Die südosttürkische Stadt Sirnak existiert nicht mehr. Sie wurde im Zuge des Kampfes der regierenden AKP gegen die eigene Bevölkerung dem Erdboden gleichgemacht. Das von Kurden bewohnte Stadtviertel Abdul Kadir Pasha sieht aus wie die Erbebengebiete in Italien oder das syrische Aleppo. Es wurde von der türkischen Armee mit schweren Waffen vernichtet, die Bevölkerung vertrieben, der Stadtteil abgeriegelt und jeder Zutritt untersagt.
In Diyarbakir, der Kurdenmetropole in der nördlich von Sirnak liegenden Provinz, sieht es nicht viel besser aus. Schon im Frühjahr wurde die einst aufstrebende Metropole Opfer des Vernichtungsfeldzuges Erdogans gegen den kurdischen Teil seiner Bevölkerung. Zahlreiche kleine Dörfer im kurdischen Land der Türkei wurden wegradiert. Kurdistan soll aufhören zu existieren.
Die westliche Welt schaut weg. Wie dereinst bei der Vernichtung der Tschetschenenmetropole Grosny durch die russische Armee will man weder das Ausmaß noch die Brutalität der Zentralregierung wahrnehmen. Statt dessen verhandelte man mit den Kurdenschlächtern über „Flüchtlingsabkommen“ und klammert sich an der Illusion fest, es mit der Türkei mit einem gleichberechtigten Staat auf Basis gemeinsamer Werte zu tun zu haben. Der Genozid an der kurdischen Bevölkerung wird ebenso ausgeblendet wie die innerethnische Säuberung.
Dabei hat der Bürgerkrieg die Türkei längst erreicht. Er ähnelt dem, was dereinst den Zerfall Jugoslawiens einleitete und blutig begleitete. Die sich im Wahn einer turkmenischen Abstammung selbst stimulierenden Westanatolier kennen kein Halten mehr. Im Internet kursieren von türkischen Soldaten gedrehte Filme, in denen türkisch sprechende Männer in den Uniformen der regulären türkischen Armee weibliche Gefangene der kurdischen Kämpfer misshandeln, sie Felsen herabstürzen oder mit mehreren Schüssen exekutieren. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Aufnahmen auf türkischem, irakischen oder syrischen Staatsgebiet gemacht wurden. Denn Gefangene werden in diesem Vernichtungsfeldzug nicht gemacht. Die Türkei wüsste auch nicht, wohin damit. Ihre Gefängnisse und Lager quellen über von Inhaftierten aus den eigenen Zivilisationszentren, denen eine Teilnahme am vorgeblichen Putsch dieses Frühsommers angelastet wird. Erdogans Erfüllungsgehilfe Binali Yilderim sprach bereits im August von 40.029 Inhaftierten. Seitdem gibt es keine aktuellen Zahlen. Der türkischen Regierung ist offenbar bewusst geworden, dass ihre Säuberungsaktion den Unmut des Westens heraufbeschwören könnte. Doch der schaut weg. Bei der Vernichtung der türkischen Mittelschicht ebenso wie beim kurdischen Genozid.
Das islamische Pack ist von der Kette
Erdogan hat das islamische Pack von der Kette gelassen. Einst wurde er von den damals Regierenden wegen des Zitats eines Gedichtes ins Gefängnis gesteckt und zu Politikverbot verurteilt. In diesem Kampfgedicht von Ziya Gökalp werden die Moscheen zu Kasernen, die Minarette zu Bajonetten und die Gläubigen zu Soldaten. Der herbeigeputschte Staatsstreich gibt dem Muslimbruder aus den Armenvierteln des früheren Konstantinopel nun die Handhabe, die Visionen des Gedichtes Wirklichkeit werden zu lassen. Es verdichten sich Berichte, wonach gezielt Waffen an die AKP-Mitglieder ausgegeben werden.
Als 1933 die NSDAP die Macht über Deutschland errang, wurden Schlägertrupps der parteieigenen SA zu Hilfspolizisten ernannt. Sie zogen durch die Straßen, „verhafteten“ willkürlich vorgebliche Oppositionelle – und andere unliebsame Personen, die in privaten „Kellergefängnissen“ misshandelt und teilweise bis in den Tod gequält wurden. Auch das Lager Oranienburg bei Berlin stand anfänglich unter der Kontrolle der örtlichen SA. Bis heute gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen diesen marodierenden Selbstjustizlern zum Opfer gefallen sind. Denn rechtsfreie Räume – so auch in der Ostukraine dokumentiert – geben dem menschlichen Abschaum einer Gesellschaft die Möglichkeit, sich ungehemmt ausleben zu können.
Erdogan verwandelt die Türkei in eine islamische Plebsokratie. Der nach oben gespülte Abschaum wird bewaffnet. Das Deutschland des nationalen Sozialismus ist die Blaupause für Erdogans Kampf um eine islamische Dynastie in der Tradition des Osmanischen Reichs.
Erdogans Hitler-Begeisterung
Aus seiner Begeisterung für Adolf Hitler hat Erdogan nie einen Hehl gemacht. Ende des vergangenen Jahres hatte er Hitlers Deutschland als Beispiel eines Zentralstaats mit allmächtigem Präsidenten gespriesen. Er, Recep Tayyip Erdogan, träumt davon, als Führer seiner gedachten türkischen Nation in die Geschichte einzugehen. Was für den proletarischen Kleinbürger Hitler seine selbsterdachte Weltanschauung eines arischen Volkskörpers in einem Deutschland mit Weltmachtanspruch war, ist für Erdogan sein sunnitischer Islam in national-radikaler Prägung. In dem ist kein Platz mehr für freie Geister, Nicht-Muslime und „volksfremde“ Verräter.
Der Istanbuler bedient sich bei den Despoten dieser Welt. Seine Vorgehensweise speist sich aus den unterschiedlichsten Vorbildern. Hitler ist für ihn das Ideal dessen, wie ein Staat gleichgeschaltet wird und man das kritische Bildungsbürgertum vernichtet. Putin hat in Grosny vorgemacht, wie man die eigene Bevölkerung wegbombt. Stalin hat ihm gezeigt, wie die Angst vor dem Staatsterror das Volk gefügig bis zur Selbstverleugnung macht.
Die Panik der türkischen Mittelschicht
Bei türkeistämmigen Europäern, die sich dem Machtanspruch Erdogans nicht unterwerfen, kommt es in diesen Wochen ständig zu telefonischen Hilferufen aus der Türkei. Jene, die dort in den vergangenen Jahren eine neue Mittelschicht gebildet haben, flehen darum, für ihre Kinder eine Bürgschaft zu übernehmen. Denn nur dann haben sie noch eine kleine Chance, dem AKP-Terrorregime zu entkommen. Die Mittelschicht des Landes, in dem es ein Großbürgertum seit der Vernichtung von christlichen Griechen und Armeniern nie gegeben hat, will weg. Doch auch das wird von Tag zu Tag schwieriger. Denn das Regime entzieht willkürlich Reisepässe selbst dann, wenn – wie jüngst geschehen – ein junger Türke nach Heimaturlaub an seinen Studienort in Italien zurückkehren will.
Falls die Türkei irgendwann einmal so etwas wie ein Rechtsstaat gewesen ist – Erdogan hat das Land in eine Willkürdiktatur verwandelt. Es sind nicht nur die rechtswidrigen Verhaftungen vorgeblicher Putschisten, mit denen er seinen eingebildeten Volkskörper reinigt. Bald an die 100.000 Menschen wurden seit dem Sommer ohne Rechtsgrundlage aus ihren Arbeitsplätzen entfernt. Es trifft Lehrer und Universitätsprofessoren, Polizisten, Staatsanwälte und Richter, Militärangehörige. Und es trifft Mittelständler und Unternehmer.
Jeder, der auch nur im Verdacht steht, nicht hinter der AKP-Diktatur zu stehen, wird aus den Schaltstellen in Verwaltung und Wirtschaft entfernt. Ein Grund findet sich immer. Es reicht eine Spende an eine der zahlreichen Einrichtungen der damals noch mit Erdogan verbündeten Gülen-Bewegung, um jemanden als Putschisten zu denunzieren. Oder das Eintreten für eine friedliche Verhandlungslösung zwischen der kurdischen PKK-Widerstandsbewegung und dem türkischen Staat – zu einer Zeit, als Erdogan höchstpersönlich eine solche Verhandlungslösung in den Raum gestellt und den bewaffneten Kampf gegen die Kurden eingestellt hatte. Wer der pro-kurdischen HDP angehört, ist allein schon deshalb Terrorist. Frei gewählte Bürgermeister in den Städten des türkischen Ostens werden mit dieser Begründung aus dem Amt gejagt und verschwinden in den von Amnesty dokumentierten Folterkellern der türkischen Staatsorgane.
Doch dem türkischen Staat reicht es nicht, seine Mittelschicht aus der Verantwortung zu fegen. Betroffene berichten: Wer seinen Job verliert, verliert gleichzeitig jegliche Ansprüche auf staatliche Leistungen. Über Jahre erwirtschaftete Pensionsansprüche werden ersatzlos kassiert. Und selbst vor dem kleinen Vermögen macht der Staatsterrorist in Ankara nicht halt. Wer wegen angeblicher Putschbeteiligung aus Amt oder Funktion gejagt wird, dessen Eigentum wird konfisziert. Die Menschen fallen aus einem erträglichen Wohlstand in die Mittellosigkeit – und ohne Pass sind sie außerstande, dem Staatsterror zu entfliehen.
Die Todesstrafe als Instrument der Plebsokratie
Erdogan schafft sich mit den Verstoßenen und ihren Familien eine Front von Menschen, die nichts mehr zu verlieren hat. Deshalb dringt er darauf, endlich die sogenannte Todesstrafe wieder einzuführen. Es wird keine „Strafe“ im juristischen Sinne sein, sondern ein staatliches Instrument zur finalen Ausschaltung potentiell gefährlicher Personen. Wer es wagt, eigene Rechte einzufordern oder gar gegen den Diktator zu opponieren, der soll mit der Todesdrohung abschließend gefügig gemacht werden. Stalins Staatsterror ständiger Angst lässt grüßen. Wie einst in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland werden Intellektuelle und wirtschaftlich Unabhängige staatsseitig vernichtet. Sie gelten als Feinde, weil sie den Sultansträumen des Proleten Erdogan gefährlich werden und die Durchsetzung seiner sunnitischen Plebsokratie behindern könnten.
Doch es ist nicht Rationalität, die Erdogans Handeln bestimmt. Er wird getrieben von einer Mischung aus islamischen Weltmachtträumen und unstillbarem Rachedurst. Jeder, der ihm auf seinem Lebensweg kritisch oder gar feindlich begegnete, soll um sein Leben bangen. Vor allem seine Angstgegner des ehedem laizistischen Militärs werden seinen tödlichen Zorn zu spüren bekommen. Erdogans Hass gegen jene, die seinen Bruder im Geiste, den ägyptischen Muslimbruder Mursi abgesetzt hatten, überträgt sich auf jene, die in den vergangenen Jahrzehnten als Garanten des türkischen Laizismus die „wahre Lehre“ des Islam ausgrenzten. Für die anderen hat er die Justizorgane zu AKP-Exekutoren umgebaut und bewaffnet nun den islamischen Plebs, aus dem heraus bereits Attentate selbst gegen hochrangige Vertreter der noch das Hohelied Erdogans singenden Anhänger der kemalistischen CHP verübt werden.
Mit der faktischen Übernahme der letzten unabhängigen Tageszeitung, der intellektuell-kemalistischen Cumhuriyet („Republic“), hat der neue Sultan nun auch seinen Noch-Unterstützern der CHP deutlich gemacht, wohin die Reise für sie geht. Spätestens, wenn mit ihren Stimmen im Parlament die Präsidialdiktatur durchgesetzt wurde, wird auch diese Partei als unabhängige Bewegung von der Bildfläche verschwinden.
Die rassereine, islamische Plebsokratie
Mit dem Wandel des Staates Türkei in die islam-proletarische Plebsokratie einher geht ein Pendant der vor hundert Jahren erfolgen rassistischen Säuberung. Armenier – so der Genozid von 1915 noch welche übrig gelassen hat – gelten grundsätzlich als Verräter. Für Christen und die als Abtrünnige verketzterten Aleviten gilt der Auftrag Mohameds – sie haben sich zu unterwerfen oder zu verschwinden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die bedeutendste Kirche der orthodoxen Christenheit, der Dom der Heiligen Sophia, wieder als Moschee vergewaltigt werden wird. Der islamische Plebs will Zeichen setzen – und fordert laut die Wiederbesetzung des derzeit musealen Gotteshauses als Siegesbanner Mohameds. Im Lande selbst läuft die Übernahme der wenigen, noch verbliebenen christlichen Besitztümer längst auf Hochtouren.
Doch auch für Brüder im sunnitisch-mohamedanischen Glauben ist in Erdogans Sultanat kein Platz mehr. Zumindest dann, wenn sie der Volksgruppe der Kurden angehören. Versuchte Kemal Atatürk noch, sie als „Bergtürken“ in seine Kunstnation einzugemeinden, indem er ihnen ihre Kultur und Sprache verbot, greift Erdogans Plebsokratie auch hier erbarmungslos durch.
Erst aus ihren zerstörten Häusern vertrieben und um ihr Eigentum gebracht, dürfen sie nach Aussagen Betroffener nicht einmal mehr unter freiem Himmel im winterkalten Ost-Taurus zelten. Sie sind Heimatlose im eigenen Land – und die Welt schaut hier ebenso fort wie bei dem Feldzug der Türken gegen die Kurden in Syrien und dem Irak. In Erdogans künftigem Reich, das von Mazedonien bis südlich der derzeitigen Kurdenhauptstadt im irakischen Arbil reichen soll, ist für die Kurden ebenso wenig Platz wie für andere ethnische oder religiöse Minderheiten. Die Gleichschaltung, die derzeit bereits den strikten Weg von der westlichen Bildungsanstalt in die faschistisch-weltanschauliche Koranschule weist, soll im Sinne Mohameds ein Volk von willen- und widerstandslosen Glaubenssklaven zeugen, die ihrem weltlichen Herren Erdogan uneingeschränkt ergeben sind.
Totalversagen des Westens
Was macht der Westen? Was macht unsere Bundesregierung? Sie lauscht immer noch den falschen Beratern, die ihnen etwas davon einflüstern, Erdogan werde sich schon wie ein rationaler Herrscher verhalten, wenn er erst einmal fest im Sattel sitze. So trösteten sich dereinst auch die Westeuropäer, als Hitler eine Zivilisation zerstörte.
Nein, er wird es nicht. Und das umso mehr deshalb, weil Erdogan anders als sein aktuelles Vorbild Putin in seiner Sozialisation nicht den Weg in das System, sondern den Weg gegen das System gewählt hat. Sein Ziel ist – das mag im ersten Augenblick ungewöhnlich klingen – die totale Zerstörung der Türkei. Denn die Türkei ist in seinen Augen das, was seinerzeit Jungtürken und Atatürk, den Erdogan als unzurechnungsfähigen Säufer und Apostaten diffamiert, auf den Trümmern des mittelalterlichen Osmanischen Reichs schufen. Erdogan hasst diese Türkei – und alles, was er damit in Zusammenhang bringt.
Er träumt von einer Wiederbelebung des Osmanischen Großreichs – nur dass die Nachwelt es am besten nach ihm, Erdogan, benennen soll. Der Westen lässt es geschehen. Weil er sich mit seiner Illusion einer europäischen Türkei viel zu viel Sand in die Augen gestreut hat, um noch einen klaren Blick auf die Wirklichkeit werfen zu können. Einäugige Pro-Türken wie jener unsägliche Ruprecht Polenz haben der völlig ahnungslosen Angela Merkel das Märchen einer islamischen CDU und einer demokratischen Perspektive des Landes am Bosporus in den Kopf gesetzt. US-Amerikaner drängten darauf, den NATO-Partner über die EU fest einzubinden. Und Deutschland als wichtigster Ort für Auslandstürken versäumt bis heute, das bewusste Bekenntnis zur Demokratie in die Köpfe seiner Neubürger zu kriegen. Erst waren es nur Gastarbeiter, die ohnehin bald das Land zurück ins Mittelalter verlassen würden. Dann wurden es Muslime, deren faschistische Ideologie als angebliche Religion sakrosankt sei und deren nationaltürkische Verbreitung in den Köpfen junger Muslime man den AKP-gesteuerten Verbänden überließ.
Es ist dieses Versagen der Europäer und allen voran der Deutschen, die einen Erdogan möglich gemacht haben – und es ist die Scham über das eigene Versagen, das unsere Regierung immer noch so tun lässt, als sei alles in Erdogans Plebsokratie in bester Ordnung. Es steht zu befürchten, dass das Erwachen erst kommen wird, wenn der türkische Bürgerkrieg auch auf Deutschlands Straßen ausgefochten wird. Dass er es wird – daran sollte niemand auch nur den geringsten Zweifel haben.