Tichys Einblick
Eskalation im Ukraine-Krieg

Explosion auf der Krim-Brücke – Überlegungen zu Ursachen und Folgen

Auf Bitten der Redaktion hat sich TE-Autor Tomas Spahn die Bilder und Filme der Explosion auf der Krim-Brücke angeschaut. Hier seine kurze Zusammenfassung über mögliche Ursachen und Konsequenzen.

Kertsch, Russland, 8. Oktober 2022

IMAGO / ITAR-TASS

Tatsächlich wirkt es so, dass aus heiterem Himmel auf der Fahrbahn eine massive Explosion erfolgt ist. Anscheinend kommt es dann noch kurz danach zu einer zweiten. Von Fremdeinwirkung (Drohnen/Raketen) ist nichts zu sehen. Dagegen spricht auch, dass die Russen ihre in der Vergangenheit häufiger eingesetzten Abwehrmaßnahmen an der Kertsch-Brücke nicht aktiviert hatten.

Das deutet unmittelbar auf den Einsatz einer Autobombe hin, die in einem Lastwagen positioniert gewesen sein dürfte, welcher auf den Aufnahmen kurz vor der Explosion zu sehen ist. Die zweite Explosion und der Brand der Tankwaggons ließe sich dadurch erklären, dass Bombensplitter in die Waggons eingedrungen sind und dort das brennbare Material entzündet hatten. Auf den Bildern nach dem Brand ist zu sehen, dass eine der beiden Doppel-Fahrbahnen ins Meer gestürzt ist. Die zweite scheint weitgehend intakt, wobei sich keine Aussagen über die Konstruktion treffen lassen, die möglicherweise auch beschädigt sein könnte. Jüngste Informationen aus Moskau scheinen auf eine solche Situation hinzuweisen.

Die Bahntrasse scheint infolge der Brände weitgehend zerstört, aber nicht eingestürzt. Jüngsten russischen Meldungen zufolge läuft der Zugverkehr zwischen der Krim und Russland inzwischen wieder. Einzelne PKWs befahren den verbliebenen Fahrstreifen; für LKWs bleibt er vorerst gesperrt. LKWs warten auf Fährschiffe, die es allerdings nicht gibt.

In beiden Fällen wird eine Reparatur nicht kurzfristig zu bewerkstelligen sein, das heißt, die Krim ist weitgehend von der russischen Logistik abgeschnitten, was wiederum die unmittelbare Reaktion des dortigen Kreml-Gouverneurs veranlasst hat, die Lebensmittel zu rationieren. Zwei Überlegungen:

1. Wer ist der Verursacher?

Um uns dieser Frage zu nähern, sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen:

a. Der Lkw nebst Fahrer muss in der angespannten Situation gänzlich unverdächtig gewesen sein. Das bedeutet in der Konsequenz, dass dieses Fahrzeug keinerlei Auffälligkeit organisierte, also nicht auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden gewesen ist. Da die Kertsch-Brücke ein hochsensibles Kriegsobjekt ist – wie auch die Überwachungskameras zeigen – werden ähnliche Lkw regelmäßig die Brücke genutzt haben.

b. Es ist schwer vorstellbar, dass es sich um irgendetwas anderes als um einen Anschlag gehandelt hat, bei dem der Fahrer sich selbst geopfert hat.

c. Es ist schwer vorstellbar, dass die Inbrandsetzung des Güterzuges dem Zufall geschuldet ist. Ganz offensichtlich legte es der Täter darauf an, den brennbaren Zug zu treffen, um damit größtmöglichen Schaden zu verursachen. Das aber bedeutet, dass der Täter beim Start seiner Aktion bereits fest auf die Situation der gleichzeitigen Anwesenheit auf der Brücke ausgesteuert gewesen ist. Wo auch immer er losgefahren sein wird, muss er ein festes Zeitmuster im Auge gehabt haben. Gleichzeitig bedeutet das auch, dass der Täter genau gewusst haben muss, wann der Zug wo sein wird – folglich muss dessen Startzeit sowie die Fahrtstrecke mit Zeitfenster bekannt gewesen sein. Diese beiden Faktoren – ein Stopp des LKW, um gegebenenfalls auf einen verspäteten Zug zu warten, wäre auf der Brücke sofort der Überwachung aufgefallen und ist auch nicht erfolgt – belegen, dass hinter dem Anschlag eine langfristig geplante, gut durchdachte Logistik steckt, deren tatsächlich perfekte Zeitplanung optimal funktioniert hat.

d. Ein ukrainisches Sabotagekommando hätte eine solche Handlung in dieser Präzision kaum organisieren können – zumindest nicht dann, wenn es nicht gut vernetzte Komplizen innerhalb des russischen Apparats gehabt hätte. Selbst dann, wenn der Güterzug fahrplanmäßig seine Route fahren sollte (was bei Güterzügen eher ungewöhnlich ist), muss der Täter gewusst haben, wann der Zug wo gestartet ist bzw. wann er sich wo bewegt hat. Andernfalls wäre die Präzision des Anschlags nicht möglich gewesen. Entweder also, irgendwo entlang der Strecke hat jemand gewartet und Ort und Zeitpunkt der Durchfahrt so rechtzeitig mitgeteilt, dass der Lkw unverdächtig losfahren konnte – oder der Täter stand in unmittelbarer Verbindung mit Verantwortlichen des Bahnbetriebs. In beiden Fällen stellt sich zudem die kaum zu beantwortende Frage, wie die Information vom Informanten zeitgerecht den Täter erreichen konnte, ohne dass russische Dienste dieses bemerkten. Vorstellbar ist das nur, wenn ein Bahnmitarbeiter auf der Krim die entsprechenden Informationen vom Startbahnhof bekommen hat und er daraufhin nach Streckenplan den Attentäter ohne Fernkommunikation losschicken konnte.

e. Die Explosion MUSS händisch ausgelöst worden sein, weil nur so die Zeitgleichheit von Bombe und Zug gewährleistet werden konnte. Das spricht unmittelbar dagegen, dass der Fahrer des Lkw nicht um seine Fracht wusste, die Explosion also beispielsweise von einem nach hinten versetzten Fahrzeug ausgelöst wurde – umso mehr, da aufgrund des Sicherheitsabstandes und der Ermöglichung einer Flucht der Abstand hätte deutlich ausgeprägt sein müssen, womit nicht zu gewährleisten gewesen wäre, dass die Explosion tatsächlich zielgenau ausgelöst werden konnte. Es deutet insofern alles darauf hin, dass der Fahrer selbst die Explosion ausgelöst hat.

f. Selbstmordattentate – welches unter Berücksichtigung aller Faktoren die wahrscheinlichste Möglichkeit ist – sind nicht unbedingt Standardwerkzeug europäischer Täter. Zwar ist nicht grundsätzlich auszuschließen, dass ein ukrainischer Sabotagetrupp über jemanden verfügte, der sich selbst für den Anschlag opfert – aber das entspricht nicht dem gängigen Muster. Typisch hingegen ist es für islamische Täter. Denken wir diesen Faden weiter, so kämen eher als die Ukrainer innerrussische, islamisch geprägte Widerstandsbewegungen als Täter in Betracht. Dafür spricht zudem die Präzision der Ausführung mit der dazu unverzichtbaren Situationskenntnis. Potenzielle Täter wären dann beispielweise Krimtataren oder Dagestani oder auch überlebende tschetschenische Widerstandsgruppen, die in dieser Tat die zutreffende Chance gesehen haben, das russische System ins Mark zu treffen.

g. Unterstellt, dem wäre so, dann gibt es dennoch Fakten, die auf eine ukrainische Beteiligung hinweisen. Am 7. Oktober hatte die Rada den russischen Kolonialismus als Grundübel beschrieben. Der Parlamentspräsident und die Regierung starteten Aufrufe an die Völker der RF, sich vom russischen Joch zu befreien. Nicht einmal einen Tag später kommt es auf der Kertsch-Brücke zu einem Selbstmordanschlag von erheblicher Tragweite – weitaus bedeutender, als sich irgendwo auf einem Marktplatz oder vor einer Moschee in die Luft zu sprengen. Zudem muss dieser Anschlag von langer Hand vorbereitet gewesen sein. – Ist es vorstellbar, dass wir es hier mit einem zufälligen Zusammentreffen unterschiedlicher Ereignisse zu tun haben, die offensichtlich in eine identische Richtung zielen? In ersten Reaktionen aus ukrainischen Regierungskreisen heißt es, dass Russland alle besetzten Gebiete verlieren muss. War also der Rada-Beschluss das geheime Startsignal für innerrussische Partisanenoptionen? Das wäre nur denkbar, wenn die Ukraine in solche Widerstands- und Separatismusgruppen seit geraumer Zeit enge Kontakte unterhält. Selenskyjs Aufruf der Abspaltung wäre dann weit mehr als nur ein symbolischer Akt.

h. Gibt es andere, in Zeitfolge und Durchführung plausible Möglichkeiten? Zumindest keine, in denen die einzelnen Faktoren derart optimal ineinandergreifen.

2. Was sind mögliche Folgen?

a. Bislang hat Russland die Ukraine nicht verantwortlich gemacht, noch hat die Ukraine die Verantwortung übernommen. Laut Kreml hat Putin eine spezielle Untersuchungskommission eingesetzt, die den Vorgang untersuchen soll. Auch das spricht nicht dafür, dass Russland unmittelbar von einer ukrainischen Verantwortung ausgeht. Denkbar ist zudem, dass Putin selbst dann, wenn er eine ukrainische Verantwortung annimmt, diese offiziell ausschließt, weil eine entsprechende Zuweisung das Versagen seines Krieges verdeutlichen würde. Gleichwohl kann es sein, dass Russland diesen Angriff auf das Prestige- und Logistikobjekt zum Anlass für gezielte Schläge gegen die ukrainische Infrastruktur nimmt und damit die Situation eskaliert.

b. Eine solche Entwicklung könnte zudem eine weitere Gruppe als Täter in den Fokus rücken: Die russischen Hardliner, die seit einiger Zeit daran arbeiten, den Überfall zu eskalieren. Ist es vorstellbar, dass diese Gruppe die logistische Versorgung der Krim nachhaltig beschädigt (umso mehr, da nicht absehbar war, dass möglicherweise eine Straßentrasse den Anschlag übersteht) und damit scheinbar Russland erheblichen Schaden zufügt? Ja – unter der Prämisse, dass damit der Handlungsdruck auf die „Zögerer“ unerträglich werden soll, weil nun die Sicherung der Landverbindung um jeden Preis oberste Priorität haben muss. Hier stellt sich zudem die Frage, ob es Verbindungen der hochpräzise durchgeführten Anschläge auf die Ostsee-Pipelines zum Brückenanschlag gibt.

c. Unabhängig davon könnte die weitgehende Zerstörung der Brücke jedoch bei den prorussischen Krim-Bewohnern eine Panik verursachen, die eher für nicht-prorussische Täter spricht. Die weitgehende Zerstörung der Brücke in Verbindung mit den bisherigen Offensiv-Erfolgen der Ukraine könnte bei prorussischen Krimbewohnern und Kollaborateuren eine psychische Situation erzeugen, die von der Angst geprägt wird, demnächst von den Ukrainern überrollt und ohne russischen Schutz zur Verantwortung gezogen zu werden. Die unvermeidbare Konsequenz wäre eine erkennbare Absetzbewegung entsprechender Personenkreise in die Oblast Rostow – also über den verbliebenen Brückenrest bzw. die reaktivierte Fährverbindung, da alle anderen Wege durch die besetzten Gebiete höchst unsicher sind. Eine solche Entwicklung wäre ohne Zweifel im Sinne der Ukraine und könnte den maroden Zustand der russischen Situation noch deutlicher aufzeigen als bisher. Zudem wären (und dürften es bereits sein) die russischen Einheiten verunsichert, die im Westen des besetzten Gebietes stehen. Ihre bisher gedachte finale Rückzugsmöglichkeit über Kertsch ist nun mehr als gefährdet. Der Anschlag könnte sich also unmittelbar auf die Moral der Truppen in Cherson und Saporischschja auswirken vor allem dann, wenn nun auch unmittelbarer Nachschub ausbleiben sollte.

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