Wäre es nicht so unendlich traurig und absurd, müsste man sich den Bauch halten vor lauter Lachen. Doch selbst dann, wenn es so käme, bliebe es einem schnell im Halse stecken. Weil eine solche Dreistheit und Unverfrorenheit, mit der sich ein (Möchtegern-)Spitzenpolitiker dieser Tage seiner Basis präsentiert, jedem halbwegs vernünftig denkenden Menschen schlicht unfassbar erscheinen will. Da ist er nun dank seiner Top-Vernetzung mit den von der Partei bezahlten Merkel-Mitarbeitern in der Berliner Klingelhöferstraße der Erste, der aus dem Knick kommt: Helge Braun hat sich in einem knapp fünf Seiten langen Brief an alle Mitglieder der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands gewandt.
Der Nordhesse will, nachdem er bereits als Erster seinen Hut in den Ring der Mitgliederbefragung zwecks Vorsitzbesetzung geworfen hat, nun offenbar auch im Bewusstsein der zwecks Chefwahl zu Befragenden die Nummer Eins sein. So soll Braun offenbar dem Parteivolk signalisieren: Ich bin der Dynamische, der Beste – der Erste! Nun gut – Tarnung und Verstellung gehören zum politischen Geschäft auch dann, wenn gewolltes Erscheinungsbild und Tatsachen so überhaupt nicht in Einklang miteinander zu bringen sind.
Schonungslos Merkels Totalversagen offenbart
Und doch hat Brauns Aufschlag einen Nutzen – wenn auch nicht für sich und seine Partei. Denn selten zuvor wagte es ein Spitzenpolitiker derart schonungslos, das Totalversagen der Angela Merkel Punkt für Punkt zu beschreiben. Und damit auch sein eigenes. Das einzige Problem dabei: Er merkt nicht einmal, wie er die vergangenen zwei Dekaden Merkel niedermacht.
Auf diesen Appell der Selbstkasteiung folgt eben jene Liste des Merkelschen Versagens – immer hübsch verklausuliert als zu überwindende Mängel oder zu korrigierende Irrtümer. Die Corona-Pandemie sei noch nicht überwunden, Russland begegne dem Westen mit hybrider Kriegsführung, und eine sich ausweitende Inflation drohe den Wert der Ersparnisse der Bürgerinnen und Bürger „aufzufressen“. So lauten die ersten Probleme, denen sich Helge Braun stellen möchte. Weshalb dieses nun doch der Zeitpunkt ist, einiges zur Person des Schreibers dieser Zeilen zu sagen.
Braun als Teil des Systems Merkel
Braun beschreibt sich in dem Brief selbst als „Kanzleramtsminister, der an der Seite von Angela Merkel viel lernen durfte“. 49 Jahre sei er alt, seit 31 Jahren Mitglied der CDU, davon 18 Jahre als Kreisvorsitzender und 14 Jahre als Bezirksvorsitzender in wichtiger Position für die CDU Hessen tätig. Auch habe er als „Notarzt und Arzt im Bereich von Narkose, Notfall- und Intensivmedizin früh beruflich gelernt, mit Krisensituationen professionell umzugehen“. Wikipedia wirft in dem dort publizierten Lebenslauf des 2007 als Doktor der Medizin promovierten Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung lediglich eine bereits 2009 geendete Stelle als Assistenzarzt – sprich: Arzt in Weiterbildung – am Universitätsklinikum Gießen und Marburg aus. Eigenverantwortliches Handeln ist in einer solchen Funktion nicht vorgesehen.
Kurzum: Braun ist wie kaum ein anderer Teil des Systems Merkel. Letztlich seit 2005 – also mit Machtübernahme durch die Frau aus der Uckermark – schwimmt er mit dem Unionstross im Fahrwasser der „herausragenden Persönlichkeit“, als welche der Adlatus seine Vorgesetzte in seinem Schreiben bezeichnet.
Das „Haltet-den-Dieb“-Prinzip
Und ausgerechnet dieser Helge Braun stellt nun fest, dass „die Liste der Versäumnisse“ lang sei? Das klingt nach einem Treppenwitz der Geschichte – nein, mehr noch: Es beschreibt die Hybris einer Kaste, die der Welt des Normalen entrückt ist und entweder einen jeden, der sich außerhalb dieser Kaste bewegt, für einen Volltrottel hält – oder aber einer permanenten Selbstanästhesie unterliegt, die die Wahrnehmung des Tatsächlichen jedweder bewussten Regung entrückt.
Die „Corona-Pandemie“ noch nicht überwunden, jammert nun ausgerechnet jener, der im Auftrag Merkels erst das Volk verunsicherte, um ihm dann Balsam um die Lippen zu schmieren. Wer, wenn nicht Merkel und mit Merkel eben jener Braun waren es denn, die den Daumen auf allem hatten, das mit Corona zu tun hat? Wer richtete denn ein verfassungsrechtlich nicht vorgesehenes sogenanntes „Corona-Kabinett“ ein, in dem Kanzler und Ministerpräsidenten an allen Parlamenten vorbei die Aussetzung der Grundrechte beschlossen? Russland hybrider Krieg? Ja, Russland führt ihn – und nicht nur Russland. Aber wer trug denn seit 2005 die Verantwortung für die Verteidigung des Landes?
Nicht ich – andere sind es gewesen
Auch auf dem Rest der fünf Seiten: Für alles, was er dort beklagt, steht er selbst mit in der Verantwortung. Als willenloser Bundestagsabgeordneter und als willenloser Adlatus von Merkel.
- Die CDU habe „in den letzten Jahren“ zu wenig diskutiert und nicht klar genug Position bezogen. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
- Die CDU müsse eine Zukunftsagenda erstellen. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
- Es gebe in der CDU „divergierende“, also unterschiedliche und miteinander nicht kompatible Positionen. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
- Die CDU müsse kampagnenfähig werden. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
- Die Leistungsfähigkeit der Parteizentrale müsse verbessert werden. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
- Die CDU müsse wieder näher an ihre Mitglieder rücken, besser mit der Basis kommunizieren. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
- Die Mitglieder müssten direkte Mitsprache an der inhaltlichen Arbeit der Partei erhalten. Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende, von 2005 bis 2021 Bundeskanzler – Braun seit 2007 Führungsmitglied der CDU und seit 2013 enger Mitarbeiter Merkels.
Es sind dieses nur ein paar Punkte jener, bei denen Braun heute so tut, als habe er mit deren Zustandekommen nicht das Geringste zu tun. Das ist nicht nur dreist – das ist unverschämt.
Das eigene Versagen wegreden
Nicht minder unverschämt gegenüber jenen, denen bislang stillschweigend und zustimmend gefolgt wurde, sind auch Aussagen wie diese: „Unser Erfolg bei Wahlen hängt immer mehr von überzeugenden Kandidaten ab.“ Also: Laschet war ein solcher nicht. Nur: Wer hat diesen Nicht-Überzeugenden denn zum Kandidaten gemacht, wenn nicht das Kanzleramt und dessen Parteigefolgschaft, die unter anderem in Hessen zu verorten ist?
Oder diese Aussage: „Die CDU muss in die Lage kommen, neue Entwicklungen in allen Bereichen früher als andere zu erkennen.“ Wer, wenn nicht das Kanzleramt, hätte denn dazu in der Vergangenheit die allerbesten Voraussetzungen gehabt? Da aber ist offenbar nichts Entsprechendes geschehen – und nun, in der Opposition, soll das plötzlich anders werden?
Auch diese: Die CDU müsse „neue Formate der Parteiarbeit“ finden, darunter „digitale Kollaborationsprojekte“ und „open innovation“. Nun, solche Konzepte liegen in der Partei seit über zehn Jahren vor – nur bestand bislang null Interesse daran, weil Merkel und ihre Adlaten sie für lästig gehalten haben.
Das eigentliche Ziel: Weitermerkeln
Worum es Braun und seinen Unterstützern tatsächlich geht, ist nichts anderes als ein „Weiter-so“. Merkels Platzhalter soll die Partei in deren Sinne zugrunde verwalten. Dafür tritt er an, wenn er nach all dem Getue um Neuerung und Öffnung zum Schluss seines Schreibens dann doch in die übliche Parteielitenlogik zurückfällt: „Um es klar zu sagen: Wir haben nach dem Ergebnis der Mitgliederbefragung keinen einzigen Tag mehr Zeit für Streit oder neue offene Führungsfragen.“ Deshalb müsse die Partei „eine gemeinsame Haltung haben“. Diese, von den neomarxistischen Konstruktivisten an die Stelle von sachorientiertem Pragmatismus gesetzt, bedeute: „Die Geschlossenheit und die Vertraulichkeit unserer Beratungen sind nicht nur für die Kommunikation nach außen von entscheidender Bedeutung, sondern auch für den inneren Zusammenhalt.“
Das allerdings ist es auch, was ihn tatsächlich von seinen beiden Konkurrenten unterscheidet. Ob Merz oder Röttgen – beiden darf unterstellt werden, die Partei in ihrem Sinne prägen zu wollen. Bei Braun weiß man jetzt schon: Er wird nur weiter merkeln. Weshalb bereits festgestellt werden kann: Sollte sich die Basis tatsächlich für diesen Mann entscheiden, der bei der Auflistung der dringendsten Probleme der Republik unter anderem die Migration und die Zukunft einer identitätslosen Gesellschaft als Resultate Merkel’schen Vorsatzes gänzlich unter den Tisch hat fallen lassen, dann hat sich die CDU final aufgegeben und wird in wenigen Jahren in Vergessenheit geraten. Und darüber sollte dann auch niemand mehr auch nur eine Träne verdrücken.