China und Deutschland verbindet eine besondere Beziehung. Das Reich der Mitte ist Deutschlands fünft-wichtigster Exportpartner. Für rund 78,5 Milliarden Dollar lieferten die Deutschen im Jahr 2015 Waren und Dienstleistungen nach Fernost. China stand damit nach den USA, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden an fünfter Stelle der Abnehmer deutscher Produkte. Im Gegenzug kaufte Deutschland für 74,2 Milliarden Dollar fernöstliche Güter – womit die Chinesen nach den Niederlanden und Frankreich Deutschlands drittwichtigster Importeur waren.
So ist es nachvollziehbar, dass sich deutsche Regierungsvertreter regelmäßig schwer tun, allzu heftige Kritik an den inneren Angelegenheiten des Pekinger Reichs zu üben. Weniger nachvollziehbar allerdings ist es, dass in Deutschland der Blick nach wie vor fast ausschließlich auf die inneren Vorgänge der USA gerichtet ist, während das politische Innenleben der Volksrepublik kaum der Erwähnung wert scheint. Dabei ist dieses überaus spannend – und wird mit seinen Intrigen und teils abrupten Kurswechseln nicht ohne Einfluss auf Deutschland als einen seiner wichtigsten Handelspartner bleiben. Doch in den Augen der Europäer ist das Reich der Mitte ein Buch mit sieben Siegeln – fest verankert in der kommunistischen Ideologie jener deutschen Philosophen, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts eines durch die Industrialisierung hervorgerufenen, radikalen gesellschaftlichen Wandels über die Überwindung der im Sterben liegenden Feudalgesellschaft nachdachten.
Das allerdings ist auch China zumindest offiziell schon lange nicht mehr. Startete Mao Zedongs Volksrepublik nach dem Abzug der japanischen Imperialisten und einem verheerenden Bürgerkrieg noch als Inkarnation der radikalen Diktatur des Proletariats, hat sich innerhalb der einzig zulässigen Kommunistischen Partei Chinas seit jener Rückbesinnung auf die konfuzianistischen Traditionen unter Deng Xiaoping der chinesische Kommunismus längst in einen Kommfuzionismus gewandelt: Eine Gesellschaft, die auf der traditionellen Grundlage der absoluten Dominanz des Beamtenapparats mit dem fernwestlichen Kollektivismus der Sozialisten fast nahtlos anknüpfen konnte an die Vorstellungen des chinesischen Meisters Kung, der im fünften vorchristlichen Jahrhundert den Weg des Reichs der Mitte wies.
Der neue Global Player
Mit großen Augen blicken die Europäer seit geraumer Zeit auf den neuen Riesen China. Fast über Nacht wurde aus dem Entwicklungsland, das noch vor gut einhundert Jahren ein Spielball der europäischen und japanischen Interessen war, das nach den USA mächtigste Land der Welt. Bedeutende Handelsüberschüsse haben den Chinesen das Kapital und damit die Möglichkeiten in die Hand gegeben, eine hochmoderne Militärmacht zu schaffen. Naiver Technologie-Transfer der europäischen und amerikanischen Wirtschaftsunternehmen vom Mittelständler bis zum Global Player taten ein weiteres, um aus dem Agrarland ein scheinbar kommunistisch geführtes, hochleistungsfähiges Technologieunternehmen zu machen.
Der fulminante Aufstieg zur Weltelite brachte es mit sich, dass in China eine zunehmend breitere Mittelschicht entsteht, die einen kleinen Wohlstand ihr eigen nennt und mit Reisen in alle Welt den Horizont erweitert. Von politischer Freiheit, wie sie die Vordenker der europäischen Demokratie-Ideen deklarierten, ist China jedoch meilenweit entfernt. Seit jenem Aufzucken im Zuge des weltweiten Zusammenbruchs sozialistischer Systeme im Jahr 1989, das Chinas tatsächlich Herrschende zum Leidwesen des damaligen Generalsekretärs der KPCh, Zhao Ziyang, auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens durch die als „Volksbefreiungsarmee“ getarnte Soldateska mit geschätzt 3.000 Toten niederschlagen ließ, vermittelt das kommfuzionistische Reich zwar den Eindruck, mit Wirtschaftsreformen einen liberalen Weg eingeschlagen zu haben – doch von den politischen Bürgerfreiheiten, die die Menschen derzeit noch in den westlichen Demokratien genießen können, kann am Gelben Meer nicht die Rede sein.
Tatsächlich waren schon 1989 nicht europäisch-demokratische Vorstellungen die treibende Kraft der sozialen Unruhen und Studentenproteste. Vielmehr beobachteten insbesondere die jungen Chinesen, die nicht wie ihre Eltern vom Kulturvernichter Mao auf den Weg in den kulturrevolutionären Irrsinn verführt worden waren, mit Unbehagen, wie das angeblich gleich zu verteilende Volksvermögen sich bei Wenigen konzentrierte. Und sie fragten sich, was die Sippen jener Urrevolutionäre, die mit Mao die bürgerlich orientierte Elite des Chiang Kai-shek nach Formosa/Taiwan vertrieb, im Widerspruch zu den hehren Ideen des Karl Marx privilegierte, reicher und reicher zu werden – und diesen Reichtum durch den uneingeschränkten Zugriff auf die staatliche Macht abzusichern.
Konkurrenz vor dem 19. Parteitag
Im China des Deng Xiaoping wandelte sich die stalinistische Diktatur des Mao in ein klassisch-konfuzianisches System. Den Kampf um die Macht beschreibt das, was Chinesen selbst als das „Großvater–Vater–Söhne–System“ bezeichnen.
„Großväter“ sind die alten Führer der Partei, die offiziell bereits im Ruhestand sind. Ihr Einfluss beruht maßgeblich darauf, dass sie die eigentlichen Entscheider sind darüber, wer im 25-köpfigen Politbüro Sitz und Stimme hat. In diesem wiederum sitzen die „Väter“ als offizielle Führungselite der Pekinger Nomenklatura. Die „Söhne“ sind überwiegend die Provinzführer sowie nachrückende Minister – der Pool, aus dem sich die künftige Besetzung des Politbüros rekrutiert und die sich deshalb, da ihre Zahl weit größer ist als jene 25 Posten, ständig belauern und gegenseitig auszuspielen suchen.
Über allem steht der sogenannte „Parteikern“ – ein Begriff, der bereits für Mao eingeführt worden war. Er besteht aus nur einer Person, die über eine unanfechtbare Autorität verfügt. Hier folgte auf Mao Deng. Auf diesen dann der am 17. August 1926 geborene Jiang Zemin. Der 18. Parteitag gab diese absolute Autorität 2012 an den amtierenden Staatspräsidenten Xi Jinping, geboren am 15. Juni 1953 und damit für chinesische Vorstellungen ein junger Mann. Obgleich mehrfach bereits totgesagt, soll jedoch Jiang, der die Deng’schen Wirtschaftsreformen durch eine Umstrukturierung der Verantwortlichkeiten international marktfähig gemacht hatte, nach wie vor den Anspruch absoluter Führung für sich beanspruchen – eine Situation, die unter der Decke der Einigkeit vor dem 19. Parteitag zu eskalieren drohte.
Für Xi geht es dabei um alles oder nichts. Gelingt es ihm, mit seinen Kandidaten die Mehrheit im Politbüro zu erobern und damit die „Großväter“ aus ihrem Einfluss zu verdrängen, kann er das Reich der Mitte nach seinen Vorstellungen ausrichten. Setzen sich hingegen die Parteigänger des Jiang durch, so kann dieses recht kurzfristig sogar das politische Ende des Xi bedeuten. Seine Vorgänger Zhao Ziyang und Hu Jintao können ein Lied davon singen: Wurde der eine nach seiner Bereitschaft, mit den protestierenden Studenten ins Gespräch zu kommen, von „Altkern“ Deng knallhart entmachtet, gab sich Hu als Marionette des Jiang mit der Rolle des Vorzeige-Chefs zufrieden.
Xi legt es nun darauf an, die Alte Garde der Revolution abschließend auf das Altenteil zu schicken – ein Vorhaben, das in China einem Vabanquespiel gleicht und dessen Ergebnis ebenso offen ist wie die Frage unbeantwortet bleiben muss, in welche Richtung ein Alleinherrscher Xi das kommfuzianische Reich führen wird.
Der kapitalistische Marxismus des Kung-fu
Die Garde der „Altführer“ oder „Großväter“ hatte das Reich der Mitte bislang fest im Griff. Wer sich der Illusion hingibt, die wirtschaftliche Dynamik des Landes habe etwas mit unternehmerischer Freiheit eines an calvinistischen Vorstellungen orientierten, freien Unternehmertums zu tun, der unterliegt einem fulminanten Selbstbetrug. Wer als Konservativer meint, die wirtschaftliche Dynamik müsse zwangsläufig in eine Demokratie nach westlichem Muster führen, irrt ebenso wie jener sozialistische Ideologe, der sich der Illusion hingibt, nur weil „Volksvermögen“ auf den Produktionsmitteln stehe, sei in China die marxistische Vision zur Wirklichkeit geworden.
China hat nicht nur den Kommunismus optimal in die Gesellschaft des Kung-Fu integriert – es hat auch all das perfekt übernommen, was Sozialisten als Grundübel des Kapitalismus auszumachen meinen. Ob die „Alibaba Group Holding Limited“ des früheren Englischlehrers Jack Ma; ob die offiziell privatwirtschaftlich betriebene HNA-Group, die weltweit auf Einkaufstour ist und jüngst für rund 15 Millionen Euro den Flughafen Hahn seinen bisherigen Eigentümern, den misswirtschaftenden Ministerien des Landes Rheinland-Pfalz, abkaufte; ob die auch offiziell staatliche „China COSCO Shipping Corporation Limited“, an Tragfähigkeit größte Handelsmarine der Welt – hinter den Kulissen laufen die Fäden dieser wie aller anderen chinesischen Unternehmen bei den oberen Paartausend der alten und neuen KPCh-Eliten zusammen.
Geld bedeutet im roten China fast mehr noch als im kaiserlichen Machtgefüge. Und so ist die Versuchung insbesondere auf der Ebene der „Söhne“ groß, Geld durch Korruption und Ränkespiele anzuhäufen.
Von Korruption und Machtkampf
Wer mit dem Lächeln eines Buddha hinter verschlossenen Türen Vermögen zusammenrafft, nicht unbeträchtliche Teile davon in das kapitalistische Ausland transferiert und sicherstellt, dass er und seine Familie notfalls den existenz- und lebensbedrohlichen Praktiken seiner auf Reichtum bedachten Kultur entfliehen können, der hat wenig Interesse daran, dass die Wege individueller Bereicherung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden.
Genau dafür aber sorgte im Vorfeld des Parteitages ein Mann, der selbst über Jahre wie kaum ein anderer Nutznießer des Kommfuzionismus gewesen ist: Guo Wengui tritt im Maßanzug auf und soll laut Hurun-Report, der in Shanghai erscheinenden Auflistung der 20 reichsten Männer der Volksrepublik, zum Jahr 2014 über ein Vermögen in Höhe von rund 2,3 Milliarden US-Dollar verfügt haben. Neuere Zahlen verweigert der Report, da sich Guo Anfang 2014 über den Pazifik ins US-amerikanische Mutterland des Kapitalismus absetzte.
Guo stammt laut seiner Biographie aus ärmlichen Verhältnissen der Provinz Shandong, gelegen am Gelben Meer gegenüber Süd-Korea. Seinen selbst nach kapitalistischen Verhältnissen unermesslichen Reichtum soll Guo seiner Begabung im Immobiliengeschäft verdanken – jemand, der beim chinesischen Wirtschaftswunder erfolgreich in der ersten Reihe segelte. Möglich wurde ihm dieses, weil er enger Verbündeter des langjährigen Vizechefs des Ministeriums für Staatssicherheit, Ma Jian, war. Damit reichten seine Verbindungen bis unmittelbar in die Spitze des größten Geheimdienstes der Volksrepublik – Verbindungen, mit denen sich gute Geschäfte machen ließen. Wer ihm im Wege stand oder nicht so wollte, wie er es erwartete, konnte schnell über unvermutete Intrigen stolpern. So räumte Guo beispielsweise 2006 den damaligen Vizebürgermeister der Hauptstadt Peking, Liu Zhihua, aus dem Weg, indem er dem Arglosen eine auf Video dokumentierte Sexfalle stellte, welche sodann als Grundlage einer Anzeige wegen Bestechlichkeit diente. Bei all dem traf es sich für den Mann aus Shandong, den das Fachjournal für Wirtschaftsnachrichten Caixin einen „Jäger der Macht” nannte, gut, dass er mit Ma jemanden hatte, dem im Geheimdienst unmittelbar das Referat für Ermittlungen gegen schwere inländische Wirtschaftskriminalität mit der Befugnis zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel unterstellt war.
Doch Guos Paradies endete abrupt in eben jenem Jahr 2014. Offenbar hatten ihn alte Freunde rechtzeitig davon in Kenntnis gesetzt, dass sich über Ma dunkle Wolken zusammenzogen. Am 7. Januar 2015 verschwand der langjährige Geheimdienstvize Ma in den Kerkern des Riesenreichs – Haftgrund unbekannt.
Der mittlerweile im US-Exil lebende Guo verhielt sich lange Zeit still und mied den öffentlichen Auftritt. Offenbar diente ihm das Schicksal des Wang Lijun als abschreckendes Beispiel. Jener hatte sich als Polizeichef der 36-Millionen-Metropole Chongqing und Korruptionsermittler des damaligen Xi-Konkurrenten Bo Xilai im Jahr 2012 mit unschätzbaren Insiderkenntnissen in das US-Konsulat in Chengdu geflüchtet und um politisches Asyl ersucht. Der damalige US-Präsident Obama jedoch wollte jegliche Konfrontation mit Chinas Kommfuzionisten vermeiden, lieferte den Asylsuchenden aus. Wang wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Bo, der dem orthodoxen Mao-Flügel angehörte und dessen Vater Yibo zum engsten Kreis um Deng gehört hatte, wurde am 22. September 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt, sein Vermögen eingezogen. China kennt mit Verlierern keine Gnade und Xi war seinen mächtigsten Konkurrenten um die Führung los.
Guos Erzählungen
Während der geflüchtete Guo also die Füße still hielt, wurden in China gut ein Dutzend seiner Familienmitglieder und über 200 seiner Angestellten verhaftet – Sippenhaft hat in China Tradition und zur Sippe gehören auch jene, die sich in materieller Abhängigkeit vom Sippenchef befunden haben. Jene Vermögenswerte, die Guo nicht mehr rechtzeitig außer Landes bringen konnte, sind eingefroren. Und doch scheint Guo genug geblieben zu sein, um in seiner neuen Heimat hinter den Kulissen an alte Qualitäten anzuknüpfen. So gelang es dem Chinesen, in den illustren „Mar-a-Lago”-Privatclub des heutigen US-Präsidenten Donald Trump am Strand von Long Beach aufgenommen zu werden – was wiederum die Annahme zulässt, dass Trump sich sowohl der Insiderkenntnisse seines chinesischen Freundes wie dessen Person selbst bedient. Und so tritt nun unerwartet Guo seit Januar dieses Jahres gleichsam als Kronzeuge gegen die Korruption und Selbstbedienung im Reich der Mitte öffentlich auf.
Als erstes traf es ein außerhalb Chinas kaum bekanntes, früheres Mitglied des Ständigen Komitees des Politbüros. Die Familie dieses He Guoqiang sei, so Guos Mitteilung, über seinen Sohn als Vorsitzenden eines Partnerunternehmens eng mit der HNA-Group verbandelt. Dieses im Jahr 2000 gegründete, mächtige Unternehmen Chinas beschäftigt sich offiziell privatwirtschaftlich mit Tourismus und Flugverkehr – dient der chinesischen KP-Führung jedoch weltweit als Aufkäufer von Wirtschaftsbeteiligungen. So gehört der HNA mittlerweile mit der Swissport International AG die weltgrößte Servicegesellschaft für Flughäfen und Fluggesellschaften. An der „Aigle Azur”, Frankreichs zweitgrößter Fluggesellschaft, hält die HNA 48 Prozent, an der „NH Hotel Group” 29. „SR Technics”, weltgrößter Anbieter für Flugzeugwartung und Instandhaltung mit Sitz in der Schweiz, wurde im Juli 2016 zu 80 Prozent übernommen. Jüngst kaufte sich die HNA in die „Deutsche Bank AG” ein.
China sieht „Rot“
Angesichts der Drohung Guos, mit seinen noch zu erwartenden Enthüllungen „Leben retten, Geld retten und Rache üben” zu wollen, reagierte China prompt. Am 19. April 2017 schickte das chinesische Außenministerium an Interpol die Bitte um eine „Red Notice” gegen Guo. Das Ziel: Ergreifen und Auslieferung des Guo. China konnte sicher sein, dass seine Aufforderung beim richtigen Adressaten landen würde. Denn Interpol wird derzeit von einem guten Freund der Pekinger KP-Führung geleitet: Meng Hongwai war in seinem früheren Leben Vize-Minister im Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MÖS) – das zumindest offiziell nicht ganz so geheime Pendant dessen, dem der geschasste Freund Guos als Vizechef vorstand.
Doch das vermochte Guo, der sich offensichtlich der Rückendeckung durch Trump versichert hat, nicht aufzuhalten. Am Tag des Auslieferungsersuchens gab er dem amerikanischen Auslandssender Voice of America ein Interview. Dort behauptete Guo, ein gewisser Fu Zhenghua, Nachfolger des Interpol-Chefs im MÖS, habe seine inhaftierte Familie als Druckmittel nutzen wollen, damit er Informationen über die Verbindungen und Abhängigkeiten eines Yao Qing zur HNA sowie über dessen Immobilien und Auslandsguthaben sammele. Guo behauptete, Fu hätte ihm umfangreiche persönliche Informationen sowie das Luftfahrzeugkennzeichen des Privatjets von Yao zur Verfügung gestellt, um seine Ermittlungsarbeit zu erleichtern. Und: Den Auftrag zur „Aufklärung“ habe Parteichef Xi persönlich erteilt.
Jener Yao Qing wiederum sei der Neffe von Wang Qishan, welcher als mächtigster Parteifunktionär im Reich der Mitte und als wichtigster Verbündeter des Xi Jinping gelte. Wangs Schwiegervater war dereinst Vize-Premier der Volksrepublik und Vertreter einer harten Linie im Vorgehen gegen die 1989-Proteste. Heute sei Wang, dessen Familie über ein Drei-Billionen-Dollar-Vermögen und US-Pässe verfügen soll, im Ständigen Komitee des Politbüros verantwortlich für die Disziplinarkommission und damit für die von oben verordnete Anti-Korruptionskampagne. Damit habe er es in der Hand, gegen wen aus der allumfassend korrupten Nomenklatura vorgegangen und wer verschont werde. Womit sich nun zumindest Guos Kreis schließt, denn der ohne Zweifel zutreffende Vorwurf der Korruption war es auch, der seinen Gönner Ma und damit ihn selbst um die heimatlichen Pfründe gebracht hatte.
Gegen wen spielt Guo?
Richteten sich Guos Enthüllungen und der angebliche Spionage-Auftrag nun gegen die amtierende Clique um Xi? Oder offenbarte Guo ein geplantes Komplott gegen den um gute internationale Beziehungen bemühten Staatspräsidenten? Brauchte der Nachfolger des Interpol-Chefs Material, um das vielen Parteikadern lästige Vorgehen gegen die weitverbreitete Korruption zu unterbinden oder um dieser selbst Herr zu werden?
Wenn Guo gezielt die Wang-Sippe an den Pranger stellt, dann scheint dieses auch gegen den Staatspräsidenten und „Parteikern“ Xi gerichtet zu sein. Betreibt Guo also das Spiel der um Entmachtung fürchtenden Clique um dem „Großvater“ Jiang Zemin? Darauf deutet zumindest die gezielte Verknüpfung seiner Vorwürfe mit dem angeblichen Unterstützerumfeld des nun im Kampf um die absolute Macht antretenden Xi hin.
Oder aber wollte Guo sich bei Xi einen „weißen Fuß“ machen, indem er die Wang-Sippe mit Scheinvorwürfen desavouiert, was Xi die Möglichkeit gegeben haben könnte, sich eines möglicherweise in das Yiang-Lager absetzenden Wang zu entledigen? Sollte es sich möglicherweise doch nur um ein wildes, zielloses Um-sich-schlagen eines Mannes handeln, der durch wüste Vorwürfe seine in China feststeckende Familie retten will? Und was hat das alles mit dem US-Präsidenten zu tun, der einerseits Chinas Wirtschaftspraktiken angreift, andererseits auf den Staatspräsidenten der Volksrepublik nicht nur bei einer Lösung des Korea-Konfliktes angewiesen ist? Schwer vorstellbar zumindest ist, dass Guo ausgerechnet mit der Inauguration Trumps seinen Feldzug begonnen und der Mar-a-Lago-Kumpel dabei seine Finger nicht im Spiel hatte.
So oder so – eines jedenfalls hat Guo bereits erreicht: Die Kader der KP Chinas waren im Vorfeld des Parteitags in hellster Aufregung. Und die Ergebnisse des 19. Parteitages sind offener denn je. Es geht nicht mehr nur um die Macht – es geht darum, wessen Köpfe im Zweifel auch von der Öffentlichkeit unbemerkt rollen werden. Und da scheint der des Xi trotz oder auch gerade wegen seines Auftrfitts derzeit ebensowenig sicher auf seinem Körper zu sitzen wie die seiner Widersacher.