Tichys Einblick
Helge Braun

Das eigene Unvermögen als Begründung für die Bewerbung als CDU-Vorsitzender

Bemerkenswert ist die lange Liste der Versäumnisse und Fehler, die Helge Braun in seinem Schreiben an die CDU-Mitglieder als Begründung dafür liefert, weshalb ausgerechnet er der Favorit der Basis für den CDU-Vorsitz sein soll.

IMAGO / photothek

Wäre es nicht so unendlich traurig und absurd, müsste man sich den Bauch halten vor lauter Lachen. Doch selbst dann, wenn es so käme, bliebe es einem schnell im Halse stecken. Weil eine solche Dreistheit und Unverfrorenheit, mit der sich ein (Möchtegern-)Spitzenpolitiker dieser Tage seiner Basis präsentiert, jedem halbwegs vernünftig denkenden Menschen schlicht unfassbar erscheinen will. Da ist er nun dank seiner Top-Vernetzung mit den von der Partei bezahlten Merkel-Mitarbeitern in der Berliner Klingelhöferstraße der Erste, der aus dem Knick kommt: Helge Braun hat sich in einem knapp fünf Seiten langen Brief an alle Mitglieder der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands gewandt.

Der Nordhesse will, nachdem er bereits als Erster seinen Hut in den Ring der Mitgliederbefragung zwecks Vorsitzbesetzung geworfen hat, nun offenbar auch im Bewusstsein der zwecks Chefwahl zu Befragenden die Nummer Eins sein. So soll Braun offenbar dem Parteivolk signalisieren: Ich bin der Dynamische, der Beste – der Erste! Nun gut – Tarnung und Verstellung gehören zum politischen Geschäft auch dann, wenn gewolltes Erscheinungsbild und Tatsachen so überhaupt nicht in Einklang miteinander zu bringen sind.

Schonungslos Merkels Totalversagen offenbart

Und doch hat Brauns Aufschlag einen Nutzen – wenn auch nicht für sich und seine Partei. Denn selten zuvor wagte es ein Spitzenpolitiker derart schonungslos, das Totalversagen der Angela Merkel Punkt für Punkt zu beschreiben. Und damit auch sein eigenes. Das einzige Problem dabei: Er merkt nicht einmal, wie er die vergangenen zwei Dekaden Merkel niedermacht.

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Bemerkenswert an den fünf Seiten des Helge Braun ist die fast schon unendlich lange Liste der Versäumnisse und Fehler, die der sich um den CDU-Vorsitz Bewerbende als Begründung dafür aufliefert, weshalb nun ausgerechnet er und niemand anderes der Favorit der Basis sein soll. Sein Bekenntnis des Versagens beginnt Braun mit einer ebenso lapidaren wie zutreffenden Feststellung: „Die Liste der Versäumnisse und Streitigkeiten ist lang. So können und dürfen wir nicht weitermachen!“

Auf diesen Appell der Selbstkasteiung folgt eben jene Liste des Merkelschen Versagens – immer hübsch verklausuliert als zu überwindende Mängel oder zu korrigierende Irrtümer. Die Corona-Pandemie sei noch nicht überwunden, Russland begegne dem Westen mit hybrider Kriegsführung, und eine sich ausweitende Inflation drohe den Wert der Ersparnisse der Bürgerinnen und Bürger „aufzufressen“. So lauten die ersten Probleme, denen sich Helge Braun stellen möchte. Weshalb dieses nun doch der Zeitpunkt ist, einiges zur Person des Schreibers dieser Zeilen zu sagen.

Braun als Teil des Systems Merkel

Braun beschreibt sich in dem Brief selbst als „Kanzleramtsminister, der an der Seite von Angela Merkel viel lernen durfte“. 49 Jahre sei er alt, seit 31 Jahren Mitglied der CDU, davon 18 Jahre als Kreisvorsitzender und 14 Jahre als Bezirksvorsitzender in wichtiger Position für die CDU Hessen tätig. Auch habe er als „Notarzt und Arzt im Bereich von Narkose, Notfall- und Intensivmedizin früh beruflich gelernt, mit Krisensituationen professionell umzugehen“. Wikipedia wirft in dem dort publizierten Lebenslauf des 2007 als Doktor der Medizin promovierten Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung lediglich eine bereits 2009 geendete Stelle als Assistenzarzt – sprich: Arzt in Weiterbildung – am Universitätsklinikum Gießen und Marburg aus. Eigenverantwortliches Handeln ist in einer solchen Funktion nicht vorgesehen.

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Vor allem aber unterschlägt Braun in seinem Schreiben, dass er spätestens seit 2009 Berufspolitiker ist. Nach einer Karriere in Kommunal- und Stadtparlamenten zog Braun 2002 über die Landesliste Hessen in den Bundestag ein. Von 2005 bis 2009 verordneten ihm die Wähler Berlin-Pause. Es waren dieses die Jahre, in denen sich der Katholik seinem Studium der Medizin widmete. Seit 2009 nun ist Braun durchgehend das, was unter einem Berufspolitiker verstanden wird. Führendes Mitglied in der hessischen CDU, Bundestagsabgeordneter und bereits mit Neueinstieg 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, also Vertreter jener Polithybriden, die gleichzeitig als Abgeordnete die Regierung kontrollieren sollen, der sie gut besoldet in Spitzenposition selbst angehören.  Im Dezember 2013 holte ihn Merkel als Staatsminister (eine etwas schickere Bezeichnung des Parlamentarischen Staatssekretärs) ins Bundeskanzleramt, machte ihn dort 2018 zum Chef desselben.

Kurzum: Braun ist wie kaum ein anderer Teil des Systems Merkel. Letztlich seit 2005 – also mit Machtübernahme durch die Frau aus der Uckermark – schwimmt er mit dem Unionstross im Fahrwasser der „herausragenden Persönlichkeit“, als welche der Adlatus seine Vorgesetzte in seinem Schreiben bezeichnet.

Das „Haltet-den-Dieb“-Prinzip

Und ausgerechnet dieser Helge Braun stellt nun fest, dass „die Liste der Versäumnisse“ lang sei? Das klingt nach einem Treppenwitz der Geschichte – nein, mehr noch: Es beschreibt die Hybris einer Kaste, die der Welt des Normalen entrückt ist und entweder einen jeden, der sich außerhalb dieser Kaste bewegt, für einen Volltrottel hält – oder aber einer permanenten Selbstanästhesie unterliegt, die die Wahrnehmung des Tatsächlichen jedweder bewussten Regung entrückt.

Die „Corona-Pandemie“ noch nicht überwunden, jammert nun ausgerechnet jener, der im Auftrag Merkels erst das Volk verunsicherte, um ihm dann Balsam um die Lippen zu schmieren. Wer, wenn nicht Merkel und mit Merkel eben jener Braun waren es denn, die den Daumen auf allem hatten, das mit Corona zu tun hat? Wer richtete denn ein verfassungsrechtlich nicht vorgesehenes sogenanntes „Corona-Kabinett“ ein, in dem Kanzler und Ministerpräsidenten an allen Parlamenten vorbei die Aussetzung der Grundrechte beschlossen? Russland hybrider Krieg? Ja, Russland führt ihn – und nicht nur Russland. Aber wer trug denn seit 2005 die Verantwortung für die Verteidigung des Landes?

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Und die Inflation, die immer noch von den Eliten weggelächelt werden soll, obgleich jeder Volkswirt weiß, dass die EZB unter der fragwürdigen Christine Lagarde in ihr das einzige Instrument erkannt hat, um der horrenden Staatsverschuldung, die die EZB seit Jahren vorsätzlich betreibt, zu begegnen? Selbstverständlich soll das Eigentum des Bürgers verschwinden, und das nicht nur, um die Staatsschulden zu minimieren, sondern auch, weil vermögende Menschen unabhängige Menschen sind. Das ist in der Welt der Zukunft nicht vorgesehen – nur wer vom Staat abhängig ist, kuscht, wenn es ihm geboten wird. Die Frau, die diese Vermögensvernichtung vorsätzlich betreibt, sitzt jedoch nicht ungewollt oder durch Zufall im Frankfurter Zentralbanktower. Merkel hat sie dorthin gebracht, um wider den Wählerwillen ihre Kollegin von der Leyen auf dem Posten des EU-Kommissionspräsidenten zu platzieren. Braun, der heute nun die Inflation beklagt, hat auch nicht den kleinen Finger gerührt, um diese Politik gegen die Bürger zu verhindern. Und nun beklagt er sie? Wie ginge es noch unehrlicher?
Nicht ich – andere sind es gewesen

Auch auf dem Rest der fünf Seiten: Für alles, was er dort beklagt, steht er selbst mit in der Verantwortung. Als willenloser Bundestagsabgeordneter und als willenloser Adlatus von Merkel.

Es sind dieses nur ein paar Punkte jener, bei denen Braun heute so tut, als habe er mit deren Zustandekommen nicht das Geringste zu tun. Das ist nicht nur dreist – das ist unverschämt.

Das eigene Versagen wegreden

Nicht minder unverschämt gegenüber jenen, denen bislang stillschweigend und zustimmend gefolgt wurde, sind auch Aussagen wie diese: „Unser Erfolg bei Wahlen hängt immer mehr von überzeugenden Kandidaten ab.“ Also: Laschet war ein solcher nicht. Nur: Wer hat diesen Nicht-Überzeugenden denn zum Kandidaten gemacht, wenn nicht das Kanzleramt und dessen Parteigefolgschaft, die unter anderem in Hessen zu verorten ist?

Oder diese Aussage: „Die CDU muss in die Lage kommen, neue Entwicklungen in allen Bereichen früher als andere zu erkennen.“ Wer, wenn nicht das Kanzleramt, hätte denn dazu in der Vergangenheit die allerbesten Voraussetzungen gehabt? Da aber ist offenbar nichts Entsprechendes geschehen – und nun, in der Opposition, soll das plötzlich anders werden?

Auch diese: Die CDU müsse „neue Formate der Parteiarbeit“ finden, darunter „digitale Kollaborationsprojekte“ und „open innovation“. Nun, solche Konzepte liegen in der Partei seit über zehn Jahren vor – nur bestand bislang null Interesse daran, weil Merkel und ihre Adlaten sie für lästig gehalten haben.

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All das, was Braun in diesen fünf Seiten auflistet, ist nichts anderes als die Dokumentation seines ganz persönlichen Totalversagens. Er, der im Gefolge Merkels die CDU an ihrer Spitze verkörperte, will nun der große Neuerer sein? Verkauft sich als jener, der all das, was er in den vergangenen 20 Jahren selbst mit verbockt hat, nun voller Elan und Vehemenz auf den Kopf stellen will? Das ist nicht nur lächerlich – das ist absurd. Und es ist selbstverständlich nicht ernst gemeint.
Das eigentliche Ziel: Weitermerkeln

Worum es Braun und seinen Unterstützern tatsächlich geht, ist nichts anderes als ein „Weiter-so“. Merkels Platzhalter soll die Partei in deren Sinne zugrunde verwalten. Dafür tritt er an, wenn er nach all dem Getue um Neuerung und Öffnung zum Schluss seines Schreibens dann doch in die übliche Parteielitenlogik zurückfällt: „Um es klar zu sagen: Wir haben nach dem Ergebnis der Mitgliederbefragung keinen einzigen Tag mehr Zeit für Streit oder neue offene Führungsfragen.“ Deshalb müsse die Partei „eine gemeinsame Haltung haben“. Diese, von den neomarxistischen Konstruktivisten an die Stelle von sachorientiertem Pragmatismus gesetzt, bedeute: „Die Geschlossenheit und die Vertraulichkeit unserer Beratungen sind nicht nur für die Kommunikation nach außen von entscheidender Bedeutung, sondern auch für den inneren Zusammenhalt.“

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Mit anderen Worten: Ist Braun endlich Chef von Merkels Gnaden, dann wird die Partei wie bereits unter Merkel wieder zum Closed-Shop einer selbsternannten Parteielite und die Mitglieder dürfen zurückfallen in die Lethargie des Merkel’schen Mehltaus. Dabei wird die CDU unter Braun allerdings auf die subtile Führung der Ex-FDJ-Funktionärin verzichten müssen, denn Braun möchte „als kooperativer Vorsitzender einer modernen Führungskultur Raum geben“. Will sagen: Als Führungsperson ist der Nordhesse bereits jetzt aus dem Rennen. Er möchte nichts anderes, als den Niedergang im Sinne seiner Vorgesetzten weiter verwalten.

Das allerdings ist es auch, was ihn tatsächlich von seinen beiden Konkurrenten unterscheidet. Ob Merz oder Röttgen – beiden darf unterstellt werden, die Partei in ihrem Sinne prägen zu wollen. Bei Braun weiß man jetzt schon: Er wird nur weiter merkeln. Weshalb bereits festgestellt werden kann: Sollte sich die Basis tatsächlich für diesen Mann entscheiden, der bei der Auflistung der dringendsten Probleme der Republik unter anderem die Migration und die Zukunft einer identitätslosen Gesellschaft als Resultate Merkel’schen Vorsatzes gänzlich unter den Tisch hat fallen lassen, dann hat sich die CDU final aufgegeben und wird in wenigen Jahren in Vergessenheit geraten. Und darüber sollte dann auch niemand mehr auch nur eine Träne verdrücken.

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