Eigentlich ist es hier bei TE nicht mein Ding, biografische Geschichten zu verbreiten. Vielleicht aber sollte ich doch eine Ausnahme machen. Eine Ausnahme, weil dieser biografische Teil meines Lebens möglicherweise etwas Unmittelbares zum Verständnis der Vorgänge im Herbst 1989 beitragen kann.
Damals, in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts, war ich sozusagen nebenberuflich Mitglied im Landesvorstand der Jungen Union Hamburg. Damals galt dieser Landesverband, so wie die Junge Union insgesamt, allen links von den Jungdemokraten als Hort des Neofaschismus, während wir uns innerhalb des JU-Bundesverbandes als Hanse-Bolschewisten bezeichnen lassen durften. Abbruch tat unserem politischen Enthusiasmus weder das eine noch das andere.
In diesem Vorstand nun lag meine Aufgabe unter anderem darin, Konzepte für den Umgang mit der DDR und dem Ostblock zu entwickeln und, wo möglich, Kontakte aufzubauen. Ich war – wie sich das damals hochtrabend nannte – Ostbeauftragter der JU-Hamburg. Abgesehen davon, dass ich mich in dieser Funktion 1988 auf dem JU-Deutschlandtag in Baden-Baden mit der Aufforderung unbeliebt gemacht hatte, die Union möge sich doch bitte vom „Wiedervereinigungsbegriff der Fünfzigerjahre“ – gemeint waren die damals in der CDU vorherrschenden Vorstellungen von Wiedervereinigung als quasi-Zwangseingemeindung – verabschieden und eine mögliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten ausschließlich in die demokratischen Hände der Bevölkerung der Deutschen in der DDR legen – was sagen sollte: Eben kein Zwangsvereinigungsautomatismus aus dem Westen, hatte diese Aufgabe zur Folge, dass ich in der Mitte der Achtziger unerwartet regelmäßigen Kontakt mit einem Vertreter des sowjetischen Generalkonsulats in Hamburg hatte.
Der als Vizekonsul ausgewiesene Russe stellte sich uns als Wladimir Slutzkow aus Sankt Petersburg (hieß damals noch offiziell Leningrad, interessierte aber niemanden) vor. Er habe aus Moskau die Aufgabe bekommen, künftig den Kontakt auch zu jenen Jugendorganisationen der Bundesrepublik herzustellen und zu halten, welche man bislang unter der Rubrik Klassenfeind abgetan hatte. Und so trafen wir uns. Zuerst eher förmlich im Generalkonsulat. Dann in irgendwelchen Gaststätten in Winterhude. Zuletzt dann regelmäßig in meiner Dachwohnung auf der Uhlenhorst.
Selbstverständlich begannen die ersten Treffen mit vorsichtigem Abtasten. Schließlich wollten wir, die Hamburger Jungunionisten, wissen, was die Russen – immerhin galten sie uns zu diesem Zeitpunkt noch als jene, die das Wettrüsten maßgeblich vorangetrieben hatten – von uns wollten. Gleichwohl hatten wir selbstverständlich auch die Aktionen des Michail Gorbatschow interessiert zur Kenntnis genommen – und so keimte die Hoffnung, dass die Konfrontation des Kalten Krieges vielleicht in absehbarer Zeit zu überwinden wäre.
Worum ging es Moskau?
Slutzkow, mit dem es nach russischer Tradition schnell zum Du kam, war ohne Zweifel gut geschult – die Sowjets würden mit Sicherheit keine Deppen auf die Kapitalistenkinder des Westens loslassen. Ob es nun dieser Schulung zu verdanken war oder einfach seinem russischen Naturell entsprach: Nachdem sein kurz angesetzter Versuch, mich von den Vorzügen des Sozialismus zu überzeugen (einschließlich des Versprechens einer Art Car-Sharing, bei dem jeder Bürger, wenn er Lust hat, einen als Gemeineigentum auf der Straße stehenden Porsche nutzen konnte), von mir mit dem Hinweis abgeschmettert worden war, dass er sich diese Geschichten für die Kollegen aus der KP mit der Bezeichnung „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend“ und die jungsozialistischen „Falken“ aufheben könne, kamen wir schnell zu einer Gesprächsebene, die wir, wie ich bis heute überzeugt bin, beide als offen, freundschaftlich und produktiv empfanden.
Ich werde an dieser Stelle darauf verzichten, all jenes zu berichten, über das wir uns damals unterhielten. Wen es interessiert, der möge sich an das KGB-Archiv wenden, wo in irgendeiner Ecke sicherlich Protokolle unserer Meetings zu finden sind. Schließlich musste auch ein Vizekonsul Rechenschaft über seine Zeitaufwände ablegen – und wo solche bei Kontakten mit Vertretern potentiell gegnerischer Gesellschaftssysteme in der Sowjetunion landeten, dürfte außer Frage stehen.
Wie auch immer: Wladimir Slutzkow bekannte bereits im zweiten Treffen offen, dass die Sowjetführung in den vergangenen Jahrzehnten den Fehler gemacht habe, sich bei ihren Deutschlandkontakten ausschließlich auf die Vertreter der politischen Linken zu konzentrieren. Man sei davon ausgegangen, dass die sozialdemokratische Machtübernahme quasi nicht mehr umkehrbar sei und habe deshalb ausschließlich Kontakt zu Sozialdemokraten und Kommunisten gehalten (die Grünen spielten damals noch keine bedeutende Rolle und galten in Kreisen orthodoxer Kommunisten ohnehin als Trotzkisten, womit sie für einen echten Sowjetmenschen als Gesprächspartner grundsätzlich ausschieden, was allerdings nicht bedeutete, dass die Dienste der UdSSR und der DDR sich ihrer im Zuge der westdeutschen Nachrüstungsproteste optimal bedienten). Nach dem bundesdeutschen Regierungswechsel 1982 habe die Führung nun aber erkannt, dass diese Einseitigkeit ein Fehler gewesen sei. Nicht nur, dass es keinerlei Gesprächskontakte zu Christdemokraten gäbe – man habe auch keinerlei realistische Vorstellung darüber, wie die deutschen Konservativen sich eigentlich die Zukunft Deutschlands und Europas vorstellten. Wollte sagen: Sind das immer noch die Kommunistenfresser der 50er und 60er, die nach sowjetischem Verständnis mit den Ostverträgen jegliche Verständigung mit dem Ostblock ablehnten – oder hatte sich in dieser Hinsicht etwas getan?
Nur private Gespräche
Nun war ich sicherlich nicht repräsentativ für die CDU-Deutschland, nicht einmal für die CDU-Hamburg. Und ja – angesichts der Tatsache, dass Sowjettruppen gerade einmal gut 20 Kilometer ostwärts von uns standen und meine persönlichen Erfahrungen bei meinen Besuchen in Ost-Berlin eher durchwachsen waren, blickte ich mit einiger Skepsis über die Elbe. Andererseits war es nicht nur immer mein Prinzip gewesen, mich mit jedem auf zivilisierter Weise zu unterhalten, der das Gespräch mit mir sucht – auch bot sich hier umgekehrt die Gelegenheit, einen echten Sowjetrussen aus der Funktionärsebene und seine Denkungsart im direkten Kontakt kennenzulernen und so den eigenen Horizont deutlich zu erweitern.
Auf dieser Grundlage des gegenseitigen Nutzens kam es seit 1986 zu zahlreichen Gesprächen, in denen wir so ziemlich die gesamte Breite der immer noch hochkomplizierten Beziehungen zwischen Russland und Deutschland beleuchteten, dabei aber auch manchen Schwerpunkt auf die jeweilige innenpolitische Lage warfen. Mir zumindest half es, manch damals noch verankertes Vorurteil beim Blick auf Russland und „den Russen“ zu überwinden und abzulegen. Und wie bereits bei früheren Gelegenheiten lernte ich auch hier, dass es sorgsam zu unterscheiden gilt zwischen dem, was auf offizieller Ebene verlautbart und getan wird – und dem, was der „normale“ Mensch sagt, tut, und denkt. Ich lernte – um es so zu formulieren – „den Russen“ als Menschen und nicht als politisches Objekt kennen. Bei meinen späteren Besuchen in Russland war das überaus hilfreich, weil das Menschliche jederzeit das Politische ausblenden konnte.
Die Konsequenzen von Glasnost und Perestroika
Spannend an den Gesprächen waren neben der offensichtlichen Fehleinschätzung der Sowjetführung, was die Entwicklung des militanten Islam nicht nur im Iran, sondern auch in den südlichen Sowjetrepubliken betraf, mit Blick auf den 9. November 1989 vor allem unsere Einschätzungen zur weiteren Entwicklung der Staaten Mittelosteuropas – und jener beiden Nachkriegskreationen auf deutschem Boden.
An der Existenz der Bundesrepublik bestand zu keinem Zeitpunkt irgendein Zweifel. Die BRD war für Moskau der eigentlich spannende Partner auf dem Boden des untergegangenen Deutschen Reichs und wurde, anders als die DDR, als eigentliche Nachfolgeschöpfung des Deutschen Reichs betrachtet. Wenn Slutzkow von Deutschland sprach, dann meinte er die Bundesrepublik, nicht die DDR – eine Einschätzung, in der wir uns uneingeschränkt einig waren. Hier wiederum stand für ihn die Frage im Vordergrund, ob dieses Deutschland auch unter Unionsführung grundsätzlich daran interessiert sein könne und werde, zur Sowjetunion partnerschaftliche, vielleicht freundschaftliche Beziehungen aufzubauen.
Nun standen wir immer noch erst zu Beginn von Perestroika und Glasnost – die Jahre der Njet-Politik eines Breschnew waren noch frisch in Erinnerung. Ob die Gorbatschow-Politik nicht am Ende nur etwas frische Farbe auf abgeblätterte Wände bringen würde, war für uns damals in keiner Hinsicht absehbar.
Dennoch war es meine grundsätzliche Einschätzung, dass auch die Union nicht an einer Dauerkonfrontation mit den Nachbarn im Osten interessiert sein könne, sondern dass vielmehr gesellschaftliche Änderungen, wie sie aktuell von Gorbatschow eingeleitet wurden, nicht nur unmittelbar für die Bevölkerung der Sowjetunion Nutzen bringen könnten, sondern auch dazu beitragen müssten, die in der Vergangenheit verhärteten Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu normalisieren. Es ging hier maßgeblich darum, nicht gewaltsam in die jeweils anderen Systeme einzudringen, um diese nach eigenem Verständnis zu ändern, sondern in der Unterschiedlichkeit nicht das Trennende zu suchen, sondern das gemeinsame zu finden. Die Tatsache, dass dabei zumindest auf unserer Seite die Vorstellung bestand, dass das demokratische Selbstbestimmungsrecht nicht nur den Ostblockstaaten zuzubilligen sei, sondern dieses dann auch in unserem Sinne positive Gesellschaftsveränderungen bewirken müsste, bedarf keiner Erläuterung und musste auch in unseren Gesprächen nicht unerwähnt bleiben.
Es war mein Eindruck, dass die nun von Slutzkow repräsentierte Sowjetunion davon Abstand genommen hatte oder nehmen wollte, sich als Speerspitze der Proletarischen Revolution dem Ziel zu verschreiben, die kapitalistischen Systeme nach früherem Muster gewaltsam durch moskautreue, sozialistische zu ersetzen. So, wie umgekehrt jeder halbwegs verantwortungsbewusste Politiker in Deutschland längst zu der Erkenntnis gekommen sein musste, dass eine gewaltsame Überwindung des Sowjetsystems von außen absolut unvorstellbar war.
Bundesrepublik, DDR und Russland
Da wir über die Bundesrepublik und ihr Verhältnis zur UdSSR nachgedacht hatten, blieb es nicht aus, auch den Blick auf die DDR zu werfen. Aus meiner Einschätzung, dass dieser Satellitenstaat keine dauerhafte Existenz haben werde, sobald die Russen sich als Schutzmacht zurückziehen sollten, machte ich nie einen Hehl. Das planwirtschaftliche Wirtschaftssystem war in meiner Einschätzung nicht überlebensfähig, weil es den evolutionären Basiseigenschaften des Menschen widerspricht. Die Einparteiendiktatur, die in der DDR von der SED faktisch eingerichtet worden war, konnte ebensowenig von Dauer sein, weil die Unterdrückung von Menschen durch ein politisches System zwar über einen gewissen Zeitraum funktionieren kann, irgendwann aber jedes System erst erstarrt und dann kollabiert. Je starrer ein System bereits in seiner Anlage ist, desto schneller und unvermeidlicher läuft dieser Prozess ab. Dabei gilt: Je weniger das System die materiellen und immateriellen Interessen und Bedürfnisse seiner Menschen befriedigen kann, desto autoritärer muss es auftreten, um sich selbst seine Existenz zu erhalten. Und je autoritärer es auftritt, desto weniger ist es in der Lage, eben diese Bedürfnisse zu befriedigen und umso intensiver werden die Widerstände. Am Ende verliert das System seine Basis und implodiert – falls es nicht bereits zuvor durch eine Revolution hinweggefegt und ersetzt worden ist.
Solche Überlegungen prägten auch unsere Gespräche über die DDR. Das eigentlich spannende daran war, dass Wladimir diesen Abläufen durchaus zustimmte. Und sie mit der damals noch revolutionären Frage verband, was aus meiner Sicht geschehen werde, wenn es in der DDR tatsächlich auf friedlichem und geregeltem Wege zu freien Wahlen nach bundesrepublikanischem Vorbild käme.
Die Sowjetführung dachte dem Westen um Jahre voraus
Mit dieser Frage, die bereits im Jahr 1987 einen Schwerpunkt unserer Gespräche bildete, machte mein Gesprächspartner deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetführung in Kategorien gedacht wurde, von denen die bundesdeutschen Führer nicht einmal zu träumen wagten. Denn wenn ein offizieller Vertreter der Sowjetunion sich mit mir, dem unbedeutenden Parteijugendfunktionär, über diese sehr grundsätzliche Frage unterhalten wollte, so ist dieses der sichere Beweis dafür, dass in der Sowjetführung bereits deutlich vor Herbst 1989 die Frage erörtert wurde, ob und dann in welcher Form man die Existenz des Vasallenstaates DDR aufrecht erhalten wolle und könne; ob und in welcher Form die Aufgabe der sowjetischen Präsenz in der DDR Auswirkungen auf die Beziehungen zur Bundesrepublik und möglicherweise auch auf einen dann größeren, deutschen Staat haben werde.
In den Gesprächen machte ich deutlich, dass ich bei freien Wahlen in der DDR davon ausginge, dass jene, die bislang mittelbare und unmittelbare Nutznießer des Systems waren, die SED wählen würden. Ich schätzte diesen Anteil zwischen 12 bis 20 Prozent – und ich kann mich noch gut daran erinnern, dass diese Einschätzung meinen Gesprächspartner in gewisser Weise erschütterte, denn er fragte sofort nach, wieso es nur so wenig seien. Ich erläuterte ihm daraufhin meine Einschätzung anhand der zu bedenkenden Gruppen der Bevölkerung. Dabei galt es zu berücksichtigen, dass klassische Mitläufer sich in jedem System schnell umorientieren, wenn sie die Macht urplötzlich an anderen Stellen vermuten. Die knappe Hälfte künftiger DDR-Wähler verortete ich allerdings auch deshalb bei der Union, da diese die einzige BRD-Partei gewesen war, die zumindest offiziell immer an der „Widervereinigung“ festgehalten hatte. Der Rest würde sich auf andere Parteiangebote wie Liberale und Bauern verteilen. Die Grünen spielten damals noch nicht einmal in der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle – an Bewegungen wie Bündnis 90 war in der DDR überhaupt noch nicht zu denken.
Meine Einschätzung führte zwangsläufig zu Überlegungen, wie die Zukunft der DDR aussähe, wenn dort infolge solcher freien, demokratischen Wahlen das Ergebnis in der von mir skizzierten Weise ausfiele. Schnell kamen wir beide zu der Feststellung, dass durch einen solchen Wahlprozess auch der Wiedervereinigungsprozess angestoßen würde. Die Frage des Petersburgers, ob in einem solchen Falle die NATO-Mitgliedschaft der BRD aufgekündigt werden würde, beantwortete ich aus meiner Sicht mit einem Nein. Das Angebot Wiedervereinigung gegen NATO hatte schon Stalin anklingen lassen – und es gab Mitte der 80er für die Bundesrepublikaner keinerlei Veranlassung, nach den SS-20-Nachrüstungen trotz Abrüstungsgesprächen, die sich 1987 in Verhandlung befanden, die NATO zu verlassen. Insofern stimmten Slutzkow und Ich darin überein, dass freie Wahlen in der DDR mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Beitrittsprozess der Noch-DDR zur BRD führen werde und sich dadurch an der Westbindung nichts ändere. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass die Sowjetunion eine militärische Bedrohung seitens der BRD auch als NATO-Mitglied nicht befürchtete, vielmehr ein vitales Interesse an dem hatte, was man seinerzeit als Normalisierung bezeichnete.
Den verklärten Blick auf die deutsche Revolution einordnen
Warum erzähle ich das? Noch einmal: Ich war in der Parteienhierarchie derart unbedeutend, dass ich weder für die Partei und schon gar nicht für die Unions-geführte Bundesrepublik irgendwelche Aussagen treffen konnte. Aus meinen Überlegungen irgendwelche konkreten Konsequenzen ableiten konnten die Sowjets daraus mit Sicherheit nicht – außer vielleicht der Feststellung, dass es auch in der Union Personen gab, die sich nicht als dogmatische Kommunisten- und Sowjetfresser verstanden. Die Bedeutung meiner Rolle in der Geschichte ist insofern als absolut Null anzusetzen.
Dennoch halte ich die Darlegung und Veröffentlichung der Kernpunkte jener Gespräche deshalb für historisch richtig, weil es manche mögliche Fehlbeurteilung auch hinsichtlich der „Heldenverehrung“ ins rechte Licht rücken kann.
Die Tatsache, dass Slutzkow mit mir bereits vor 1988 über demokratische Wahlen in der DDR ebenso wie über Wiedervereinigung und BRD-Zukunft sprach, macht deutlich, dass man im Kreml seinerzeit erheblich weiter gedacht hatte, als dieses im Westen bis heute unterstellt wird. Die Möglichkeit, in der DDR (und dann nicht nur dort) im Zuge von Glasnost und Perestroika freie Wahlen zuzulassen, muss zwingend bereits Mitte des Jahrzehnts Gegenstand von Erörterungen in sowjetischen Führungskreisen gewesen sein – andernfalls hätte sich der mutmaßliche KGB-Mitarbeiter Slutzkow nicht mit mir, dem unbedeutenden JU-Funktionär, darüber unterhalten.
Dass in einem solchen Falle aus sowjetischer Sicht die Befürchtung im Raum stand, die DDR an den Westen zu verlieren, war ebenfalls Gegenstand der Überlegungen. Und die Frage, wie in einem solchen Falle die Interessen der Sowjetunion respektive Russlands zu wahren sein könnten, mussten für den Kreml selbstverständlich absolut im Vordergrund stehen.
Die Hegemonialmacht wusste um ihr nahendes Ende
All das bedeutet jedoch, dass in Russland lange vor den dann tatsächlich eintretenden Ereignissen des Jahres 1989 vielleicht noch nicht recht klare, dafür aber recht konkrete Vorstellungen davon existierten, welche Folgen Glasnost und Perestroika für das Sowjetimperium würden haben müssen. Die Schlüsselfrage, ob die Hegemonialmacht angesichts der zu diesem Zeitpunkt zumindest in Polen trotz Militärdiktatur unübersehbaren Freiheits- und Absetzbewegungen wie früher in Ungarn und der Tschechoslowakei zum Einsatz der Roten Armee greifen werde, lag offenbar mit Gorbatschow recht früh auf dem Tisch. Die grundsätzliche Entscheidung gegen einen solchen Einsatz muss in den erweiterten Führungszirkeln und im KGB somit auch deutlich vor den Ereignissen des Jahres 1989 gefallen sein. Ob dieses eine Folge der wirtschaftlichen Situation der UdSSR gewesen ist, die von Ronald Reagan quasi an die Wand gerüstet worden war, oder ob die Unvereinbarkeit der russischen Glasnost und Perestroika-Ziele mit einer gewaltsamen Unterdrückung vergleichbarer Bestrebungen in den Satellitenstaaten den Ausschlag gegeben hat, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Es wäre naheliegend, beiden Gründen ihren Anteil zuzumessen.
Der Mauerfall kam nicht überraschend
Festgehalten werden jedoch sollte, dass die sowjetische Führung um Michail Gorbatschow von den Ereignissen des Jahres 1989 nicht kalt erwischt wurde. Sie hatte die Entwicklung deutlich früher erkannt als die Politiker des Westens und sie mit der Aufhebung der Breschnew-Doktrin im Jahr 1988 letztlich selbst eingeleitet – was nichts daran ändert, dass es ohne das Rumoren in den Gesellschaften der Staaten des Warschauer Pakts niemals zum Zusammenbruch des Sowjetsystems gekommen wäre.
Wenn dieser Tage der dreißigste Jahrestag des Mauerfalls – neuerlich auch postrevolutionär als Mauersturz bezeichnet – gefeiert wird, sollte bei aller Freude oder Nichtfreude unmissverständlich festgehalten werden, dass die Geschichte eine gänzlich andere Entwicklung hätte nehmen können und vielleicht hätte nehmen müssen, wären damals nicht in Moskau Menschen wie Gorbatschow an der Macht gewesen, die sich spätestens ab 1985 intensiv auch mit der Frage des Zusammenbruchs des eigenen Imperiums beschäftigten und sich für den Gewaltverzicht entschieden – wissend, dass dann zumindest Teile der europäischen Einflusszone verloren sein würden.
Und am Ende doch planlos in den Zusammenbruch
Einen konkreten Plan, wie die angestrebte Neustrukturierung zum Erhalt der Sowjetunion auf die WP-Staaten übertragen werden konnte, gab es hingegen offensichtlich nicht. Das wurde nicht zuletzt beim Gorbatschow-Besuchs anlässlich des 40. Jahrestages der DDR im Oktober 1989 deutlich, als der Russe zwar die Protestierenden ermunterte, jedoch auf erfolgversprechenden Druck auf die DDR-Staatsführung verzichtete, vielleicht noch rechtzeitig Maßnahmen einzuleiten, die die DDR als Staat und Partner der Russen hätten erhalten können. Vermutlich aber auch wusste Gorbatschow von seinen Vertrauensleuten längst, dass selbst solche Versuche den Drang der DDR-Bürger nach Westen nicht würden stoppen können, sollte seine Sowjetunion nicht in der Lage sein, mit den Verheißungen des Westens materiell und ideell mitzuhalten.
Als im November dann die Mauer brach, musste die Entscheidung des Nicht-Eingreifens im Kreml längst gefallen gewesen sein. Damit konnte der in nunmehr bereits andauerndem Protest der Bürger sich Bahn brechende Unmut und die durch die neue Sowjetpolitik verursachte Verunsicherung in den Streitkräften der WP-Staaten – von Marcus Kurschus trefflich in seinem vor der Veröffentlichung stehenden Werk „Zwischen Affirmation und Resignation – Das Offizierskorps der Nationalen Volksarmee in der Wendezeit“ aufgezeigt – dafür sorgen, dass die nicht mehr durch Moskau gestützten Systeme wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen.
Den Westen traf die Revolution unvorbereitet
Anders als die Sowjetführung, die zumindest auf das „Dass“, nicht aber auf das „Wann“ und nur in Ansätzen auf das „Wie“ vorbereitet war, wurden, wie ich durch meine damaligen Kontakte in die Bonner CDU-Zentrale erfahren durfte, die westlichen Staatsführungen von der Heftigkeit des Umbruchs kalt erwischt. Tatsächlich niemand – auch nicht die „kalten Krieger“ und offiziellen Wiedervereinigungsverfechter – hatte im Jahr 1989 ernsthaft mit dem gerechnet, was dann tatsächlich geschah. Ein Ende der DDR schien noch im Oktober 1989 in so weiter Ferne, dass selbst die Unionsführung ihn zu keinem Zeitpunkt ernsthaft ins Kalkül gezogen hatte. Die Fluchtbewegung des Sommers 1989 wurde als Ventil verstanden – nicht als Beginn eines großen Umbruchs. Man hatte sich in der BRD mit der Existenz der DDR abgefunden.
Insofern ist an dieser Stelle das Improvisationstalent Helmut Kohls umso deutlicher zu würdigen, der umgehend und – man mag sagen – instinktiv wusste, wie er die Angelegenheit nach der Maueröffnung zu handhaben hatte und damit gegen Widerstände sowohl im befreundeten Ausland als auch in der SPD die historische Chance nutzte und den Beitritt der DDR-Länder zur Bundesrepublik möglich machte. Seine menschlich-freundschaftliche Beziehung zu Michail Gorbatschow, die sich im Laufe der bilateralen Gespräche aufbaute, und die enge Bindung an den US-Präsidenten Georg Bush Senior, die dabei half, die Widerstände der unmittelbaren Nachbarn in Frankreich und vor allem im Vereinigten Königreich zu überwinden, entwickelte dann jene Dynamik, die aus dem revolutionären Protest der DDR-Deutschen über den Zusammenbruch der SED-Diktatur den Weg zur deutschen Einheit ebnete.
Ohne Gorbatschow hätte es die Vereinigung nie gegeben
Dabei sollte allerdings nie vergessen werden: Ohne Gorbatschow und die von ihm offensichtlich schon seit 1985 veranlassten Überlegungen zur Zukunft der Vasallenstaaten und der Beziehungen zu Westeuropa wären die DDR-Revolutionäre ebenso erfolglos geblieben, wie es Kohls Initiativen niemals gegeben hätte. Dass der hochbetagte Gorbatschow dieser Tage sich darüber beklagt, der Westen habe sich nach 1990 wie der Sieger im Kalten Krieg benommen, ist daher ebenso nachvollziehbar wie partiell zutreffend. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass die anfänglichen Versuche enger und vertrauensvoller Kooperation, die auch die Atmosphäre bei meinen Russland-Besuchen in den 90ern prägten, nicht nur aufgrund westlichen Fehlverhaltens scheiterten. Der Wild-Ost-Kapitalismus, der in jenen Jahren unter Boris Jelzin die russische Innenpolitik bestimmte; die Furcht der ehemaligen Satelliten- und Sowjetstaaten, vom übermächtigen Nachbarn wieder an die Kette gelegt zu werden; die Unzufriedenheit in den Reihen der Roten Armee und der KGB-Nachfolger über die Folgen des dann eben doch nicht mehr kontrollierbaren Zusammenbruchs des Sowjetsystems – wenn dem Westen vorzuhalten sein mag, zu wenig Rücksicht auf die Belange Russlands genommen zu haben, so ist Russland vorzuhalten, selbst genug Anlass gegeben zu haben, die Annäherung eher mit der Kohlenzange zu probieren.
So bleibt am Ende nur die Feststellung, dass geschichtliche Prozesse zwar absehbar und vielleicht auch einleitbar sind – sie dann jedoch regelmäßig eine Eigendynamik entwickeln, die sich dem kontrollierten oder kontrollierbaren Ablauf entzieht. Auch die DDR-Revolution teilte dieses Schicksal, obgleich sie offensichtlich zumindest in ihrer Tendenz zumindest im Kreml vorgedacht war. Als sie dann ihren Weg nahm, war ihre Eigendynamik nicht mehr steuerbar und ihre tatsächlichen Ergebnisse nicht mehr vorhersehbar. Die Idee mancher Linker, aus der DDR ein sozialistisch-demokratisches Gegenstück zur BRD zu machen, war allein schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil Sozialismus und Demokratie unvereinbar sind. Die vage Hoffnung der damaligen Sowjetführung, aus der Einparteiendiktatur eine Einparteiendemokratie zu machen, konnte ebenfalls nicht funktionieren.
Als Gorbatschows Russland den Topfdeckel der Liberalisierung angehoben hatte, gab es für den Überdruck in den Kesseln kein Halten mehr. Nur die Wiederholung von 1956 und 1968 hätte den Versuch unternehmen können, den Druck im Kessel zu halten. Dazu aber fehlte den Planwirtschaften 1989 die ökonomische Kraft – und der stalinistische Wille zur Macht. Und so konnten erst in den Satellitenstaaten Mitteleuropas, dann in den Sowjetrepubliken jene revolutionären Prozesse Oberhand gewinnen, die das Ende der Sowjetunion bewirkten. Aus dem Kreml steuerbar waren diese Prozesse spätestens ab November 1989 nicht mehr. Was letztlich auch unvermeidbar ist, da historische Prozesse eben niemals auf dem Reißbrett stattfinden, sondern sich aus dem letztlich immer unberechenbaren Zusammenspiel von Menschen, Ideen und Taten entwickeln.
Moskau konnte nur noch den Versuch unternehmen, bei den anstehenden Veränderungen für sich den größtmöglichen Restnutzen zu erzielen – aus Gorbatschows Sicht der Versuch, den Kern der Sowjetunion zu retten und eine enge und freundschaftliche Kooperation zwischen den früheren Militärblöcken und ihren politischen Vertretern zu erreichen. Warum es anders gekommen ist – und weshalb diese andere Entwicklung vielleicht sogar unvermeidbar war, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.