mit Israel kooperieren.
Genau diese Erkenntnis aber ist die eigentliche Ursache des jüngsten Konflikts, der passgenau in eine Situation stieß, in der Benjamin Netanjahu kurz davor stand, sein Ministerpräsidentenamt zu verlieren, und die sich anschickte, die Beziehungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn auf neue Grundlagen zu stellen.
Wir haben uns daran gewöhnt, den sogenannten Nahost-Konflikt, aus dem im medialen Framing zunehmend ein Palästina-Konflikt werden soll, holzschnittartig zu betrachten. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die aus Terrororganisationen erwachsenen, vorgeblichen Repräsentanten sogenannter „Palästinenser“ in der bundesdeutschen Politik deutlich vor dem demokratischen Staat Israel rangieren.
Auf den ersten Blick scheint eine solche Betrachtung nicht einmal falsch. Denn der Staat Israel ist wie kein zweiter in der Region das Produkt westeuropäischer Politik- und Gesellschaftsphilosophie. Er verkörpert das, was die europäischen Nationen zu einer Zeit ihrer weltweiten, kulturellen Überlegenheit als fortschrittlich und zukunftsfähig auswies, auch dann, wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestrebungen die Oberhand gewannen, die genau diese Fortschritts- und Zukunftsfähigkeit ideologisch infrage stellten.
Der Konflikt um Israel oder – wenn man so will – um die „Palästinenser“ ist insofern nur scheinbar ein regionaler Konflikt, der sich auf einen vergleichsweise kleinen Landstrich am Ostufer des Mittelmeeres beschränkt. Tatsächlich ist es ein Konflikt, der nicht nur den bislang nicht entschiedenen Kampf zwischen dem Diktat der menschlichen Vernunft und dem Diktat der menschlichen Unvernunft ausficht, sondern der in seinem eigentlichen Kern eben auch die Auseinandersetzung zwischen Illusion und Pragmatismus innerhalb des europäischen Kulturkreises kennzeichnet. Gleichzeitig und parallel dazu ist er aber auch Spiegel des nicht gelösten Konflikts innerhalb der islamischen Welt – des Konflikts um die Frage, ob die Zukunft der Völker rückwärtsgewandt unter dem Diktat einer fiktiven Gottesillusion stehen oder vorwärtsgewandt einem modernen und aufgeschlossenen Menschheitsverständnis folgen soll.
Um zu verstehen, wie der Nahostkonflikt in diese übergeordnete Situation eingebettet und Gradmesser einer nicht auf das östliche Mittelmeer beschränkten Auseinandersetzung ist, müssen wir den Blick zurückwerfen. Wir müssen darauf schauen, wie der aktuelle Konflikt entstand, was seine eigentlichen und tieferen Ursachen sind und wie er im Rahmen der Entwicklungen der vergangenen 150 Jahre zu verstehen ist.
Teil 1 – Die Ursprünge eines jüdischen Nationalstaats
Überlegungen europäischer Juden, das biblische Palästina 1.800 Jahre nach der Vertreibung der jüdischen Bewohner durch die Römer im Jahr 136 n. Chr. infolge der Bar-Kochba-Aufstände sowie der Christianisierung der Region durch das Römisch-Byzantinische Reich und die Zwangsislamisierung durch arabische Imperialisten wieder zur eigentlichen Heimat der Juden zu machen, kamen parallel zu den europäischen Nationalstaatsüberlegungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Sie wurden zuerst vor allem im russischen Zarenreich entwickelt, in dem ein ausgeprägter Antijudaismus wiederholt zu Pogromen führte.
Gleichzeitig jedoch verstärkte der Erfolg der jüdischen Deutschen und der damit oftmals verbundene Aufstieg ins Großbürgertum den seit dem Hochmittelalter Antijudaismus als diffuse Mischung aus sozialem Neidkomplex und messianischer Judenverteufelung. Offen deklarierte Judenfeindlichkeit in deutschen Intellektuellenstuben und der durch den Staat beförderte Antijudaismus in der Französischen Republik, den für jedermann sichtbar der französische Offizier Alfred Dreyfus in einem Schauprozess wegen des erfundenen Vorwurfs der Spionage für das Deutsche Reich vor allem wegen seiner jüdischen Herkunft über sich ergehen lassen musste, führten bei Herzl zu einem Umdenken.
Geprägt durch die westeuropäische Vorstellung eines Nationalstaats von Völkern in ethnisch-kultureller Einheit übernahm Herzl die Idee des aufgrund der gemeinsamen Identität seiner Menschen geeinten, modernen Staats als Idealvorstellung – ein Staat in jüdischer Selbstverwaltung, der jüdische Menschen vor der Ablehnung und Feindschaft durch nicht-jüdische Mitmenschen schützen sollte.
Die Geburt der jüdischen Nationalstaatsidee
Die durch Herzl popularisierte Idee bezog – ähnlich den Vorläuferbewegungen im Russland des Zaren – ihre Bezeichnung vom obersten Gericht des antiken Staates Judäa, welches als Zion im Tanach, dem Alten Testament der Christen, in der finalen Auseinandersetzung mit dem früheren Verbündeten gegen die Assyrer, Nebukadnezar von Babylon, zugleich als Synonym für die Selbstbestimmung der Judäer steht. Dieses ist durchaus programmatisch zu verstehen, denn es signalisiert die Orientierung an der westeuropäischen Vorstellung eines Staates auf der Grundlage von Recht und Gesetz.
Das zionistische Konzept ist insofern ohne die westeuropäische Aufklärung nicht vorstellbar. Ähnlich der christlichen Prägung der europäischen Nationen steht im Zionismus das Judentum nicht als Religion im Vordergrund, sondern als Grundlage einer gemeinsamen kulturellen und traditionellen Identität. Herzl strebte nach einem Staat, in dem Menschen jüdischer Identität als Nation und Staatsvolk selbst über ihre Belange entscheiden und sich selbst verwalten – dabei selbstverständlich auch, soweit sie dieses wünschten, ohne Bedrängung durch Nichtjuden ungehindert ihre mosaischen Glaubenstraditionen leben konnten.
Auf der Grundlage dieser Vorstellungen eines modernen Nationalstaats begann die anfangs eher zögerliche Migration von jüdischen Menschen an das Ostufer des Mittelmeeres. Jüdische Migranten und Organisationen kauften in der bis 1918 osmanischen Provinz von den ortsansässigen Arabern Land und begannen mit dem Aufbau von nicht selten an kommunistischen Vorstellungen orientierten Kommunen. So gelten heute die Gründung der Siedlungen Petach Tikwa und Rischon LeZion bei der historischen Stadt Jaffa in den Jahren 1878 und 1882 als eigentlicher Start der Siedlungsbewegung.
Ein Judenstaat auf türkischem Territorium
Um 1900, als in Europa die Idee eines unabhängigen, zionistischen Nationalstaats gedanklich Form annahm, waren die Regionen am Ostufer des Mittelmeeres Teil des Osmanischen Reichs. Hierbei nahm das Vilayet Beirut als Provinz den größten Teil ein und war verwaltungstechnisch in sechs Sandschaks („Banner“) organisiert. Zum Gebiet des späteren Israel gehörten als Teil des Vilayets Beirut das Sandschak Akko, von der Mittelmeerküste um Haifa bis an das Westufer des Sees Genezareth (Kinneret) reichend; und das Sandschak Balqa, das in etwa die im Alten Testament erwähnte, assyrische Provinz Israel um die Jesreel-Ebene umfasste und dessen namensgebende Region am Ostufer des Jordan heute zu Jordanien gehört.
Südlich davon gelegen war das unabhängige Sandschak Jerusalem. Die nunmehr sehr konkrete Forderung, in diesen Sandschaks das von Herzl noch „Judenstaat“ genannte Projekt als „öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zu schaffen, wurde erstmals anlässlich des Ersten Zionistenkongresses am 29. August 1897 in Basel erhoben. Sie war seitdem Kernziel der ebenfalls anlässlich des Kongresses gegründeten, zivilgesellschaftlichen „Zionistischen Weltorganisation“.
Zionismus und die sozialistische Bewegung
Die bis heute bestehende Abneigung der internationalistisch ausgerichteten, kommunistischen Arbeiterbewegung gegen einen israelischen Staat nahm bereits unmittelbar nach dem Baseler Kongress deutliche Formen an. Den Marxisten, die in ihrer utopistischen Ideologie die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse durch die Diktatur des Proletariats anstrebten, galt der zionistische Weg als bewusste Selbstausgrenzung aus ihrem Projekt einer proletarischen Weltgesellschaft, in welcher – so das marxistische Dogma – notwendig auch keine Diskriminierung jüdischer Werktätiger mehr erfolgen könne.
Diese sich an sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen orientierende Richtung innerhalb der zionistischen Bewegung bot gleichzeitig den Anlass, dass sich führende Sozialdemokraten jener Zeit sehr bewusst zu ihr bekannten. Die Vorstellung eines sozialistischen Judenstaats in der früheren römischen Provinz Palästina wurde anlässlich der 1907 in Stuttgart tagenden „Internationale“ durchaus begrüßt. Sozialdemokraten um den Vordenker Ernst Bloch betrachteten den Zionismus als „sozialistische Kolonialpolitik“, die im Sinne der überlegenen „Kulturmenschheit“ den unterentwickelten Bewohnern der immer noch osmanischen Region Fortschritt und Wohlstand bringen könnte – eine Position, die einem Sozialdemokraten heute umgehend das Parteiausschlussverfahren bescheren müsste.
Bezeichnend ist, dass weder bei der Ablehnung des Zionismus durch die Marxisten noch bei der Zustimmung durch die Sozialdemokraten die Möglichkeit eines durch die zionistische Besiedlung aufkeimenden, religiösen Unfriedens auch nur ansatzweise eine Rolle spielte. Als klassische Ideologen europäischer Prägung fanden religiöse Motive und Befindlichkeiten in ihren Vorstellungen schlicht nicht statt. Hier lagen die Systemüberwinder der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert uneingeschränkt auf der Linie des damaligen Mainstreams: Kolonialismus galt Marxisten und Sozialisten als zivilisatorisches Projekt, um die in ihren archaischen Stammestraditionen verharrenden Völker Afrikas, Asiens und Ozeaniens den Anschluss an die Moderne finden zu lassen. Religion war das überwundene Relikt aus der Zeit vor der Aufklärung, welchem, wenn überhaupt, nur Reaktionäre und Bürgertum frönten. Beim angestrebten sozialistischen Zivilisierungsprozess dessen, was später „Dritte Welt“ genannt werden sollte, wurde Religion als kulturprägendes Element schlicht ausgeblendet.
Lesen Sie demnächst im zweiten Teil, wie es durch Besiedlung, Weltpolitik und Menschheitsverbrechen zur Gründung des Staates Israel gekommen ist.