Tichys Einblick
Entschieden unentschieden

Im Krieg ohne im Krieg zu sein – Gipfel-Marathon zur Ukraine

Drei Gipfeltreffen an einem Tag – das ist rekordverdächtig. Nato, EU und G7 trafen sich und steckten den Rahmen ihres weiteren Handelns ab. Nato und EU befinden sich im Krieg, ohne im Krieg zu sein. Und dabei soll es, so hoffen die Verantwortlichen, irgendwie auch bleiben.

Emmanuel Macron und Joe Biden beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Nato-Länder anlässlich des Ukraine-Krieges, Brüssel, 24.03.2022

IMAGO / Future Image

Eines hat Wladimir Putin geschafft: Er hat eine Leiche wiederbelebt – und sie wirkt agiler als je zuvor. Das Nordatlantische Verteidigungsbündnis Nato wurde bereits für tot erklärt – nicht nur vom früheren US-Präsidenten Donald Trump, sondern auch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Nun ist sie wieder da, diese US-Konstruktion, die nach dem Ende des Kampfes gegen die nationalen Sozialisten Deutschlands die Begehrlichkeiten des großrussischen Reichs auf Westeuropa abwehren sollte. Der Nato-Gipfel war der Startschuss des Gipfel-Marathons, und er holte nicht nur den scheidenden Generalsekretär Jens Stoltenberg zurück zur Verlängerung an seine Spitze, sondern auch die USA zurück in die Führung der westlichen Welt.

Beziehungen auf dem Tiefpunkt
Joe Biden warnt vor russischem Chemiewaffeneinsatz und Cyber-Attacken
 Joe Biden, von seinem Vorgänger als „Sleepy Joe“ verlacht, reiste nach Europa, um die amerikanische Führungsrolle zu unterstreichen. Er brachte es auf den Punkt: Nun geschieht genau das, was Putin angeblich hatte um jeden Preis vermeiden wollen. Die Einigkeit zwischen Nordamerika und Westeuropa sei so groß wie lange nicht. Die Nato rückt unter US-Führung massiv an die Grenzen der Russischen Föderation vor. Mindestens 30.000 Nato-Soldaten sollen dauerhaft an der Nato-Ostflanke stationiert werden. Vom Baltikum über Polen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Dort, wo vor 35 Jahren noch die Rote Armee das Sagen hatte. So fällt nun wieder ein Vorhang zwischen Ostsee und Schwarzem Meer – und die Nato rüstet sich zu einem Krieg, den sie eigentlich nicht führen will und in dem sie längst mittendrin ist.
Dauerhafte Einsatzbereitschaft

Die Nato erwartet, dass Russlands Begehrlichkeiten auch gegen die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten militärische Formen annehmen können. So ist nun offiziell die Nato-Russland-Grundakte von 1997 abschließend Vergangenheit. Damals sagte die Nato den Verzicht auf die Stationierung von A-Waffen in den jungen Mitgliedsstaaten zu, verzichtete dort auf die Stationierung von Nato-Truppen, die über 1.000-Mannstärke hinausgehen. Die Grundakte schrieb aber auch fest, dass die Staaten Europas in ihrer Souveränität und territorialen Integrität ebenso gesichert seien, wie sie das Recht auf Selbstbestimmung über ihre eigenen Belange haben sollten. Russland stimmte zu und erklärte damit seinen Verzicht auf „Einflusszonen“ – Putin brach den Vertrag bereits, als er in Georgien einfiel.

Apropos Georgien. Dieses Land am Ostufer des Schwarzen Meeres zwischen Russland und dem Russland-hörigen Armenien wird von Stoltenberg ebenso gezielt erwähnt wie Bosnien-Herzegowina auf dem Balkan. Beide Länder sollen „intensiver unterstützt“ werden in ihrer Souveränität und ihrer Widerstandsfähigkeit. Das klingt nach dem Wedeln mit dem Nato-Knochen. Die neue Front läuft nicht nur von der Ostsee an das Schwarze Meer – sie findet sich auf dem Balkan ebenso wie im Kaukasus. Dort, wo heute schon Nato ist, befindet sie sich ab sofort in dauerhafter Einsatzbereitschaft. Deutschland, dessen Bundeswehr unter christlich-sozialistischer Regierung zu Tode gespart wurde, soll dabei eine tragende Rolle übernehmen, wie Stoltenberg und Bundeskanzler Olaf Scholz betonten. Das lässt vor allem bei Grünen und Roten manch unterhaltsamen Disput erwarten.

Weitere Waffen für Selenskyj

Nicht von Stoltenberg erwähnt wird Moldawien – offen bleibt die Frage, ob dieser prowestliche, an Rumänien grenzende Restbestand des untergegangenen Sowjetreichs gleich der Ukraine dem Zugriff Russlands überlassen wird. Denn ein aktives, militärisches Eingreifen der Nato in der Ukraine schließt Stoltenberg weiterhin aus.

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Gleichwohl: Die von Wolodymyr Selenskyj in einer Zuschaltung an den Gipfel erhobene Forderung, endlich Panzer, Flugzeuge, Drohnen und Abwehrwaffen in ausreichendem Maße zu liefern, wird von Stoltenberg weder abgelehnt noch zugesagt. Der Nato-Generalsekretär begründet dies damit, dass man Russland keine unnötigen Informationen zukommen lassen will. Das ist plausibel, denn je enger es für die Russen in der Ukraine wird, desto größer könnte die Versuchung werden, westliche Waffenlieferungen bereits abzufangen, bevor sie die Ukraine erreicht haben.

Dabei besonders pikant: Es soll auch darüber gesprochen worden sein, ob die Türkei, die die Ukraine mit hochleistungsfähigen Drohnen bestückt hatte, nun ihre von Russland gekauften S-400-Raketen weiterreicht. Der Erwerb war der Nato seit Anbeginn ein Dorn im Auge, der das Verhältnis Erdogans zu seinen Verbündeten erheblich belastet hatte. Darauf beim Gipfel von Journalisten angesprochen, hüllt sich der Türke in beredtes Schweigen.

Die Roten Linien der Nato

Es wäre nicht ohne Ironie, wenn nun russische Hochleistungsraketen gegen eine russische Armee eingesetzt werden sollten, die ihre Schwäche im Bodenkampf von Tag zu Tag deutlicher zeigt. Doch auch hier steht die Frage im Raum, wie die von der Ukraine angeforderten Systeme künftig ins Land kommen. Die Schwarzmeerküste steht unter russischer Kontrolle – was bleibt, ist der Landweg aus den ukrainischen Nato-Anrainern. Putin hat bereits deutlich gemacht, dass er solche Lieferungen als Kriegshandlung betrachtet. Das kann bedeuten, sie bereits auf Nato-Territorium ausschalten zu wollen.

Ein solches Vorgehen allerdings wäre eine jener berühmten Roten Linien, die die Nato vor dem eigenen, aktiven Eingreifen in den Kriegsschauplatz Ukraine gezogen hat. Eine weitere ist der befürchtete Einsatz von Chemiewaffen durch russische Truppen. Ohne konkret zu benennen, welche Konsequenzen ein russischer Chemieeinsatz würde haben müssen, spricht Stoltenberg davon, dass ein solcher „den Charakter des Krieges vollständig verändern“ wird. Das klingt nicht so, als hielte die Nato in einem solchen Fall immer noch die Füße still. Konkret sagt Stoltenberg nichts – doch dass es auch dann gilt, wenn Russland in der Ukraine zu taktischen Atomwaffen oder zu Biowaffen greifen sollte, liegt auf der Hand. Zwar bleibt der unmittelbare Hinweis aus, doch ergibt es sich aus dem Hinweis darauf, dass die entsprechenden Nato-Maßnahmen der ABC-Abwehr bereits aktiviert wurden und die Ukraine entsprechend ausgerüstet wird. Auch das ein Beleg dafür: Die Nato befindet sich längst im Krieg, ohne sich im Krieg zu befinden.

Scholz wirkt fahrig und unkonzentriert

Weniger spektakulär dann der Auftritt des deutschen Bundeskanzlers am Nachmittag. Olaf Scholz, der zum G7-Gipfel geladen hatte, wirkt unkonzentriert und fahrig. Mehrfach bringt er das Wort „Ukraine“ nicht ohne Stolpern über die Lippen, lobt gleichwohl die absolute Einigkeit der G7. Sie umfassen die sieben bedeutendsten Industrienationen und sind die erweiterte Chefetage der Nato plus Japan.

Autokraten stehen sich nahe
Chinas Eiertanz in Sachen „Ukraine“
Scholz unterstreicht die Einigkeit hinsichtlich der Sanktionen gegen Russland und in der Unterstützung der Ukraine. Er wiederholt den Appell an die Volksrepublik China: Eine aktive Unterstützung Putins hätte „ernsthafte Konsequenzen“. Welche es sind, sagt Scholz nicht. Die erweiterte Nato bemüht sich, Xi nicht in die Enge zu treiben, ihn irgendwie noch als einen Verbündeten auf Kohlenzangendistanz zu gewinnen. Dessen Zwickmühle ist bekannt: Er braucht eine friedliche Welt, um seinen staatsmonopolitischen Handel zu treiben – und er braucht Russland zumindest noch ein wenig, um den USA Paroli zu bieten.

Scholz, dem offenbar der nächtliche Verhandlungsmarathon zu den Kostenentlastungsmaßnahmen der RG2-Koalition in den Rippen hängt, geht auf Putins jüngsten Aufschlag ein. Erdgas müsse künftig von „unfreundlichen Staaten“ wie der Bundesrepublik in Rubel bezahlt werden. Damit will der Leningrader nicht nur seinen Rubel im Absturz abfangen – er möchte seine westlichen Rohstoffabnehmer und Kriegsfinanzierer auch dazu zwingen, die russische Staatsbank als Rubelmaschine anfragen und damit vom Sanktionsbann befreien zu müssen.

Poker um Gas und Öl

Scholz gibt sich gelassen. Die Verträge lauten auf Dollar oder Euro. So stehe es geschrieben – so werde es bezahlt. Die Tatsache, dass Putin regelmäßig jeden Vertrag gebrochen hat, der nicht mehr in seine Vorstellungen passt, wird ausgeblendet. So geht das Poker in die nächste Runde, und Gasexperten wollen ohnehin wissen, dass sich der Brennstoff, der aus der Erde strömt, nicht so ohne Weiteres abstellen lässt. Sind die Tanks voll, muss das Zeug weg, sonst fliegen den Förderern ihre Maschinen um die Ohren. Will Putin tatsächlich den Gashahn zudrehen, weil Scholz weiterhin Euro überweist, könnte der Schaden für seinen Energiesektor nicht minder groß sein als der Deutschlands.

Apropos Gas – die USA erklären sich willens, ihren Flüssiggasexport deutlich zu steigern. Der Pferdefuß: Scholz hatte zwar als Finanzminister dem damaligen US-Präsidenten Trump zugesagt, zwei LNG-Terminals zu bauen, wenn im Gegenzug die USA ihre Bedenken gegen Nord Stream 2 fallen ließen – doch die entsprechende Umsetzung lief auf Sparflamme. Bis das begehrte Flüssiggas über deutsche Häfen den russischen Gasfluss ersetzen kann, können noch bis zu vier Jahre ins Land gehen. Bis dahin ist man auf Rotterdam und Zeebrügge als Umschlagshäfen angewiesen.

Alternative zu SWIFT
Russlands Rohstoffreichtum könnte nun nach Indien fließen
Und doch scheint Putins Überfall nun auch in Sachen Energie zum Eigentor zu werden. Jahrzehntelang hatte er mit massiver Unterstützung auch deutscher Kanzler die Abhängigkeit von russischem Erdgas befördert und damit die notwendigen Devisen generiert, um sein neosowjetisches Wirtschaftssystem irgendwie am Laufen zu halten. Die Erkenntnis, dass man in eine Falle gelockt wurde, kam den Abhängigen spät und erschüttert die deutsche Politik nun bis ins Mark. Damit aber steht unweigerlich fest: Egal, ob und wie lange Russland noch bereit ist, seine Rohstoffe zu liefern und sich in den Fußstapfen Stalins in den Staatsterrorismus zu bewegen – das Ende des Energieimports Richtung Westen ist absehbar.

Und so konnte am Abend der EU-Gipfel zwar keinen unmittelbaren Abschied von Gas und Öl aus Sibirien und Kaspischem Meer verkünden – darin aber, dass eine solche Abhängigkeit nie wieder entstehen dürfe, waren sich die Bürokratoren einig. Ebenso wie darin, dass sie jenes berüchtigte „Alles“ tun werden, um die Ukraine, der selbstverständlich ihre uneingeschränkte Solidarität gilt, in ihrem Überlebenskampf gegen Russland zu unterstützen. Wobei jenes „Alles“ eben nur alles umfasst, das zu leisten man bereit ist, ohne sich selbst zu energisch und energetisch zu schaden.

So gilt nun auch für die EU: Sie befindet sich im Krieg, ohne im Krieg zu sein. Und dabei soll es, so hoffen die Verantwortlichen, irgendwie auch bleiben.

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