Im Allgemeinen, liebe Leser, bemühe ich mich in meinen Texten um Sachlichkeit. Was bedeutet, ich versuche, Zusammenhänge darzulegen, sich daraus abzuleitende Konsequenzen aufzuzeigen. Wenn ich einen Text abgeschlossen habe, dann verbinde ich das mit der Hoffnung, dass der Leser daraus die eine oder andere Denkanregung mitnehmen wird. Was wiederum nicht bedeutet, dass er nun die von mir dargelegte Auffassung zu teilen hat – ich gehe davon aus, dass meine Leser erwachsen genug sind, auf der Grundlage von Denkanstößen eigene, wohldurchdachte Positionen zu entwickeln. Die Mehrheit der auf diese Texte als Reaktionen erfolgenden Kommentare scheint mir recht zu geben. Manche sind sogar derart weitgehend, dass sie beispielsweise Details, auf die ich der Textlänge halber verzichtete, nachlegen. Andere tragen eigene Aspekte zu den Überlegungen bei – und wirken so auch an künftigen Texten mit. Nur eine verschwinden kleine Minderheit dreht sich permanent im Kreise des eigenen Weltbildes – unfähig abstrakt über den Rand des eigenen, hinter irgendwelchen Wolken verschwimmenden Horizonts hinaus zu denken. Immerhin – auch ihnen biete ich offenbar genug Anreiz, sich mit meinen Texten zu beschäftigen. Was kann man als Schreiber mehr wollen?
Gedankliche Experimente
Der Jahreswechsel ist traditionell mehr eine Zeit der Rückschau als eine der Vorschau. Medial werden die sogenannten Highlights des vergehenden Jahres aufbereitet – dabei auch negative Erfahrungen nicht vergessen. Zeit also auch für mich, einen Jahresrückblick zu starten? Oder vielleicht unter dem Anspruch, vorausschauend zu denken, schon den Blick nach vorn, in eine ungewisse Zukunft richten? Oder etwas noch anderes tun – und einfach den Gedanken freien Lauf lassen? Vielleicht auch noch nicht bis zu Ende Gedachtes in den Raum stellen?
Wie so vieles dessen, was ich in meinem Leben getan habe und tue, soll deshalb nun hier ein weiteres Experiment folgen. Ein Experiment, das vielleicht in gewohnter Manier provoziert, den Anspruch meines Gegenübers herausfordert. Ein Experiment vielleicht auch eben deshalb, weil die Gedanken eben nur angerissen werden, um Anstöße zu geben. Vielleicht auch nur Impulse auf etwas, das künftig auf uns zukommen – und das deshalb für die nächsten Monate bedenkenswert sein könnte.
Womit beginnen?
Womit beginnen? Worauf konzentrieren? Es gäbe viel zu schreiben über die Entwicklungen in Südamerika und Afrika, wo gewählte sozialistische und nicht-sozialistische Regierungschefs sich mit aller Gewalt ihrem Ausscheiden widersetzen. Es gäbe viel zu schreiben darüber, wie unsere Medien sich an wenigen Toten festklammern, die auf ihrer freiwillig gewählten, illegalen Einreise nach Europa scheitern, während weltweit durchschnittlich Jahr für Jahr rund 120.000 Menschen fast schon unbemerkt an Krieg und Gewalt zugrunde gehen. Es gäbe viel zu schreiben darüber, wie die anhaltende Bevölkerungsexplosion nicht nur die letzten Lebensräume freilebender Tiere und diese aus Gewinnsucht gleich mit vernichtet. Es gäbe viel zu schreiben darüber, wie die Menschheit sich mit der Vernichtung der grünen Lungen von Brasilien über Kongo bis Indonesien selbst die Luft zum Atmen nimmt. Es gäbe viel zu schreiben darüber, wie der Raubbau und die Verschmutzung der Meere die biologischen Systeme zerstört und die Japaner gut daran tun, schon einmal über den Nährwert von Quallen nachzudenken.
Kurz: Es gäbe unendlich vieles, was dank der Unvernunft der Menschheit zu beklagen wäre. Statt nun allerdings dieses zu tun, möchte ich mich auf einen Aspekt konzentrieren, der immer wieder durchklingt und der dennoch das Bewusstsein der Menschen selbst bei uns in Europa kaum zu erreichen scheint.
Das Ende des demokratischen Experiments
Wer dieses vergangene Jahr politisch Revue passieren lässt, dem sollten sich vor allem zwei Aspekte ins Bewusstsein drängen. Zwei Aspekte, die in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander stehen, und die uns als Deutsche und Europäer zumindest kurzfristig deutlich direkter berühren als jene oben angerissenen globalen Probleme.
Wenn wir die Signale des vergangenen Jahres richtig deuten, dann kommen wir an der Feststellung nicht vorbei, dass sich unser demokratisches Staatsmodell, einst erdacht, um den Ausgleich zwischen kollektivem Gemeinwohl und individueller Freiheit zu ermöglichen, in einer tiefen Krise befindet. So will es sehr gut möglich erscheinen, dass dieses Jahrhundert – und vielleicht schon dieses und das kommende Jahrzehnt – als jene in die Geschichte eingehen, die das Ende des demokratischen Experiments erlebt haben. Die Zeichen dahin sind unübersehbar.
Die Renaissance der „starken Männer“
Gleichzeitig konnten und können wir In der großen, der internationalen Politik die Renaissance der „starken Männer“ erleben.
Da ist beispielsweise Vladimir Putin, dem es gelungen ist, sein wirtschaftlich und innovativ auf Entwicklungslandniveau dahin dümpelndes Russland wieder zum Global Player zu machen. Es zeigte sich hier die klassische Erkenntnis der Evolutionsbiologie, wonach unbesetzte Biotope schnell jemanden finden, der die sich bietende Chance zu nutzen weiß. Da die USA den von ihnen unterstützten Aufstand gegen den syrischen Machthaber nur halbherzig begleiteten, sah Russlands Regent seine Chance und ergriff die Initiative. Einmal mehr erwies sich der ohne Strategie agierende Putin als Meister der Taktik. Heute hält er den Schlüssel zu Frieden oder Krieg in Syrien in den Händen – und die USA sind zum Zuschauer degradiert.
Die Faszination, die diese Entschlossenheit Putins ausstrahlt, erfasste nicht nur die Mehrheit seiner russischen Mitbürger, sondern auch demokratisch gewählte Politiker wie den künftigen US-Präsidenten Donald Trump und den in einem elitären Ausleseprozess zu inaugurierenden deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier.
Wie 1933 möglich war
Nicht nur die Deutschen hatten sich nach 1945 immer wieder gefragt, wie 1933 möglich war.
Nun – heute kennen wir die Antwort. Der Blick auf die Türkei des Jahres 2016 zeigt exemplarisch, wie Gleichschaltung und Oppositionsvernichtung funktioniert. Und wie wenig Widerstand sich dagegen regt, wenn all dieses mit der notwendigen Entschlossenheit durchgesetzt wird.
Der herbeigeputschte Staatsstreich gab dem national-islamischen Erdogan die Instrumente, seine immer noch demokratisch funktionierende Türkei in eine faschistische Diktatur umzubauen. Wer nicht auf Linie ist oder gar als Oppositioneller begriffen wird, verliert erst Job, dann Freiheit – dann vielleicht sogar das Leben. Bevölkerungsgruppen, die nicht in das irrationale, staatlich verordnete völkische Reinheitsgebot passen, werden über einen faktischen Krieg gegen die eigenen Bürger erst zu Binnenflüchtlingen – über eine halbe Million mittlerweile – dann vielleicht zu tatsächlichen Flüchtlingen oder zu Opfern von Kälte und Hunger. Das jungtürkische Muster zur Vernichtung der Armenier feiert Wiederauferstehung – und wurde der Genozid 1915 zumindest noch durch deutsche Diplomaten protokolliert, so wird heute so getan, als geschähe nichts.
Wieder ist es die Entschlossenheit, die diesen Erdogan, der in der Türkei die Demokratie zu Grabe trägt, dennoch bei breiten Schichten seines Volkes zum Helden werden lässt.
Die Entschlossenheit des Donald Trump
Selbst die USA, klassisches Musterland der Demokratie, scheinen vor der Faszination der Entschlossenheit nicht gefeit. Donald Trump wurde nicht gewählt, weil er realistische politische Ideen im Gepäck hatte. Er wurde auch nicht gewählt, weil er über eine zukunftsorientierte Vision für das Riesenland verfügte. Die Amerikaner wählten ihn, weil er entschlossen auftrat – ihnen das Gefühl eines Machers an Stelle eines zögerlichen Verwalters vermittelte. Ob Trump ähnliche Wege wie Putin und Erdogan geht? Vermutlich würde er dieses, ohne sich dessen bewusst zu sein, gern tun, wenn sich die amerikanische Demokratie als instabil erweisen sollte. Mehr Durchgriff, mehr direkte Machtumsetzung – weniger Opposition und vor allen weniger kritische Medien. Machen statt abwägen. Widerstände nicht ausdiskutieren, sondern undiskutiert aus dem Weg räumen.
Deutschland Abschied von der Demokratie
Womit wir nun bei der Bundesrepublik Deutschland sind, die laut ihren Protagonisten immer noch urdemokratisch ist. Aber wie demokratisch ist sie tatsächlich?
Es sind nicht nur die Vermengung der demokratischen Institutionen, die Legislative und Exekutive ineinander aufgehen und die Judikative zum Instrument der Exekutive verkommen lassen. Wenn Regierungsmitglieder gleichzeitig Mitglied des Organs sind, dass sie selbst kontrollieren soll, dann stimmt etwas nicht. Wenn gewählte Abgeordnete sich nicht mehr zur Kritik befähigt sehen, weil sie damit den eigenen Karrierechancen schaden, dann wird das parlamentarische System zur Farce. Wenn oberste Verfassungsgerichte beginnen, sich als politische statt juristische Instanzen zu begreifen, dann ist die Demokratie der Gewaltenteilung am Ende.
Wenn Meinungsfreiheit als „Hate-Speech“ unter Generalverdacht gestellt wird, Religionskritik als “Rassismus“ diffamiert und Satire als „Fake-News“ gelabelt zur Straftat werden kann, dann schiebt sich die Demokratie den Deckel auf den eigenen Sarg. Der politische Diskurs, unverzichtbare Basis eines jeglichen demokratischen Systems, ist in Deutschland längst dem Meinungsdiktat einer vorgeblich „guten“ weil „richtigen“ Weltsicht geopfert.
Die tatsächliche Alternativlosigkeit, die sich bei der Benennung der potentiellen Bewerber um das wichtigste Regierungsamt aufzeigt, ist ein weiterer Nagel zum Sarg der Demokratie. Die reine Lehre der Demokratie ist faktisch längst zur Leere des Systems geworden – und die Abgehobenheit und Basisferne der Akteure treibt täglich mehr Bürger in die Suche nach jemandem, der die Entschlossenheit beweist, mit all den Irrwegen, die Meinungsdiktat und die Illusion von einer besseren Welt gezeugt haben, aufzuräumen. Damit wächst die Gefahr, dass nur noch jemand mit der Entschlossenheit eines Putin, Erdogan oder Trump fehlen könnte, um das bundesdeutsche System aus den Angeln zu heben und in Richtung auf eine autoritär agierende Präsidialdemokratie.
Das Zeitalter der Macher
Wenn ich nun nach diesen wenigen Beispielen, die sich weltumspannend beliebig ergänzen ließen, eine Quintessenz ziehe, dann ist dieses jenseits jeglichen Versuchs eines psychologisch-wissenschaftlichen Erklärungsansatzes schlicht die Feststellung, dass offensichtlich zunehmend mehr Menschen nach durchsetzungsfähigen Männern suchen und für diese bereit sind, auf eigene Freiheiten zu verzichten. Die Signale für die kommenden Jahre scheinen auf zunehmend mehr politisches Diktat zu stehen – auf vermeintlich starke Männer, die tatsächlich lediglich entschlossen genug sind, ihr eigenes Wollen über alle Bedenken einer demokratischen Kultur zu setzen. Für die politische Linke gelten solche Menschen in Ermangelung eigener Durchsetzer derzeit als Rechte. Allerdings zeigen Personen wie Lenin und Stalin, Castro und Chavez, dass auf der vermeintlichen Linken ebensolche Figuren zu finden sind – und die Unterschiede zwischen Hitler und Stalin, Putin und Erdogan am Ende eher marginal wirken.
Bemerkenswert bleibt so zum Jahreswechsel die Erkenntnis, dass offenbar ein Gros der Menschheit mit dem, was Philosophen unter dem Begriff der individuellen Freiheit erdachten, überfordert ist und sich statt dessen lieber den Entschlossenen unterwirft. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass das patriarchalisch-totalitäre Erbe der Menschheit, das offenbar den Aufstieg dieser Spezies erst ermöglicht hat und das bis heute in der Vision von großen Weltreichen ebenso wie Eingotteskulten gefeiert wird, das eigentlich Beständige der menschlichen Evolution ist.
Die kurzen Ausflüge in demokratische Strukturen der Chancengleichheit wie der Emanzipation wären dann nur kurze Ausrutscher in als gescheitert anzusehenden Testläufen. Die Demokratie, einst als optimales Herrschaftssystem der gleichen Teilhabe aller gedacht und mittlerweile bereits zu einer selbstreferenzierenden Plebsokratie geworden, scheint jenseits jeglicher persönlichen Wertung ein Auslaufmodell der menschlichen Geschichte zu sein.