Jedem, der das politische Geschäft seit längerem interessiert beobachtet, war spätestens mit der Islam-Aussage des neuen Bundesministers des Innern klar: Hier geht jemand gezielt auf Konfrontationskurs mit seiner Chefin. Flankiert von deutlichen Ansagen seines neuen Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt und exekutiert durch den Kreuz-Erlass seines Nachfolgers als Bayern-Premier, Markus Söder, stellt Seehofer seitdem die Grundposition von Angela Merkel zur Einwanderung und zum Umgang mit dem kulturfremden Islam grundsätzlich in Frage. Daran änderte sich auch nichts dadurch, dass mit dem im Sinne Merkels überaus großzügigen Umgang des Bundesamts für Migration mit Zuwanderern in Bremen ein Nebenkriegsschauplatz geschaffen wurde, der Seehofer von seinem Kernanliegen abbringen sollte. Doch da der Ingolstädter in Sachen Asylmissbrauch gelassen auf seinen Vorgänger und Merkel-Vertrauten Thomas de Maiziere verweisen kann, hat ihm diese zum Skandal hochgefahrene, von der Politelite beförderte großzügige Vergabe von Asylberechtigungen eher noch genutzt als geschadet. Denn da kann er sich nun als Macher präsentieren.
Seehofer stellt Merkel in Frage
Bereits unmittelbar nach der Gegenpositionierung des Seehofer Horst in Sachen Islamzugehörigkeit hatte ich diese hier bei TE als Sollbruchstelle der Koalition beschrieben. Tatsächlich war die Aussage des Bayern ein deutlich markierter Affront – denn die Richtlinien der Politik bestimmt in der Bundesrepublik der Kanzler. Wer in einer politischen Frage die einer solchen Richtlinie diametral entgegen stehende Position vertritt, hätte eigentlich die Unvereinbarkeit seiner politischen Vorstellungen mit der politischen Führung der Exekutive und seinen sofortigen Rücktritt erklären müssen. Doch die Spielregeln auf dem Feld der Bundesminister sind andere – und insofern blieb Seehofer seiner Position treu und im Amt. Dort nun bereitete er Schritt für Schritt die nächsten Punkte vor, mit denen er seine Chefin vor sich herzutreiben gedenkt. Aktuell ist es die Frage der Zurückweisung von angeblichen Asylanten an den bundesdeutschen Grenzen – nicht nur selbstverständliches Recht einer souveränen deutschen Politik, sondern im Sinne des Amtseides, wonach Schaden vom deutschen Volk abzuwenden sei, oberste Ministerpflicht.
Kein Weg zurück
Seehofer kann nicht zurück. Gäbe er nach, wäre der ihm anhaftende Makel des Papiertigers abschließend manifest. Damit allein könnte die Republik noch leben – nicht jedoch Seehofer. Er müsste, gibt er sich und seine Positionen auf, als Gescheiterter in die Politikgeschichte eingehen. Wer will das schon?
Deutlich schwerwiegender jedoch ist die Konsequenz, die Seehofers Scheitern für seine CSU hätte. Die CSU erobert derzeit behutsam ihre Machtstellung im Freistaat zurück – auch wenn sie von der absoluten Mehrheit noch weit entfernt ist. Ein Zurückweichen Seehofers in Berlin aber würde in Bayern die AfD zu ungeahnten Höhen katapultieren. Die CSU wäre nach den Landtagswahlen erheblich beschädigt und zwangsläufig auf Koalitionspartner angewiesen, von denen keiner auch nur ansatzweise für sie akzeptabel ist.
Merkel aber kann auch nicht zurück. Ahnend, dass ihre sogenannte Flüchtlingspolitik eine Katastrophe war, fehlt zum Eingeständnis die Bereitschaft. Denn die bedeutete in letzter Konsequenz Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers – und ebenfalls den Einzug ins Buch der Geschichte als Gescheiterte. Also rasen die politischen Schwestern wie zwei Schnellzüge aufeinander zu – und entweder, einer findet im letzten Moment die Weiche aufs Abstellgleis, oder aber sie krachen mit voller Kraft ineinander.
In einer solchen Situation lohnt sich die Frage nach möglichen Szenarien. Wenn es keine Kompromisse in der Sache geben kann, dann muss es Konsequenzen bei den Beteiligten geben. Wie aber könnten diese aussehen?
Szenario 1 – Seehofer scheitert
Sollte Seehofer scheitern, dann scheitert die CSU. Dann könnte die Partei des Franz Josef Strauß, die mit absoluten Mehrheiten verwöhnt war, noch von Glück reden, wenn sie bei den Wahlen nicht deutlich unter die 40-Prozent-Marke fällt. Bliebe ein in der Sache gescheiterter Seehofer im Amt, so hätte die CSU jegliches Renommee eingebüßt, wäre ab sofort bestenfalls Schwanzspitze des mit Merkel wedelnden Unionshundes. Söder müsste seine Kreuz-Kampagne abblasen und letztlich ebenfalls sein Scheitern eingestehen. Daran kann niemand in der CSU ein Interesse haben. Also muss Seehofer hart bleiben. Seehofers Scheitern wäre der Gau für die bayerischen Christsozialen und Menetekel für die Landtagswahl. Deshalb wird es dieses Scheitern nicht geben.
Szenario 2 – Merkel knickt ein
Die Frau Bundeskanzler könnte ihre bisherige Position aufgeben und sich den süddeutschen Vorstellungen anschließen. Auch das wird es nicht geben, denn die ohnehin längst als „lame duck“ verschriene Merkel wäre damit politisch abschließend tot. Setzt sie sich gegen Seehofer nicht durch, dann bleibt ihr zur Gesichtswahrung letztlich nur der Rücktritt. Mit erhobenem Haupt könnte sie ihren Hut nehmen, auf ihr Ziel, Kohl im Guiness-Buch der Rekorde als Langzeitkanzler abzulösen, verzichten, und sich den Ruhestand mit der Legende verschönern, sie habe immer alles richtig gemacht und sich nichts vorzuwerfen außer einem falschen Vertrauen zu Parteifreund Seehofer. Sehr wahrscheinlich aber ist angesichts der Einsichtsunfähigkeit Merkels auch dieses Szenario nicht.
Szenario 3 – Merkel spricht ein Machtwort … und dann?
Merkel könnte von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen und Seehofer anweisen, in ihrem Sinne zu verfahren. Täte sie dieses, wäre der Rücktritt Seehofers unvermeidbar. Da sich nun jedoch niemand in der CSU finden wird, der bereit wäre, zu Merkels Konditionen den Job des Innenministers zu übernehmen, wäre der Koalitionsbruch unvermeidbar. Fritz Goergen meinte jüngst bei TE, dann würde Merkel die CSU durch die Grünen ersetzen. Dem allerdings ist deutlich zu widersprechen. Nicht, weil Merkel dieses nicht vielleicht versuchen könnte, sondern weil dieses gleichbedeutend wäre mit der christsozialdemokratischen Urkatastrophe.
Der Bruch der Schwesterparteien hätte für die CSU zwar den Vorteil, vor der Bayernwahl frei und ungehindert durch Berliner Katastrophenpolitik auftreten zu können. Vermutlich würde sie in Bayern selbst dadurch deutlichen Aufwind erfahren. Doch spätestens nach dieser Wahl müsste sie die bundesweite Expansion ins Auge fassen. Genug CDU-Mitglieder, die blitzschnell die Fahne wechseln, sind vorhanden. Der Kraftaufwand dafür wäre jedoch erheblich – könnte allerdings bei den nächsten Bundestagswahlen mit Ergebnissen von deutlich über 20 Prozent belohnt werden.
Szenario 4 – Merkel wird zurückgetreten
Am wahrscheinlichsten ist angesichts der Situation ein Szenario, bei dem Merkel noch in diesem Sommer aus dem Amt getragen wird. Denn in der Union – beidseitig der klassischen Grenzlinie des Main – gibt es genug Kräfte, die Merkel schnellstmöglich aufs Altenteil schicken wollen. Vor allem aber die Mandatsträger, die sich in den aufgeblähten Bundestag haben retten können, spüren, dass angesichts der Verzwicktheit der Situation die Demission Merkels der für sie beste Weg wäre. Verlässt Merkel das Bundeskanzleramt, kann die CDU sich den inhaltlichen Vorstellungen der Bayern umgehend anschließend.
Wer wird Merkels Nachfolger?
Sollte die Demission Merkels unvermeidbar werden, wird CDU-Fraktionschef Volker Kauder zur Schlüsselfigur. Er gilt zwar als überzeugter Merkelianer – doch am Ende ist dem Württemberger das Hemd schon immer näher gewesen als die Hose. Vermutlich arbeitet er, das drohende Unheil ahnend, bereits an einem Plan B ohne Merkel, in dem er weiterhin die Fäden als Fraktionsvorsitzender in den Händen hält. Frei nach dem Motto: Mir ist egal, wer unter mir Kanzler ist – denn er selbst kommt als jemand ohne Regierungserfahrung für eine Merkel-Nachfolge kaum in Frage.
So könnte das Los doch Altmaier zufallen. Merkel könnte ihn als Nachfolger für sich selbst zur Bedingung machen in der Hoffnung, dass er ihre Politik fortsetzen würde. Darauf allerdings ist bei Altmaier nicht zu wetten. So, wie er für seine Karriere unter Merkel so ziemlich alles verraten hat, wofür er als junger Wilder in der Jungen Union der Achtzigerjahre stand, so würde er auch als Merkel-Nachfolger die notwendige Biegsamkeit zeigen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Zumindest als Übergangs-Kanzler könnte er unter dieser Prämisse von CDU und CSU geduldet werden, um einen geregelten Übergang zur Generation der Vierzig-Fünfzig-Jährigen zu gewährleisten.
Scheitert der Übergang an der SPD?
Vorstellbar jedoch ist, dass alle Planspielchen der Union am roten Koalitionspartner scheitern. Denn die Nach-Merkel-Ära wäre in Sachen Migrationspolitik geprägt von den Zielen der CSU. Die wiederum scheinen nach Stand der Dinge unvereinbar mit den Wolkenkuckucksheimern in der Sozialdemokratie. Also doch Koalitionsbruch nach CSU-Ausstieg, Merkel-Demission nach SPD-Rückzug und Neuwahlen in schneller Folge?
Bevor wir dieses Szenario malen, sollten wir einen Blick auf die Akteure der SPD werfen. Scheitert die Große Koalition, wären zumindest zwei Führungspersonen der SPD ebenfalls gescheitert. Und über einen präsentablen Kanzlerkandidaten für Neuwahlen verfügt die Partei nach dem Selbstgemetzel der vergangenen Monate auch nicht.
Olaf Scholz, dem nach wie vor jegliches Charisma abgeht und der deshalb seinem Spitznamen des „Scholzomaten“ in jeder Hinsicht gerecht wird, hat gerade erst seinen Job als Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg aufgegeben. Den Posten ist er also los und ein Rücktritt von Nachfolger Peter Tschentscher und daraufhin der Rücktritt des Andreas Dressel als Finanzsenator und daraufhin dann noch der Rücktritt von Dirk Kienscherf als Fraktionsvorsitzender, um so den Status Quo Ante herbeizuführen – unvorstellbar. Scholz ist derzeit auf Gedeih und Verderb auf die Regierungskoalition angewiesen. Im Geheimen hat er bereits darauf gehofft, in drei bis vier Jahren zum Herausforderer eines dann vermutlich bis heute unbekannten Spitzenkandidaten der Union gekürt zu werden. Dafür aber ist es gegenwärtig noch zu früh – Scholz hatte zu wenige Chancen, sich bundesweit zu profilieren.
Die führenden Personen der SPD sind insofern auf eine Fortsetzung der schwarzroten Koalition fast schon zwingend angewiesen. Ob sie aber ihre chaotisch hin und her flatternde Partei davon überzeugen können, der CSU-Zuwanderungspolitik wider bisherige Positionierung zuzustimmen? Das darf durchaus als fraglich unterstellt werden. Vielleicht aber hülfe unter der Hand ein weiteres Argument. Denn auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen will: Neuwahlen sind mit Merkel-Rücktritt und CSU-Migrationspolitik selbst dann nicht zwangsläufig, wenn die SPD dieses zum Anlass nähme, aus der Koalition auszusteigen.
Regierungsalternativen ohne Neuwahlen
Platzt die Koalition, könnte eine ohne Merkel geeinte Fraktionsgemeinschaft der Union umgehend zu neuen Koalitionsverhandlungen einladen. Wie wäre es beispielsweise mit dem Hamburger Modell: Union mit FDP und „Populisten“? Ähnliches funktioniert bereits in Österreich und nun auch in Italien. Daran hätte zwar auch die FDP schwer zu kauen – doch neben den eigenen Ministerposten zwei für Alice Weidel und Jörg Meuthen und die Zusage, die AfD künftig etwas weniger national zu sozialisieren? In den meisten Inhalten wären die neuen Drei so weit auseinander nicht.
Oder doch Neuwahlen?
Angenommen nun aber, alles das misslingt und der Bundestag beschließt die Selbstauflösung. Dann würden die Karten bei Neuwahlen neu gemischt.
Die dann vermutlich getrennt marschierenden Unionsparteien stünden vor dem Problem des Kanzlerkandidaten. Nun reicht der CSU allerdings vorerst noch ein Spitzenkandidat. Seehofer als Retter des Abendlandes wäre dafür prädestiniert. Größere Probleme hätte jedoch die CDU. Mit jemandem aus dem Merkel-Altbestand anzutreten, birgt selbst bei bundesweitem Antrittsverzicht der CSU das Risiko, die 30-Prozent-Marke spürbar zu unterbieten. Sonst aber ist dort weit und breit niemand zu sehen, der dem Volk ernsthaft präsentiert werden könnte. Ein Dilemma, das der Partei einige vergnügliche Nachtsitzungen garantieren könnte.
Die SPD dürfte sich zwischen Scholz und Nahles entscheiden. Mit der reellen Chance, damit unter der 20-Prozent-Marke zu verharren und endlich in die lang ersehnte Opposition geschickt zu werden.
Bei FDP und Grünen bliebe personalpolitisch vermutlich alles beim Ist-Stand. Deren Gesichter sind im Großen und Ganzen noch unverbraucht genug, um werbewirksam zu sein. Obgleich allerdings KGE zunehmend mehr unter dem Merkel-Syndrom des Überdrießlichseins leidet.
Schwierig wird es für die Kommunisten. Der Parteitag hat wieder einmal deutlich gemacht: Sahra Wagenknecht ist zwar ansehnlich und eloquent genug, um als Galionsfigur durch die Sprech-Schauen gereicht zu werden – doch in der Partei findet ihre national-kommunistische Grundausrichtung wenig Unterstützung. Kipping-Riexinger allerdings hätten die unabweisbare Chance, die SED-Altbestände in den neuen Bundesländern abschließend zur AfD zu treiben. Es bleibt insofern spannend, wie sich die Kommunisten bei Neuwahlen positionierten.
Schauen wir nun noch auf die AfD. Die wäre gut beraten, den bekleckerten Alexander Gauland aus der vordersten Linie zurück zu ziehen und mit dem gemischten Doppel Weidel-Meuthen ins Rennen zu gehen. In dieser Kombination wäre die Partei nach den Wahlen umgehend koalitionsfähig für die Unionsparteien. Vielleicht sogar für die FDP. Einziges Risiko: Eine bundesweit antretende CSU könnte die Newcomer unter die Fünf-Prozent-Sperrklausel drücken. Doch so weit ist es noch nicht.
Minderheitsregierungsregierungsvarianten
Vielleicht aber bleibt nach der Merkel-Demission auch noch ein weiterer Weg, der das breit gefächerte Neuwahl-Risiko ausräumen könnte: Die in jüngster Zeit bereits mehrfach angedachte Minderheitsregierung. Die könnte es sogar doppelt geben.
So wäre es nach einem Ausscheiden der CSU vorstellbar, dass die ehemalige Schwester – in diesem Falle vielleicht sogar mit Merkel an der Spitze – mit der SPD einfach weitermacht. Mehrheiten im Parlament wären dann jeweils nach Sachstand zu besorgen. Hier nun stehen die Grünen tatsächlich Gewehr bei Fuß – wie sie angesichts der Forderung nach einem Untersuchungsausschuss in Sachen Asylmissbrauch bereits deutlich gemacht haben. Das allerdings setzt voraus, dass die CSU von der bundesweiten Expansion absieht. Denn andernfalls wird eine erkleckliche Anzahl von CDU-Abgeordneten dieses Spiel verweigern.
Eher wahrscheinlich wäre insofern, dass die Union geschlossen bleibt und – in diesem Falle ohne Merkel – ohne weitere Partner regiert. Sie müsste dann dafür sorgen, dass der Kanzler-Nachfolger spätestens im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt wird. Hierfür wären Zugeständnisse unverzichtbar. Doch könnte nun der langjährige Strippenzieher Kauder zu neuer Höchstform auflaufen. Vielleicht Duldung durch die langjährigen Freunde bei der SPD? Oder bei FDP und AfD? Oder zumindest einigen Teilen davon, um nicht in die von den meisten Abgeordneten unerwünschten Neuwahlen zu müssen? Eine Unions-Minderheitsregierung ohne Merkel könnte insofern durchaus bis zu regulären Neuwahlen überleben.
Hauptsache, Merkel ist weg
Der CSU könnte am Ende fast alles Recht sein. Hauptsache, sie hat endlich Merkel abgeräumt und kann als tatkräftiger Vertreter der Werte des Abendlandes in die Bayernwahl gehen.
Und im Winter sehen wir dann weiter, wohin sich das bundesdeutsche Parteiensystem schüttelt. Zuvor ungeahnte Konstellationen sind in Europa derzeit en vogue. Der Blick nach Österreich zeigt: Sie können sogar erfolgreich sein, wenn sie das Wählervolk mit der Politik wieder versöhnen.
Insofern gilt gegenwärtig: Vieles ist denkbar. Am wahrscheinlichsten allerdings ist, dass Merkel im Herbst nicht mehr Bundeskanzler sein wird. Und allein das wäre alles andere als ein Schaden. Der Rest wird sich dann zeigen.