Tomas Spahn: Herr Heinsohn, Sie sind einer jener Beteiligten, die das Bundesministerium des Inneren in seiner Abwehrschlacht gegen die kritische Analyse zum Regierungsumgang mit Corona sozusagen als Lieferanten einer Verschwörungstheorie ausgemacht hat. Wie war ihr Kontakt zu Stephan Kohn?
Gunnar Heinsohn: Wir kennen uns schon länger, da er mich gelegentlich hinsichtlich der künftigen Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik konsultiert hat. Im konkreten Fall ging es mehr um eine generelle Abschätzung der Folgen, die aus der Corona-Krise erwachsen. Wir diskutierten über Kollateralschäden und längerfristige Entwicklungen – und ja, ich habe ihn ermutigt, seine Analyseergebnisse auf den Dienstweg zu bringen.
Nun wird Kohn gegenwärtig mit massiver Unterstützung durch seinen Dienstherrn in der Öffentlichkeit als – formulieren wir es freundlich – Querulant hingestellt. Böse formuliert, könnten wir auch von einem Halbirren sprechen. Entspricht das Ihrer Erfahrung?
Lassen sie mich das etwas anders beantworten. Mich rief kürzlich eine junge Reporterin an, die in diesem Gespräch darauf pochte, Kohn mit dem Begriff einer schillernden Persönlichkeit zu charakterisieren. Einer der Gründe war dessen Versuch, als Vorsitzender der SPD zu kandidieren. Ich konnte insofern nicht widersprechen, weil es in der Geschichte immer diejenigen waren, die von ihrem Umfeld als schillernde Persönlichkeiten wahrgenommen wurden, die den Mut aufbrachten, Ungewöhnliches zu wagen. Es gibt heute wenig Einsicht darin, was einen „Helden“ und seine auch unerwarteten oder ungeliebten Seiten ausmacht. Ich habe mich als Leiter des Völkermordforschungsinstituts an der Universität mit der Forschung über Retter von Genozidopfern beschäftigt – vor allem Beschützer von Armeniern nach 1915 und von Juden 1939 bis 1945. Dabei geht es sehr oft um Persönlichkeiten, die selber abseitsstehen. Sie werden auch vom Umfeld so empfunden und entsprechend als Querköpfe diskriminiert. Sie zeigen aber auch eine lebensfrohe Unbekümmertheit, ohne die man solche Gefahren gar nicht auf sich nehmen kann
Kohn also ein Held?
Naja – ich würde ihn da nicht ganz oben sehen, aber auf dem Weg dorthin. In jedem Fall ist er einer, der in einer extremen Situation aus der Masse der Duckmäuser herausbricht. Er verbindet Nachdenklichkeit mit einer gewissen Fröhlichkeit. Und er versteht, dass er sich in Schwierigkeiten bringt. Er hat sich in der aktuellen Ausnahmesituation lediglich die Frage gestellt: Wohin wird das führen, was gegenwärtig durch die staatlichen Stellen unternommen wird. Um das zu verstehen, hat er persönlich intensiv recherchiert und das Gutachten alleine geschrieben. Er hat lediglich zu Einzelfragen bei Außenstehenden nach Einwänden oder Zustimmung gesucht. Er hat das übrigens ganz offiziell auf dem Dienstweg gemacht. Diese Kontakte sind also im Informationsnetz des BMI dokumentiert. Er hat insofern genau das getan, was seine Arbeitsplatzbeschreibung ihm gebietet. Kohn deswegen zu kritisieren, weil sein Handeln nicht immer dem Durchschnittstyp entspricht, verrät sehr viel Unschuld. Man mag sich einen Lammfromm-Bescheidenen für das Ausnahmerisiko wünschen. In der Realität gibt es so etwas nicht.
Damit sind wir bei der Corona-Krise. Das Papier Kohns zeichnet sich vorrangig dadurch aus, mögliche Konsequenzen des aktuellen Vorgehens zu beschreiben. Zieht er die falschen Schlüsse?
Manches hätte schärfer gezeichnet werden können. Wenn unerwartete Todesfälle auftauchen, will man doch wissen, was da passiert ist. Man untersucht also die Leichen. Später kann man dann beispielsweise Zigarettenliebhaber mit Fotos einer Raucherlunge davor warnen, sich in Todesgefahr zu begeben. Der größte anzunehmende Unfall (GAU) in der Coronakrise ist für mich deshalb die Ablehnung von Obduktionen durch das RKI. Das Virus, dessen Auswirkungen man gern kennen würde, sei so gefährlich, dass man seine Auswirkungen nicht erforschen könne – kafkaesk. Dr. Klaus Püschel, der dann – auch so ein Schillernder – ohne Billigung des RKI rund 100 Obduktionen vorgenommen hat, gibt am 28. April Entwarnung: „Angst ist überflüssig“. Nicht einer der 100 war ausschließlich an Corona verstorben.
Bis heute zählen wir Tote, von denen wir im Normalfall nicht wissen, ob tatsächlich Covid-19 die eigentliche Todesursache gewesen ist. In Deutschland versterben jährlich knapp 12.000 Menschen pro eine Million Einwohner. 94 Coronatote werden momentan auf eine Million Einwohner gezählt. Nehmen wir 100 und seien wir radikaler als Püschel. Lassen wir also nicht 0, sondern 1 Prozent dieser Corona-Infizierten ausschließlich an Corona sterben. Dann gibt es in bisher drei Monaten einen und übers ganze Jahr vier exklusiv-Coronatote auf eine Million Bürger. Wenn man diese Vier mit den normalen 12.000 vergleicht, ist Kohns Diagnose eines Fehlalarms nicht abwegig.
Statt nun den Lockdown neu zu überdenken, zeigt man der Öffentlichkeit immer wieder Horrorbilder von Leichenbergen, die beispielsweise in Bergamo mit Militärlastern abgeholt wurden.
Dieses Faktum ist doch nicht zu bestreiten. Oder doch? Waren das Fake-Fotos?
Nein, natürlich nicht. Nur muss man diese Bilder richtig einordnen können, um zu verstehen, was dahintersteckt.
Und wie habe ich das zu verstehen?
Machen wir ein Beispiel. Sie haben in einer umgrenzten Region pro Jahr 100 Achtzigjährige mit einer Atemwegserkrankung. 50 bleiben daheim, 10 von diesen sterben. 50 von ihnen gehen ins Krankenhaus, wo ebenfalls 10 sterben. Die Bestattungsunternehmen sind auf diese 20 Beerdigungen vorbereitet. In der Corona-Panik gehen nun alle 100 ins Krankenhaus. Die Mediziner sollen die Betten aber für einen bloß vermuteten Ansturm junger Corona-Kranker freihalten. Sie müssen deshalb auswählen. Das nennt man Triage. Die 100 bekommen, wie es etwas harmlos heißt, Beruhigungsmittel und dann eine Sterbebegleitung, werden also palliativ ins Jenseits befördert. Plötzlich 100 statt bisher 20 Tote können die Bestatter nicht bewältigen. Man muss das Militär zu Hilfe rufen.
Keine schöne Vorstellung, die doch eher dafür spricht, dass der Lockdown richtig war.
Das will so scheinen. In Wirklichkeit aber meiden jetzt auch andere Kranke die Hospitäler, weil sie eine Sterbebegleitung fürchten. Das tun sie auch außerhalb Italiens oder Frankreichs, weil sich nun niemand mehr sicher fühlt. In Deutschland habe ich von Triage bisher nichts gehört. Aber Krankenhäuser werden gemieden und Nichtbehandelte sterben, obwohl der gefürchtete Andrang von Corona-Befallenen ausbleibt und Betten frei wären. Das ist einer der Kollateralschäden, die Stephan Kohn beunruhigt haben.
Blicken wir einmal in die Zukunft. Kann ein Land wie Deutschland nicht den ökonomischen Zusammenbruch schnell wieder aufholen?
So wird gehofft, aber Faktoren für das Eintreten dieser Hoffnung werden nicht genannt. Wir sind bereits mit einem ökonomischen Handicap in die Corona-Krise hineingegangen und haben mit dem Lockdown nun ein zweites.
Das müssen Sie bitte genauer erläutern.
Das eigentliche Problem liegt im Niedergang des Alten Westens in Bildung, Wirtschaft und Forschung. Die europäische Zivilisation – dazu zähle ich auch Nordamerika und Australien – befindet sich in einem Abwehrkampf gegen die ostasiatische Konkurrenz.
Das klingt nun aber doch nach Verschwörungstheorie. Woran soll denn dieser Abwehrkampf festgemacht werden?
Nehmen wir die international besonders streng ausgewählten Erfindungen, die sogenannten PCT-Patente. Auf sie muss man schauen, um zu sehen, mit welchen Potentialen sich Nationen aus Krisen, die ja alle treffen, wieder herausarbeiten. Nach der Finanzkrise von 2008 ziehen die rund 1,8 Milliarden Ostasiaten – Chinesen, Japaner, Koreaner und Vietnamesen – stetig nach oben, während die Europäiden bestenfalls stagnieren. Erreichen Ostasiaten 1999 erst elf Prozent der PCT-Patente, so sind es 2019 mehr als 52 Prozent.
Wird der europäische Kompetenzverlust nicht gestoppt, werden Europas Beste zweitrangig und die Schwächeren drittrangig.
Stoppen aber können ihn nur die Nachwachsenden. Schauen wir dafür auf die Zehnjährigen von 2015, die bei TIMSS mitgemacht haben [Trends in International Mathematics and Science Study]. Sie treten ab 2025 ins Berufsleben ein, gründen Firmen, melden Patente an und übernehmen politische Verantwortung. Ostasiaten haben 300 bis 500 Mathe-Asse unter 1.000 Kindern. Bei den Anglonationen sind es 60 in Kanada bis 170 in England. Deutschland liegt mit 53 zwar deutlich vor den 25 in Frankreich, aber schafft selbst gegenüber den schwächsten Ostasiaten nur ein Sechstel. Die Türkei ist mit 47 Rechenkünstlern auf 1.000 Kinder Deutschland auf den Fersen. Italien mit 42 und Spanien mit 34 hat sie bereits souverän überholt.
Verstärkt wird dieser Niedergang dadurch, dass beispielsweise in Deutschland von jährlich rund 200.000 Auswanderern die 50.000 Besten nicht zurückkommen. Das sind mehr als alle Mathe-Asse im Testjahrgang von 2015. Sie werden ersetzt durch Personen aus Ländern, die bei TIMSS gar nicht erst antreten.
Und im Umgang mit Corona sehen Sie nun eine Verstärkung der Entwicklung?
Anders als die Europäer haben die Ostasiaten ihre Wirtschaft zu keinem Zeitpunkt wirklich heruntergefahren. Sie gehen also mit einem doppelten Startvorteil aus der Krise. Sie steigern ihren kognitiven Vorsprung und optimieren in unserer Lockdown-Zeit ihre Betriebe.
Ist das nicht doch Schwarzmalerei? So ist beispielsweise Deutschland doch in Umwelttechnologien führend.
Die Solarindustrie ist längst in China. Auch die Hoffnung, sozusagen auf partnerschaftlicher Ebene mit den Chinesen in die Zukunft gehen zu können, bleibt wahrscheinlich eine leere Hoffnung. Nirgendwo kooperieren kognitiv Überlegene mit Leuten, deren Kompetenz abnimmt. Auf Geldtransfers durch chinesische Touristen darf man sich einstellen, obwohl gerade der Fremdenverkehr jetzt viel Substanz einbüßt.
Angenommen, das wäre so. Besteht also keine Hoffnung, die ökonomische Übermacht der Chinesen irgendwie in den Griff zu bekommen? Donald Trump scheint doch einen Schwerpunkt seiner Politik genau darauf zu legen.
Betrachten wir es als ein letztes Aufbäumen der europäischen Zivilisation. Aber auch Trump wird weder verlorene Industrien zurückholen, noch ernsthaft an der chinesischen Übermacht an Menschen und Köpfen etwas ändern. China hat nur viermal so viele Menschen wie die USA, aber zehnmal so viel begabten Nachwuchs.
Also hoffnungslos verloren? Keine Chancen?
Wir könnten uns an einer demokratischen Transformation Chinas versuchen. Die zu erreichen, wäre eine herausragende zivilisatorische Leistung.
Da nun wiederum habe ich wenig Hoffnung. Gelingt das also nicht – können die Nationen Europas dann froh sein, in einer Art Reservat zu überleben?
GH: So ungefähr können wir uns das vorstellen. Die EU könnte zu einem Freiluftzoo werden, muss sich aber auch dafür anstrengen. Überdies könnten „Unsichere Zonen“ die Begeisterung von Besuchern im Keim ersticken. Deutschland ist intellektuell ausgeblutet. Es fehlt die geistige Beweglichkeit und damit die Bereitschaft, noch einmal durchzustarten. Ein Blick auf unsere Medien verdeutlicht das Problem. Es gibt da den Begriff der Lügenpresse. Aber der ist falsch. Überwiegend wird keineswegs gelogen. Denn die Lüge braucht Verstand, der sie beizeiten auch wieder abstellt. Gerade die jüngeren Kräfte aber glauben tief, dass es so ist, wie sie es sich vorstellen und verbreiten.
Und was ist mit gelegentlich zu hörenden Überlegungen einer bürgerlichen Revolution?
Hat was Hübsches. Dazu fehlen allerdings die gescheiten jungen Hungrigen, die imstande wären, das Erstarrte zum Tanzen zu bringen. Alte Männer machen keine Revolution. Und das Alter steckt auch schon in den Köpfen der Jungen.
Herr Heinsohn, herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch.