Tichys Einblick
Ukraine-Krieg

Erdogans türkischer Nationalislamismus unter dem Radar des russischen Überfalls

Vor allem sein Engagement, wodurch es der Ukraine und Russland möglich werden sollte, ihre Getreidevorräte per Schiff in den Süden zu bringen, brachte dem türkischen Präsidenten manches Lob ein. Doch so uneigennützig, wie es scheinen mag, agiert Erdogan nicht.

Recep Tayyip Erdogan vor einem Treffen mit Wladimir Putin beim Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der SOZ, 16. September 2022, Samarkand, Usbekistan

IMAGO / ITAR-TASS

Recep Tayyip Erdogan, autokratischer Herrscher der Türkei, der sich im kommenden Jahr der Wiederwahl stellen muss, scheint im durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelösten Konflikt eine konstruktive Rolle einzunehmen. Vor allem sein Engagement, wodurch es der Ukraine und Russland möglich werden sollte, ihre Getreidevorräte per Schiff zu den Hungernden im Süden zu bringen, brachte ihm manches Lob ein.

Doch so uneigennützig, wie es scheinen mag, agiert der Muslimbruder in Ankara nicht. Während das Radar der Nato-Verbündeten Erdogans auf die Ukraine ausgerichtet ist, kocht der türkische Präsident sein eigenes Süppchen – in Zentralasien, in Syrien und nicht zuletzt in der Nato selbst, wo die versprochene Aufnahme von Schweden und Finnland nach wie vor an der ausbleibenden Zustimmung durch die Türkei scheitert.

Auf dem Weg zu Großosmanien

Es ist an dieser Stelle nicht nötig, erneut das schmutzige Spiel aufzuzeigen, welches Erdogan in Sachen Nato-Erweiterung zelebriert. Da die Statuten des Verteidigungsbündnisses auch dann, wenn ein Mitgliedsstaat selbst diesen nicht mehr entspricht, vorsieht, dass bei Neuzugängen jedes bestehende Mitglied seine Zustimmung gibt, kann der Mann aus dem Kleinkriminellenmilieu Istanbuls die Skandinavier mit unerfüllbaren Forderungen am Nasenring durch die Arena schleifen. Angeblich beherbergten sie „Terroristen“, deren Auslieferung die Türkei als Voraussetzung zum Nato-Beitritt macht. Das Problem: Terroristen sind diese Personen nur in der rechtsstaatlich mehr als fragwürdigen Definition des Türken – und die Skandinavier verhielten sich selbst gegen jede Rechtsnorm, gäben sie dem türkischen Verlangen statt.

Doch das ist nur eine Facette, mit der der Neo-Osmane sein ganz persönliches Spiel betreibt. Jüngst erst war er in Samarkand dabei, als die von der Volksrepublik China geleitete Shanghai-Gruppe über die geopolitische Neuaufteilung Zentralasiens nachdachte. Erdogan sieht sich dort an wichtiger Stelle, empfindet er sich doch als Integrationsfigur all jener turkmongolischen Völker, die im Zerfallsprozess der UdSSR und dessen Nachfolgestaat Russland die Unabhängigkeit vom früheren Kolonialherrn erlangt haben oder noch erlangen werden.

Also sitzt Erdogan vertraulich mit Xi am Tisch, wenn die Claims abgesteckt werden – und während Xi über die Pekinger Pressestelle bereits wissen ließ, dass die flächenmäßig größte postsowjetische Neugründung Kasachstan unter dem ausdrücklichen Territorial- und Souveränitätsschutz der VRC steht und damit einen unverhohlenen Affront gegen Putins großrussische Vorstellungen fährt, nach denen kein UdSSR-Nachfolgestaat über ein eigenes Existenzrecht verfüge, wirft Erdogan seine Leimruten aus in Richtung jener kleineren Republiken, die mit einem ~stan am Ende zumeist Turkvölker beherbergen.

Erdogan und Aserbaidschan

Überaus enge Bindungen zu Ankara bestehen bereits beim Ölmagnaten und Herrscher über Aserbaidschan, Ilham Alijew. Der hat nicht nur erst vor wenigen Tagen mit EU-Chefkommissar von der Leyen zusammengesessen und den großzügigen Verkauf von kaspischem Öl und Gas zugesichert – er hat auch wiederholt die Chance genutzt, das ihm lästige, christliche Armenien anzugreifen, um die armenisch besiedelte, aber über die Auflösungswirren zu Aserbaidschan zugeordnete Region Berg-Karabach (und vielleicht noch mehr) wieder in sein Reich zu holen.

Bislang verhinderte Putin den Durchmarsch der dank türkischer Unterstützung besser ausgestatteten Azeri, was wiederum Russlands Präsenz im ursprünglich Richtung EU tendierenden Armenien sicherte. Trotzdem kam es jüngst zu erneuten Militärattacken Aserbaidschans – Beobachter gehen davon aus, dass Alijew testen wollte, wie sehr Putin durch das von ihm verursachte Desaster in der Ukraine beschäftigt ist. Wobei – auch in dieser Frage herrscht weitgehende Einigkeit – die Auffassung gilt, dass der Herrscher in Baku solche Testläufe nicht startet, ohne sich vorher in Ankara rückversichert zu haben.

Nicht zuletzt hat auch Erdogan den Berg-Karabach-Konflikt genutzt, um seinen Einfluss im Kaukasus auszubauen. Ziel der beiden „Türken“ bleibt es, das zwischen ihnen gelegene und deshalb störende Armenien zu beseitigen, womit letztlich das angestrebte neo-osmanische Reich erst einmal von der Ägäis bis an das Kaspische Meer vorrücken würde. Von dort dann soll die gefühlte türkische Nation den Sprung über das größte Binnenmeer der Erde schaffen und tief in den ehemaligen Süden des asiatischen Teils der Sowjetunion vordringen.

Bislang allerdings gingen die Turkmenen eher bedeckt und diplomatisch vor. Beiden ist bewusst, dass ihre Ambitionen unmittelbar mit Russlands Vorstellungen kollidieren – und mittelbar auch den Hegemonialanspruch Pekings herausfordern.

Alijew provoziert Teheran und Moskau

Umso erstaunlicher ist deshalb, wie sich Alijew jüngst unmissverständlich sowohl gegen Russland als auch gegen dessen Verbündeten Iran positioniert hat. Am 23. Oktober drohte das staatliche TV dem Iran angesichts der brutalen Unterdrückung der zu Aufständen ausufernden Proteste mit der Separation der aserbaidschanisch besiedelten Landesteile im Nordwesten. Das ist fast schon eine Kriegserklärung an die Mullahs, die unmittelbarer Nachbar Aserbaidschans sind und zudem historische Ansprüche auf die sprudelnden Öl- und Gasquellen am Kaspischen Meer erheben.

Als wäre es mit dieser Konfrontation zum südlichen Nachbarn noch nicht genug, legte sich Alijew am 24. Oktober dann auch noch mit dem nördlichen an. Erneut über das Staatsfernsehen ließ der Herrscher von Baku Putins Russland als „Aggressor und Besatzer“ beschimpfen, verurteilte explizit „die russischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in der Ukraine.

So deutlich war das aus einer Ex-Sowjetrepublik, die nicht unter die Fittiche der Nato geschlüpft ist, bislang noch nicht zu hören gewesen. Fassen wir beide Äußerungen zusammen, so kann darin sogar der Aufruf an weitere Ex-Sowjetvölker ebenso wie die Minderheiten im Iran gesehen werden, sich von der jeweiligen Fremdherrschaft zu befreien. Dafür bieten sich auf derzeit noch russischem Territorium vor allem die Bewohner Dagestans an, welches unmittelbar nördlich an Aserbaidschan grenzt.

Dort ist es in jüngerer Vergangenheit bereits zu Protesten gegen Moskau gekommen, weil vor allem Dagestani als Kanonenfutter für den Ukraine-Feldzug angeworben worden waren. Zudem gibt es in diesem Kaukasusland spätestens seit dem Zerfall der UdSSR eine eigenständige Souveränitätsidentität, verstärkt zudem durch die Nachbarschaft zum Tschetschenien des Putin-Getreuen Ramsan Kadyrow, dessen brutale Niederschlagung der entsprechenden Bestrebungen in Grosny Warnung und Mahnung zugleich ist.

Wollen die beiden Türken die Nachbarn testen?

Dennoch steht die Frage im Raum, was Alijew ausgerechnet jetzt treibt, sich gleichzeitig mit Russland und dem Iran anzulegen. Tatsache ist – schließen sich Moskau und Teheran zusammen, können sie jederzeit das kleine Aserbaidschan überrollen. Der Öl- und Gasreichtum der Region war nicht nur für Adolf Hitler Anlass, seine Armeen statt weiter gegen Moskau lieber zum Kaspischen Meer zu schicken, wo sie dann im Kessel von Stalin-/Wolgograd den entscheidenden Rückschlag hinnehmen mussten. Ist es also die immer enger werdende Zusammenarbeit zwischen Moskau und Teheran, die in Baku unmittelbare Existenzängste auslöst? Doch selbst wenn – wozu dann die Bedrohung noch verbal provozieren?

Denkbar allerdings ist es, dass auch hier Erdogan seine Finger mit im Spiel hat und selbst die Fäden zieht, weil auch ihm eine zu große Nähe zwischen den beiden historischen Gegnern nicht gefallen kann. Wittert er gemeinsam mit Alijew die Chance, in einem revolutionär geschüttelten Iran seine eigenen Interessen durchsetzen zu können? Der Nordwesten des Persischen Reichs würde sich ohne Zweifel gut machen in einer künftigen türkisch-aserbaidschanischen Konföderation.

Andererseits jedoch kann es ihm nicht gefallen, sollte im Ergebnis der Aufstände im Iran ein autonomes Iranisch-Kurdistan stehen, welches dann mit dem irakisch-kurdischen Erbil den nationalen Zusammenschluss finden könnte. Zudem: Warum sich nicht nur mit den Mullahs anlegen, die möglicherweise aus türkischer Sicht bereits heftig am Wanken sind, sondern auch die Beziehungen zu Putin strapazieren lassen? Hat der gefühlte Neo-Osmane hier Informationen über sich anbahnende, politische Erdbeben, die den westlichen Diensten bislang verborgen sind? Oder lassen sich die beiden Turkvertreter lediglich durch Ahnungen lenken, die allerdings unliebsame Konsequenzen haben könnten, sollten die Mullahs die revolutionären Unruhen überstehen und Putin sein Ukraine-Abenteuer überleben.

Auch Syrien im Visier

Erdogan selbst jedenfalls blickt nicht nur nach Norden und Osten. Stets auch hat er den Blick nach Süden gerichtet – dorthin, wo er auf dem Staatsgebiet Syriens eigene Verwaltungszonen eingerichtet hat und keinerlei Anstalten macht, die eingeheimsten Territorien freizugeben.

Ganz im Gegenteil: Wie die Kurdische Gemeinde Deutschland (KGD) mitteilt, treibt Erdogan die faktische Annexion vor allem der ursprünglich kurdisch besiedelten Gebiete Nordsyriens gezielt voran. Dabei arbeite er in gewohnter Weise mit in der Al-Kaida-Tradition stehenden, radikalislamischen Gruppen zusammen. So habe die Türkei die Kontrolle über das 2018 widerrechtlich besetzte, kurdisch autonom verwaltete Afrin Mitte Oktober an Hayat Tahrir al Sham (HTS) übergeben. Deren Islamterroristen, die im Gefolge der türkischen Armee bereits die kurdischen Bewohner vertrieben oder ermordeten, können dort im Sinne der Ideologie der Muslimbrüder einen eigenen islamischen Staat aufbauen – nachdem die Kurden im Osten Syriens in enger Kooperation mit den USA deren Kollegen aus dem Islamischen Staat erfolgreich bekämpft und in die Defensive gedrängt haben.

Die KGD fordert nun nicht ohne Grund von der Bundesregierung, die Situation in Afrin im Menschenrechtsrat der UN zu thematisieren, das türkische Vorgehen zu verurteilen und die Rückkehr der vertriebenen Kurden in ihre Häuser und Wohnungen durchzusetzen.

Wie lange noch …?

Das ist aus der Sicht der Kurden ohne Zweifel nachvollziehbar. Die eigentliche Frage aber ist eine andere: Wie lange noch wollen Deutschland, EU und Nato zuschauen, wie Erdogans Türkei ihre Westbindungen nur noch und ausschließlich dazu nutzt, ein totalitär geführtes Neu-Osmanien als geopolitischen Faktor zwischen China und Russland zu etablieren, während gleichzeitig die Schlagfähigkeit der Nato und die Sicherheit im Ostseeraum durch Erdogans Verhalten bewusst unterlaufen wird?

Das Vorgehen der Türkei sollte vor allem in EU und Nato thematisiert werden – auch wenn man der Meinung sein sollte, auf den Muslimbruder in Ankara angesichts der weltpolitischen Situation gegenwärtig nicht verzichten zu können. Tatsächlich jedoch scheint es Erdogan, der die Türkei bereits in den wirtschaftlichen Abgrund geführt hat, immer wieder zu gelingen, seine ganz privaten Ziele unter dem Radar der westlichen Verbündeten zu verfolgen.

Ob Erdogan tatsächlich zum Militärbündnis steht, wenn, wie in manchen Nato-Kreisen inoffiziell erwartet, der direkte Konflikt mit Russland doch nicht zu vermeiden sein wird, steht zudem ebenfalls nicht fest. Vielleicht schaut er auch einfach nur zu und vergisst seine Bündnisverpflichtung, um anschließend das einzuheimsen, was noch übrig geblieben ist.

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