„Ein Hetzer ist er, seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land. Soll mir doch mal einer sagen, wann es bei uns seit Goebbels einen so begabten Demagogen wie Geißler gegeben hat.“
Der das sagte, war niemand Geringeres als der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt. Der SPD-Mann inszenierte seine Sätze 1985 als scheinbar emotionalen, plötzlichen Ausbruch – doch sie waren wohl kalkuliert und lange zuvor genau durchdacht. Denn sie sollten nur einem Zweck dienen: Die Tatsachen, die der damalige Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, über das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Vereinigten Staaten von Amerika veröffentlicht hatte, durch einen groben, verhetzenden Keil erschlagen.
Nicht die Kanzler sind die kämpferische Avantgarde
Die Szene ist in gewisser Weise symptomatisch. Politik in der Demokratie ist das Gefecht mit Wörtern und Worten, mit Bildern und Symbolen – mit Diffamierung und Stigmatisierung. Da dem zwar so ist, aber das naive Volk nach Harmonie sucht, findet in diesem ständigen Kampf eine dezidierte Rollenverteilung statt. Möglichst aus dem als Gezänk fehlinterpretierten Gefecht der Worte herauszuhalten ist der jeweilige Vortänzer – der Kanzler oder Parteichef. Er soll schließlich dem Wahlvolk regelmäßig präsentiert werden als jemand, der unterschiedliche Strömungen und Positionen zusammenführt. Der die Wünsche und Sehnsüchte der Bürger ohne große Aufregung bedient und eben jene Harmonie verbreitet, nach der der deutsche Michel sich so sehnt.
Also müssen andere in die Bütt, wenn es um gefühlte Wahrheiten und deren Verdrehung geht. Oder darum, solche gefühlten Wirklichkeiten wieder zurück auf ihre Basis von Wahrheit zurückzubringen. Denn das, was Politik und Medien dem Bürger als Wahrheit verkaufen, hat mit dieser so gut wie nie etwas zu tun. Es sind immer nur Wirklichkeiten – und die sind nichts anderes als individuelle Interpretationen und Vergewaltigungen dessen, was vielleicht als Kern einer Wahrheit bezeichnet werden könnte.
Polarisierung ist demokratischer Normalzustand
Solche Wirklichkeiten prallen im politischen Geschäft brutal aufeinander. Die demokratische Wirklichkeit eines bürgerlichen Realisten, dessen Vorfahren den Fürsten und Klerikern einst die individuellen Freiheitsrechte abgetrotzt hatten, ist eine andere als die des sozialistischen Utopisten, für den Freiheit der Gleichschritt im Kollektiv einer als besser gedachten Welt ist. So war auch damals, als Brandt und Geißler aufeinander losgingen, die sozialistische Wirklichkeit der Annäherung an die Staatsgläubigkeit der russisch dominierten Union der sozialistischen Räterepubliken eine andere als die des Glaubens an die Selbstentfaltungskräfte des Individuums, die für die damalige bundesdeutsche Union nur im engen Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu gewährleisten war.
So hatte nun Geißler seinerzeit die erst drei Jahre zuvor aus der Regierung verdrängte SPD als Partei beschrieben, die den „grundlegenden politischen Gegensatz zwischen Diktatur und Freiheit“ verwische, in der „unter der Schirmherrschaft Willy Brandts die Anti-NATO- und Neutralisierungsgruppe“ um die SPD-Linkspolitiker Oskar Lafontaine, Erhard Eppler und Egon Bahr das Sagen habe. Die Union agierte damals angesichts eines aufmarschbereiten Heeres des Warschauer Pakts an der Ostgrenze der BRD erfolgreich mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ – ein politisches Kommunikationskonzept, welches in der sozialistischen Gegenwart der heutigen BRD kaum noch nachvollziehbar scheint.
Doch damals, in der Mitte der Achtzigerjahre, konnte es die Bevölkerung polarisieren in jene, die sich an der US-Ausrichtung der Union orientierten, und jene, die hinter der aus Moskau inszenierten Friedensbewegung gegen NATO und Nachrüstungsbeschluss der mittlerweile abgelösten SPD-FDP-Regierung unter Helmut Schmidt scharten. Die Spaltung der Gesellschaft, die heute von linkstotalitären Kreisen als Mittel der politischen Gleichschaltung instrumentalisiert wird, ist insofern überhaupt nichts Neues – und schon gar keine Entwicklung der zweiten und dritten Dekade des 21. Jahrhunderts. Nur wurde sie seinerzeit nicht als „Spaltung“ ideologisiert, sondern beschrieb als Polarisierung den politischen Normalzustand in einer funktionierenden Demokratie.
Die demokratische Normalität des Widerspruchs
So prallten seinerzeit Brandt, der ausgediente und über die DDR gestolperte Ex-Kanzler, und Geißler als Generalsekretär der CDU aufeinander. Schickte der eine den politischen Gegner als Parteigänger der roten Diktaturen ins bundespolitische Abseits, griff der andere zur Nazi-Keule, um damit den Angreifer selbst in braune Diktatoren-Nähe zu rücken und so die Attacke abzublocken. Das war heftig – so heftig, dass es selbst dreißig Jahre danach noch im Gedächtnis der politischen Kaste geblieben ist und sogenannte Nazi-Vergleiche immer noch die Ultima Ratio im politischen Kampf bilden.
Dennoch war das Gefecht Geißler-Brandt nicht nur möglich, sondern letztlich auch normal. So normal eben, dass das seinerzeit von Brandt eingeführte Agieren mit der Nazi-Keule heute absolut selbstverständlich ist. Nur haben sich die Gewichte verschoben. Kämpfte in den Achtzigern eine sowohl tatsächliche wie gefühlte Antifa aus SPD und grünen Anfängen gegen die eine Bürgermehrheit repräsentierenden, freiheitlichen Demokraten in Union und FDP, so ist es heute der sozialistische Block aus großen Teilen der Union, der SPD über Grüne bis hin zu den Kommunisten, der sich regelmäßig der Nazi-Keule bedient, um missliebige Parteien und Personen, die sich vorgeblich zu weit nach „rechts“ bewegen, entsprechend zu diffamieren. Wagen es diese dann, sich dagegen mit demokratischen Instrumenten zur Wehr zu setzen, wird die Normalität der politischen Polarisierung zur staatsbedrohenden „Spaltung“ karikiert mit dem Ziel, jeden politischen Widerspruch aus dem politischen Diskurs zu verbannen.
Die Rollenverteilung bleibt unverändert
Haben sich nun die Ziele politischer Agitation geändert von der Belebung zur Vernichtung des Diskurses in der Demokratie, so ist die Rollenverteilung unverändert. Um die Führungspersonen angesichts einer harmoniesüchtigen Bevölkerung nicht zu beschädigen, müssen die Generalsekretäre der Parteien an die Frontlinie, um aus Wahrheiten gewünschte Wirklichkeiten zu schaffen. Deren Qualität entscheidet so darüber, wie die politische Weichenstellung der nächsten Zukunft aussehen wird.
Das von ihnen im Bewusstsein der Massen platzierte Narrativ als gewünschte Erzählung einer Vergangenheit und Gegenwart, die es so nie gegeben hat, legt den Grundstein dafür, wer künftig mächtig und wer machtlos sein wird. Weshalb es nicht ohne Reiz ist, angesichts der derzeit noch vielseitig geführten Gespräche über eine künftige Regierungsbildung einen Blick auf die agierenden „Generäle“ zu werfen.
Den fähigsten General hat die SPD
Um es gleich vorweg zu sagen: Über den begnadetsten Generalsekretär verfügt derzeit die SPD. Lars Klingbeil ist der entscheidende Trumpf, der am Ende den Lorbeer auf sein Haupt winden darf, sollte es der Esken-Borjans-Kühnert-SPD tatsächlich gelingen, den uncharismatischen und farblosen Technokraten Olaf Scholz zum nächsten Bundeskanzler zu machen. Klingbeil verfügt über die ausgeprägte Fähigkeit, mit einer mimischen Mischung aus Dackelfreundlichkeit und hintergründiger Arroganz Unwahrheiten und Geschichtsverdrehungen als gewünschte und gefühlte Wirklichkeiten zu verkaufen. Sein selbstgewisser, dabei fast bescheiden wirkender Auftritt zupft selbst dann an der gefühlvollen Saite der michelschen Harmoniesucht, wenn er uneingeschränkt dem politischen Instrument der Attacke zuzuordnen ist. Klingbeil ist ein Meister der Nebelkerze und der Ablenkung.
So verkündet er in der ÖR-Sprechschau gleichsam als gefühlte Kraft eines politischen Aufbruchs: „Für ein Weiter-so ist keine Zeit!“ Ein solcher Satz aus dem Munde eines Vertreters der Grünen oder der FDP machte Sinn – aber aus dem Munde eines Mannes, dessen Partei in den vergangenen 23 Jahren 19 Jahre und davon die letzten acht Jahre in Regierungsverantwortung gewesen ist, will ein solcher Satz lächerlich erscheinen. Das müsste umso mehr gelten, wenn im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung die ursprünglich einmal konservative Union mit Themen wie Kernkraft- und Kohleausstieg sowie unkontrollierter Masseneinwanderung und hilfloser Pandemie-Bekämpfung in Erinnerung ist, während Regierungspartner SPD Themen wie „Respektrente“ und flächendeckender Mindestlohn für sich verbucht.
Nicht einmal die im Koalitionsvertrag vereinbarte Abschaffung der 1991 ursprünglich auf ein Jahr beschränkten Sondersteuer mit der Bezeichnung „Solidaritätszuschlag“, die 1995 unter Helmut Kohl zeitlich unbefristet reaktiviert wurde, konnte oder wollte die Union realisieren. So sind die Merkel-Jahre in der Regierungspolitik gekennzeichnet vom Durchsetzen sozialdemokratischer und grüner Ziele – wer sich die Frage stellt, welche klassischen Unionsthemen unter der von der CDU gestellten Frau Bundeskanzler politisch umgesetzt wurden, bleibt hilflos zurück.
Die Legende von der oppositionellen Regierungspartei
Dennoch kann der 1978 in der nord-niedersächsischen Heidestadt Soltau geborene Magister der Politischen Wissenschaft, der vier seiner sechs Studienjahre durch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung finanzieren ließ, die Legende von einer Partei verbreiten, die heute als scheinbarer Garant eines Aufbruchs in den vergangenen Jahrzehnten in der Opposition gestanden haben müsste.
Alles ist relativ, wissen wir seit Albert Einstein, und das Langzeitgedächtnis des Bundesmichel offenbar notorisch ausgeschaltet. Anders zumindest lässt es sich nicht erklären, wenn das offizielle Sprachrohr einer Partei, die seit bald einem Vierteljahrhundert die Politik der Republik maßgeblich bei ständig schwindender Bürger-Zustimmung zu verantworten hat und aus der Fast-Versenkung nun leicht erholt ein wenig emporgestiegen ist, sich und die Seinen erfolgreich als die Gewinner des Neuanfangs verkaufen will.
Narrative werden durch ausbleibenden Widerspruch zu gefühlten Wahrheiten. Dass die längst von linkspolitischen Parteigängern unterwanderten Medien dieses Klingbeil ungestraft durchgehen lassen, ist angesichts der dort beförderten Euphorie für eine linksalternative Regierung nachvollziehbar. Daran ändert sich nichts dadurch, dass aus Mehrheitsgründen angesichts schwächelnder Kommunisten eine immer noch eher den bürgerlichen Traditionen zuneigende FDP eingebunden werden muss. Längst steht in Tradition der linksradikalen „Tageszeitung“ haltungsgerechte Agitation vor sachlicher Berichterstattung und journalistischem Ethos.
In gewissem Rahmen nachvollziehbar ist es auch, wenn angesichts der Machtoptionen nach der Bundestagswahl die Generalsekretäre der beiden potenziellen Koalitionspartner zur Klingbeil‘schen Chuzpe Zurückhaltung üben. Bei der FDP und den Grünen steht derzeit die Suche nach Gemeinsamkeiten vor der Auswahl des künftigen Wunschpartners. Das macht Sinn, denn tatsächlich können sich die beiden Parteien, die derzeit noch nicht an der Regierung beteiligt sind, geeint aussuchen, wer unter ihnen Bundeskanzler werden soll.
Blasse Generäle bei FDP und Grünen
Auch fehlt den Generalsekretären von FDP und Grünen jener medial dominierende Narrativismus, der einen Klingbeil vor allem anderen auszeichnet. Als eher blasser, sachorientierter Erklärer kommt Volker Wissing daher. Wissings nüchterne, uncharismatische Art strahlt Unaufgeregtheit aus – Grundvoraussetzung, um dem Harmoniebedarf der Bundesbürger gerecht zu werden, doch ungeeignet, um die politische Schlacht zu schlagen. Der 1970 in der Pfalz geborene Volljurist überlässt das Feld des öffentlichen Glanzes seinem Vorsitzenden Christian Lindner, der gegenwärtig den Rollenwechsel von oppositionellem Angreifer zum visionären Ministeraspiranten und Königsmacher übt und dabei vor allem darauf Wert legt, nicht wie vor vier Jahren verschnupft über eigene Unzulänglichkeiten und eine staatspolitisch versierte Domina zu stolpern.
Weitgehend aus dem Geschäft ist Michael Kellner, der als Politischer Bundesgeschäftsführer der Partei Bündnis 90/Die Grünen dort den Posten des Generalsekretärs wahrnimmt. Der 1977 in Gera geborene Politiker, über den weder der Wikipedia-Eintrag noch der von ihm selbst ins Netz gestellte Lebenslauf verrät, ob er sein vermutlich 1996 oder 1997 begonnenes und 2002 beendetes Studium der Politischen Wissenschaft erfolgreich abgeschlossen hat, trägt die Hauptverantwortung für das Baerbock-Desaster mit den gefakten Lebensläufen, unkontrollierten Plagiaten und nicht zuletzt undurchsichtigen Studien-Finanzierungen aus Parteikasse und parteinahem Stipendium. Kellners Tage als Chefstratege und Frontkämpfer der Grünen dürften gezählt sein. Hat er Glück, erhält er in einer künftigen Bundesregierung eine persönliche Überlebenssicherung als Parlamentarischer Staatssekretär. Bis dahin darf er weitgehend zahnlos die Partei verwalten – die Führung und Repräsentanz nach Außen hat Koalitions- und Königsmacher Robert Habeck übernommen.
Die unerträgliche Leichtgewichtigkeit des unionistischen Seins
Ist es insofern naheliegend, dass Klingbeils Märchenstunden, von Medien und potenziellen Partnern unkommentiert, auf das Volk niedergehen können, wäre es nun die Stunde des Unions-Generalisten, die unverzichtbar wäre, jedoch nicht einmal die Qualität der Stunde des Komödianten hat. Pawel „Paul“ Ziemiak, 1985 in Stettin, der 1945 im Widerspruch zur ursprünglichen Verabredung der Alliierten durch die Sowjetunion an Polen übergebenen Hauptstadt Pommerns, geboren, wirkt unkonzentriert, strahlt eine Aura von Schläfrigkeit und Realitätsverweigerung aus.
Das Verhängnis der merkelisierten Union
Geschichtsvergessen das eine wie das andere Label künftiger Regierungsaspiranten, wenn sie seit Jahrzehnten selbst die Geschicke der Republik bestimmten. Dabei hätte das CDU-Duo im Untergang sogar eine Chance gehabt, die „Zukunftskoalition“ mit mehr Wahrhaftigkeit zu füllen, als dieses die Aufbruchskoalition der SPD-Konkurrenz unter dem Vizekanzler jemals wird leisten können.
Allerdings hätte dieses vorausgesetzt, die von Laschet für die Zeit nach seiner Regierungsübernahme geplante Abrechnung mit der sozialistischen Politik seiner Vorgängerin bereits in den Wahlkampf vorzuziehen. Davor aber scheuten Laschet ebenso wie sein Studienabbrecher zurück – bedingt aus einer fatalen Mischung aus Charakterschwäche und der Angst, merkelistisch-wählende Unionsanhänger zu verschrecken und sie zurück in die Küche vor allem der SPD zu treiben. Sie trieben sie dennoch, ihre früheren und weniger frühen Anhänger. Die einen nach „rechts“ zur tatsächlich oppositionellen AfD, die anderen zu jenen, von denen sie wegen der Linkspolitik Merkels gekommen waren, deren Fortsetzung sie sich unter Laschet nicht vorstellen konnten.
Ziemiak, nicht erkennbar im Schatten seiner durchschlagskräftigen Vorgänger Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, verblasst gegen Klingbeil, der die Klaviatur des Generalsekretärs perfekt beherrscht. Ist der eine das Sinnbild einer von innen zerstörten CDU, versucht sich der andere als Phoenix aus der Asche. Nachdem die Sondierungsarmee der Union wie erwartet das Wasser nicht halten konnte und damit insbesondere den eigentlich geneigten Partner FDP verärgerte, stehen vor allem wegen der Unfähigkeit des Unions-Personals die Zeichen nun auf Rot-Grün-Gelb. Für Laschet und Ziemiak wird das Karriereende eingeläutet – und Klingbeil hat ideale Chancen, unter einem nichtssagenden Kanzler ganz nach oben durchzustarten.