Christdemokraten sind traditionell bürgerlich. Sie sind duldsam, gern auch ein wenig obrigkeitsgläubig, weil sie immer noch der Auffassung anhängen, dass „die da oben“ schon wüssten, was sie tun. Als Etatisten gehen sie mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Schmunzeln davon aus, dass Gott jenen, denen er ein Amt gibt, auch den Verstand gegeben haben müsse. Und doch sind sie nicht dumm. Ganz im Gegenteil verfügen die meisten von ihnen über einen gehobenen Bildungsabschluss, haben es in ihrer beruflichen Laufbahn zu einigem gebracht.
Deshalb erwarten sie auch dann, wenn sie in die Partei eingetreten sind, von den politischen Vertretern, dass diese für Volk und Vaterland einen guten, verantwortungsvollen Job machen. Sie eint die Überzeugung, dass ihr Deutschland ein Land derjenigen ist, die sich zu diesem Land bekennen und die es nach dem Krieg wieder aufgebaut haben. Sie glauben fest daran, dass dieses Deutschland nichts und niemanden zu fürchten hat, wenn es seine Fähigkeiten nutzt, sich nicht ausplündern lässt und den eigenen Wohlstand nicht bedenkenlos aufs Spiel setzt. Sie gehen davon aus, das Deutschland ein friedliches Land sein muss – doch sie wissen auch, dass Frieden und Freiheit kein göttliches Geschenk ist, sondern von den Deutschen ständig wieder erarbeitet werden muss.
Christdemokraten neigen nicht zur Revolution
Bei all dem – das liegt auf der Hand – neigen sie nicht zu Revolutionen. Ganz im Gegenteil, denn sie ahnen, dass Revolutionen ihnen eher Nach- als Vorteile bringen werden. Dass eine Revolution sie um das, was sie und ihr Volk in mühsamen Jahren aufgebaut haben, bringen und den Frieden vernichten werde.
Die verantwortungsbewussten Vorsitzenden der Partei wussten all dieses. Sie wussten, dass Politik geräuschlos funktionieren muss, um die Parteimitglieder zu binden und zu halten. Sie wussten, dass ihre Klientel bürgerlich und strukturkonservativ ist, ohne dass sie deshalb etwa Zukunftsverweigerer wären. Sie wussten auch, dass ihre Klientel auf Redlichkeit allergrößten Wert legt. Nicht nur im privaten Umgang, sondern auch in der Politik. Deshalb konnten sich von Adenauer bis Kohl alle Vorsitzenden darauf verlassen, dass ihre Mitglieder und ihre Wähler treu zur Fahne stehen würden. Erst als nach der Abwahl Kohls die Unredlichkeiten der Parteienfinanzierung auf den Tisch kamen, folgten sie dem Ruf des Wandels und machten Angela Merkel zu ihrer Vorsitzenden. Als Ostdeutsche galt gesichert: Sie war nicht in die Klüngel der alten Bundesrepublik verstrickt – und viele Jahre schien es so, als ob sie tatsächlich die Traditionen der Christdemokraten mit dem Willen zur notwendigen Erneuerung der Partei verbinden könne. Deshalb hielten die Christdemokraten ihr die Treue. Deshalb gingen sie auch noch für sie in den Wahlkampf, als sie mit ihren anti-bürgerlichen Schnellschüssen von Aussetzung der Wehrpflicht über den überhasteten Ausstieg aus der Kernenergie bis zur Zerstörung des klassischen Ehe-Ideals eine Grundposition der Union nach der anderen vernichtete.
„Merkel muss weg!“
Den Unmut, den der eine oder andere dabei spürte – von den auf rotgrün orientierten Medien schnell als „Konservativer“ gelabelt, schien man ertragen zu können. Und doch machte er spätestens mit der rechtswidrigen Öffnung der Grenzen für Armutseinwanderung aus aller Herren Länder den Weg frei für die AfD, die bei den meisten Kritikern in den Reihen der Union nur als Instrument der Disziplinierung der eigenen Führung gelitten wird. Mit den Höckes und manchen anderen, die dort aus der Zeit gefallenes Gedankengut vertreten, wollte man nichts zu tun haben. Das ist nun vorbei. Seit dem Dienstag der zweiten Februarwoche des Jahres 2018 brechen die Dämme. Der Protest – nein, der Widerstand – wird hörbar und immer lauter.
Der Vorsitzende einer Parteiuntergliederung, seit vielen Jahren in der Erwachsenenbildung tätig, spricht offen davon, dass die Merkel-Union für ihn nicht mehr wählbar ist. „Das alte Straußwort gilt nicht mehr. Die Union sitzt in der Zwickmühle. Folgt sie weiter Merkels Kurs, dann entsteht rechts neben der Union eine neue 30-Prozent-Partei. Und das ist auch gut so. Kehrt die Union zu ihren klassischen Werten zurück, gibt sie auf dem linken Flügel das frei, was der SPD weggelaufen ist. Wir werden demnächst einen Exodus von Parteimitgliedern erleben, die entweder direkt zur AfD gehen – oder eine neue, bürgerlich-demokratische Bewegung gründen. Ein Großteil der Mitglieder ist für Merkel nicht mehr zu haben.“
Eine Frau in den besten Jahren, lange Zeit aktiv und ebenfalls Chefin einer Parteiuntergliederung, stellt fest: „Ich rate allen davon ab, heute noch in die Union einzutreten. Die Partei ist am Ende. Merkel hat sie kaputt gemacht.“ Und sie berichtet von zahllosen Anrufen langjähriger Vertrauter, die ihr Ausscheiden aus der Union ankündigen. Eine habe sogar berichtet, sie werde sich ab sofort regelmäßig vor das Rathaus stellen mit einem großen Transparent, auf dem stehen werde: „Merkel muss weg!“
„Alle Wertmaßstäbe verloren“
Ein hoher Offizier der Bundeswehr, ebenfalls seit Jahrzehnten Mitglied der Union, erklärt öffentlich, er habe nun beim Parteivorstand seinen „Protest gegen Merkel und die Zerstörung Deutschlands“ schriftlich niedergelegt – „diese Partei ist nicht die, wegen der ich in die Union eingetreten bin. Merkel hat alles vernichtet, an was ich geglaubt und für das ich mein Leben lang gekämpft habe.“ Schon häufiger habe er darüber nachgedacht, aus der Partei auszutreten. Nun schwanke er dazwischen, die innerparteiliche Revolution zu formieren – oder einfach resigniert zu gehen. „Aber wohin?“, fragt er und sieht für sich weit und breit keine Partei, die seine Vorstellungen eines freien und demokratischen Deutschlands vertreten kann.
Ein jüngerer Mann, noch nicht lange Mitglied der Partei, sinniert darüber, dass Merkel „mir die Tür zuschlägt“. Die Merkel-Partei sei zum bloßen „Machterhaltsverein einer kleinen Gruppe von Personen geworden, die alle Wertmaßstäbe verloren haben. Es geht ihnen nur noch darum, ihre eigene Position zu sichern. Die Zukunft von Land und Partei ist ihnen piepegal.“
Zwei ältere Semester aus bestem Hause, irgendwann mal Anfang der Siebziger in die Partei eingetreten, lassen sich in Schimpfwörtern über „Merkel und ihr Küchenkabinett“ aus, die hier zu zitieren die Etikette sprengen würde.
Kurz: In der Partei brodelt es wie nie zuvor. Sie ist kurz davor zu explodieren, falls die Mitglieder noch die Kraft dazu haben, die Revolution von unten zu organisieren. Oder zu implodieren, wenn diese Bürger nun einfach resigniert ihren Weg aus der Union nehmen. Geschehen wird voraussichtlich letzteres – Christdemokraten neigen nicht zu Revolutionen und ihre Vertreter in den parteiinternen Gremien sind am Ende immer noch vor der Parteiführung eingeknickt. Ändern wird sich das erst, wenn der Niedergang der Partei die eigenen Karrierevorstellungen zerstört – dieser Zeitpunkt allerdings nähert sich in Riesenschritten.
Nicht die Inhalte entscheiden
Bei all dem spielen die konkreten Ergebnisse der sogenannten Koalitionsverhandlungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Gelesen haben das Koalitionspapier die wenigsten – es interessiert sie nicht einmal mehr. Es sind die lang im Zaum gehaltenen Emotionen, die jetzt hochkochen. Das verbreitete Gefühl, Merkel und ihre Gefolgschaft von willenlosen Jasagern habe die Partei verraten. Und mit diesem Verrat an deren Inhalten und Werten dann eben auch die Mitglieder, von denen nicht wenige ohne eigene Ambitionen sehr viel Zeit, Mühe und auch Geld geopfert hatten, um das, was ihnen wichtig war, in der Politik vertreten zu sehen.
Es kommt so vieles zusammen. All jene gegen die Grundwerte der Christdemokratie gerichteten Spontanentscheidungen Merkels, die immer wieder zähneknirschend hingenommen wurden. Sie bildet den Humus des Widerstands. Der traurige Höhepunkt, der die Emotionen zur Explosion bringt, ist jedoch die vorgesehene Regierungsbildung. Die Tatsache, dass Merkel alle wichtigen Ressorts an die SPD abgetreten hat – wären es nicht bürgerlich-gesittete Menschen, würde man davon sprechen können, dass die Basis auf den Tisch k….
Die Tatsache, dass Merkel alles verkauft hat, was die Union einst ausgemacht hat – nur um noch ein paar Jahre im Kanzleramt sitzen zu können – „ich bin bald so weit, mit einem Sprengstoffgürtel das Konrad-Adenauer-Haus zu stürmen“, schimpft eine Mitfünfzigerin, die seit JU-Tagen der Partei die Treue hielt – und erschrickt.
Mitglieder stellen die Systemfrage
„Merkel und ihre unsägliche Boygroup gehören auf den Mond geschossen“, schimpft ein anderer. Und er lässt sich ellenlang darüber aus, wie rückgratlose Gestalten nur um ihrer selbst willen alles verraten, was ihm heilig ist.
Erstmals in der Union werden nun auch Stimmen laut, die beginnen, die Systemfrage zu stellen. „Wenn wir auf kommunaler Ebene eine Entscheidung diskutieren, dann erklärt sich jeder Abgeordnete, der möglicherweise davon persönlich betroffen sein könnte, für befangen und hält sich aus Diskussion und Abstimmung fern. Das gilt selbst bei den unbedeutendsten Kleinigkeiten“, berichtet ein langjähriger Kommunalpolitiker. „Wenn es aber darum geht, die Bundesregierung zu bilden, dann haben da nur noch Leute das Wort, die selbst in ihrer beruflichen Existenz wie niemand anderes von den Ergebnissen betroffen sind,“ fügt er hinzu und erklärt: „Kein Wunder, dass dort jeder Grundsatz verkauft und jedes Amt verschachert wird – geschähe sowas bei uns im Gemeinderat, wäre die Hölle los!“
„Die Usurpation durch Parteischranzen“
Der Mann hat recht. Tatsächlich ist es diese Schieflage in den Institutionen, diese „Usurpation der Macht durch einige wenige Parteischranzen“, die nicht nur die Basis der Union zum Explodieren bringt, sondern die Republik in Gänze an die Wand fährt. Was will man erwarten, wenn eine Frau, die sich wie eine Besessene an die Macht klammert, auf einen abgehalfterten Mann trifft, der seine einzige Chance auf politisches Überleben in der Regierungsbeteiligung sieht und darüber auch vor ständigem Wortbruch nicht zurechtschreckt, und die dabei flankiert wird von einem phrasendreschenden Selbstdarsteller, der ebenfalls seine letzte Perspektive darin erblickt, über ein Regierungsamt den eigenen Konkurrenten einen mitzugeben? Was will man erwarten, wenn diese drei Herrschaften „von Personen flankiert werden, die entweder genau diese Ziele für sich selbst teilen, oder sich derart in der Abhängigkeit ihrer Seilschaften befinden, dass sie jeden Treuebruch, jeden Verrat und jeden Ausverkauf mittragen, nur um ihren eigenen A… zu retten?“, fragt ein anderer.
„Der Selbstbedienungsladen der Anpassungsfähigen“
Die Koalitionsverhandlungen haben für viele Unionsmitglieder den abschließenden Beweis erbracht: Die Parteien haben die 1949 gegründete Bundesrepublik usurpiert und korrumpiert. Nun sind sie dabei, gewissenlos die Reste unter sich aufzuteilen – und das eigentlich Dramatische daran ist, dass sie sich dabei nicht einmal irgendeiner Schuld bewusst sind. Könnte sich beispielsweise Peter Altmaier an das erinnern, was er in den Achtzigerjahren als „junger Wilder“ absolut zutreffend als Krise der Kohl-Regierung ausgemacht hatte – er müsste sich heute sofort die politische Kugel geben, weil Kohl gegen ihn ein Waisenknabe war. „Diese Politiker haben sich selbst korrumpiert durch ein Parteiensystem, das sich losgelöst hat von seiner Verantwortung für das Gemeinwohl“, befindet ein langjähriger Kommunalabgeordneter. „Es wurde ersetzt durch einen Selbstbedienungsladen für Anpassungsfähige, die sich so lange abschleifen lassen, bis sie profillos an irgendeiner Spitze angekommen sind.“
Korruption ohne Anstand
Es stimmt: Macht kann korrumpieren. Aber korrumpieren lässt sich nur jener, der die Macht über seinen eigenen Anstand verloren hat. Und das gilt für sie alle – gleich, ob sie in der Union oder in der SPD anzutreffen sind. Was früher einmal ein dem Gemeinwohl verpflichteter Politiker gewesen ist, ist heute ein korrupter, nur noch sich selbst dienender Charakter, der seine ausschließliche Verantwortung für sich selbst sieht.
Solche Figuren – diese Erkenntnis ist leider nicht neu und in der Geschichte immer wieder bestätigt worden – sind es, die die Fässer irgendwann zum Überlaufen bringen. Weil sie jegliche Bodenhaftung und jegliche Verantwortung für die ihnen Anvertrauten verloren haben. In geschichtlichen Situationen führte soetwas entweder – wie derzeit in Venezuela zu beobachten – zur brachialen Macht der Wenigen über die Vielen – oder zur Revolution der Vielen gegen die Wenigen. Oder auch zu beidem, weil das eine das andere zwangsläufig mit sich bringt. Ob man es als Katastrophe oder als reinigendes Gewitter betrachtet, ist am Ende immer eine Frage der persönlichen Sichtweise. Und ob die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben und in der Lage sind, diesen Spuk zu beenden, bevor er in der finalen Katastrophe endet – wer will das beantworten?
Eines allerdings dürfen wir als gesetzt nehmen: Die Deutschen in den jungen Bundesländern wussten, wie man ein korrumpiertes System auf friedlichem Wege beenden hilft. Gut vorstellbar, dass es noch etliche gibt, die das nicht vergessen haben. Und gut vorstellbar, dass dieses Mal sogar Bürger daran mitwirken, die früher als Mitglieder der Union nicht einmal in ihren wüstesten Träumen daran dachten, irgendetwas zu tun, das die Obrigkeit für illegal und gegen sie gerichtet hält.