Nun ist es doch geschehen – Berlins Innensenator Andreas Geisel hatte es geahnt und wollte deshalb vorsorglich das Grundrecht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit außer Kraft setzen lassen. Demonstranten haben es gewagt und tatsächlich bei wenigen Polizisten geschafft: Sie haben die Treppe des Reichstagsgebäudes bevölkert.
An sich wäre dieser Akt nicht der Rede wert. Bevor die Politik beschloss, den Zugang zum Reichstag für den Bürger grundsätzlich nur nach Personen- und Waffenkontrollen zu ermöglichen, waren die Treppen des Gebäudes Tummelplatz für Kurzverweiler, Touristen, Architektur- und Geschichtsbegeisterte. Erst als islamische Terroranschläge es notwendig sein ließen, alles, was irgendwie Symbolcharakter haben könnte, vor Volk und Terroristen zu schützen, wurde auch dieses 1894 fertiggestellte Gebäude zu einer Art „forbidden zone“. Noch in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts war es ein Vergnügen, auf einen Sprung von der Wilhelmstraße zum Platz der Republik zu gehen, und von Dach des Hauses einen Blick auf das nächtliche Berlin zu werfen.
Doch dann kann der Islamterror – und mit ihm die Zugangsbeschränkungen. Seitdem darf als „Außenstehender“ nur noch in und auf das Gebäude, wer eine Zutrittsberechtigung und sich durch das Containerdorf vor dem Gebäude geschleust hat, in dem er auf Herz und terroristische Absichten geprüft wird.
Nicht mehr „dem deutschen Volke“
Vorbei also nun die Zeiten, als noch galt, was seit 1916 groß über dem Haupteingang, gegossen aus dem Metall zweier Kanonenrohre aus den Befreiungskriegen, steht: „Dem deutschen Volke“. So war es einst gedacht, dieses vom Hugenotten-Abkömmling Paul Wallot geplante, eindrucksvolle Gebäude, das in seiner Geschichte immer wieder im Mittelpunkt deutscher Geschichte stand.
Am 9. November 1918 vollzog der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann auf dem Westbalkon des Gebäudes den politischen Staatstreich, mit dem aus staatrechtlicher Sicht die freiheitlich-laizistische Verfassung von 1871 durch eine kurzfristig amtierende, sozialdemokratische Räteregierung außer Kraft gesetzt wurde, indem er ausrief: „Das alte und morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue. Es lebe die deutsche Republik.“
1918 also verkündeten Sozialdemokraten vom Reichstag aus die neue Republik ohne Preußenkönig mit dem Namen „Deutscher Kaiser“ als Bundespräsidenten, während die sich an Lenins Machtusurpation orientierenden Kommunisten unter Karl Liebknecht vor dem Berliner Schloss, welches seine Brüder im Geiste nach 1945 wegsprengen sollten, das Oxymoron einer „freien sozialistischen Republik“ ausrief.
Fortan nun diente der Reichstag den gewählten Weimarer Demokraten und Undemokraten als Tagungsstätte und Parlament, bis dann am 1. Februar 1933 der frisch im Amt ernannte Reichskanzler Adolf Hitler das Parlament für aufgelöst erklärte. Keinen Monat später standen der Plenarsaal nebst umliegenden Räumen durch Brandstiftung in Flammen. Bedeutungsschwanger als „Reichstagsbrand“ in die Geschichte eingegangen, wurde lediglich ein niederländischer Kommunist für schuldig befunden – alle weiteren Angeklagten um den internationalistischen Berufsrevolutionär Georgi Dimitroff wurde mangels Beweisen freigesprochen.
Hitler – und mit ihm die extreme Linke – jedenfalls waren nun das manifeste Symbol der bürgerlich-liberalen Demokratie los. Der junge Reichskanzler ließ sein künftiges Pseudoparlament in die Kroll-Oper umziehen – dem deutschen Volke diente künftig nur noch eine Ruine, dem Parlament ein Theater.
Die Machtübernahme durch die UdSSR
Wiederum symbolträchtig besetzten dann am Ende der rechtssozialistischen Terrorphase Soldaten der Roten Armee der Sowjetunion am 1. Mai 1945 das geschundene Gebäude. Nicht mit der Übernahme des totalitären Machtzentrums in der Reichskanzlei an der Wilhelmstraße, sondern mit der Übernahme des Symbols deutscher Demokratie ließ Stalin seinen Sieg feiern. Über dem deutschen Volke wehte nun die rote Fahne mit Hammer und Sichel – bis die Sowjetarmee den Stadtbezirk Tiergarten an die Amerikaner übergeben musste, wo die von manchen als Trutzburg behauptete Ruine bis auf Weiteres recht allein auf weitem Feld stand.
In den Sechzigerjahren dann durfte der Bauhausanhänger Paul Baumgarten das ehrwürdige, aber arg zerstörte Gebäude im Stil der Zeit vergewaltigen. Immerhin jedoch war es nun wieder funktional zu nutzen – auch wenn unter dem Viermächte-Status für Berlin der Deutsche Bundestag dort nicht tagen durfte.
Seitdem allerdings schottet sich das Gebäude gegenüber seinem Volk zunehmend ab. Das Gebäude, einst als Symbol für ein freies, modernes Volk geplant und errichtet, wird zur Festung. Wie einst im Mittelalter soll künftig ein zwei Meter tiefer Graben das Gebäude gegen Frontalangriffe schützen. Die „weichen“ Flanken mit den Zufahrten zum Haupteingang sollen durch massige Zäune gegen Erstürmung gesichert werden.
Es ist immer nur Symbolik
So liegt es nun auf der Hand, dass dieses Gebäude, einstmals für das Volk errichtet und nun gegen dieses als Festung geplant, eine erneute Symbolkraft erhält. Und genau diese machten sich einige Demonstranten zunutze, als sie am 29. August 2020 die derzeit noch nur aus Polizisten ohne Graben bestehende Abschirmung durchbrachen und mit wehenden Fahnen die Treppe besetzen – Szenen, deren Dynamik einen unbeteiligten Zuschauer spontan an die Propagandaszene der Sergej-Eisenstein-Verfilmung von der Erstürmung des Winterpalais in Sankt Petersburg erinnerten.
Faktisch geschehen ist nichts. Ein paar Demonstranten erklommen die Treppe eines Gebäudes, ohne weiteren Schaden anzurichten. Als die Polizei zur Räumung kommt, ziehen sie ab.
Doch auch den „Erstürmern“ ging es selbstverständlich nicht darum, mit ihrer kleinen Hundertschaft nun die Macht im Staate zu übernehmen. Auch ihnen ging es um Symbolik – und dabei sind sie Dank der Überreaktionen aus dem politischen Hauptstadtbetrieb nun aller bestens bedient. Ihre Szene wird sie zu Helden stilisieren – gedankt dem politischen Überaktionismus jener, die bereits die Grundfesten des Staates wanken sehen wollen.
Es ist nicht nur diese Überhöhung, die aus einer vorübergehenden Treppenbesetzung einen Sturm auf die Bastille macht – es sind vor allem die historisch unzulänglichen und bewusst falschen Bezüge, die die Politik hinsichtlich der Treppenbesetzer nun herzustellen sucht und womit sie eben diesen Treppenbesetzern ihren Traum der Heroisierung erfüllt.
Politische Überreaktion als Vorspiel für den Angriff auf die Meinungsfreiheit
Bundesinnenminister Horst Seehofer, dessen Bundespolizei maßgeblich für den Schutz des Reichstagsgebäudes zuständig ist, spricht von „Chaoten und Extremisten“, die „das Zentrum der freiheitlichen Demokratie für ihre Zwecke missbrauchen“.
Eine Treppe als Zentrum der Demokratie?, könnte nun zynisch gefragt werden. Doch wir haben verstanden: Die Treppe steht ab sofort für das Haus selbst, das Haus wiederum steht für das Parlament, das Parlament für den Berliner Politikbetrieb an sich. Insofern trafen die stürmenden, Treppe-besetzenden Demonstranten selbstverständlich die Berliner Politik ins Herz, wie es folgerichtig dann auch der Mann im Schloss Bellevue schnell feststellte.
Doch hier nun muss das regierungsamtliche Narrativ greifen: Corona-Skeptiker sind Extremisten. Wobei sich die Frage stellt, ob die Treppen-Stürmer nun tatsächlich Corona-Skeptier waren, oder lediglich den Anlass für andere Zwecke genutzt haben.
Geschichtsklitterung soll den Angriff auf die FDGO belegen
Hier nun wird es krude und unübersichtlich. Denn die Herrschaften, die die Treppe besetzten, trugen einige Fahnen mit sich, die denen des Deutschen Reichs von 1871 bis 1918 entsprachen. Das nun könnte sie tatsächlich als Anhänger der sogenannten Reichsbürger-Idee kenntlich machen – eine abstruse Theorie, wonach das Deutsche Reich nicht 1945 durch die Alliierten zu Grabe getragen worden war, sondern bis heute fortbesteht.
Unabhängig davon aber ist weder das Mitführen der Reichsflagge noch der Wunsch, zur damaligen Verfassung zurückzukehren, eine in der Bundesrepublik strafbare Handlung. Die Flagge der ersten deutschen Demokratie kann selbst dann, wenn sie von irgendwelchen politisch verwirrten Triebtätern missbraucht wird, niemals ein Symbol der Schande sein. Und der Wunsch, vielleicht sogar einen monarchischen Parlamentarismus nach dem Modell der 1871-Verfassung zu rekonstituieren, ist im politischen Pluralismus zulässig, solange er seine Ziele im demokratischen Wettstreit der Ideen formuliert und zu erreichen sucht
Doch dass es Sozialdemokraten – vermutlich eine Folge sozialistischer Bildungsexperimente der vergangenen 50 Jahre – mit historischem Wissen nicht haben, ist nicht nur bei dem Saarländer und dem Westfalen festzustellen. SPD-derzeit-Möchtegernkanzler Olaf Scholz twitterte noch einen Zacken schärfer: „Nazisymbole haben vor dem Bundestag rein gar nichts verloren“.
Da wäre ihm in der Sache nicht zu widersprechen – nur: Es gab vor dem Reichstag am 29. August keine „Nazi-Symbole“.
Offenbar verwechselt der Osnabrücker die Flagge des Deutschen Reichs mit dem Propagandafetzen, den die nationalen Sozialisten der von ihnen gekaperten Republik nach 1933 aufzwangen. Zwar nutzte auch die NSDAP-Führung die klassischen Reichsfarben schwarz-weiß-rot, die als ursprüngliche Farben des Norddeutschen Bundes übrigens, so eine heraldische Deutung, mit dem schwarz-weiß für Preußen und mit dem weiß-rot für die freien Hansestädte gestanden haben sollen, doch gestaltete sie diese Farben gänzlich neu. Auf dem rot der Sozialisten, welches nun als flächendeckende Grundfarbe diente, wurde zentral ein weißes Rund gesetzt, dort hinein kam die nordische Hakenkreuz-Rune als Symbol der NSDAP.
Diese Flagge hatte also in ihrer Bedeutung nichts mehr von der ursprünglichen Reichsflagge – vielmehr machte das ideologische Symbol eine totalitären Bewegung deutlich, dass der einstmals bürgerlich-liberale und demokratische Staat durch die Ideologie des nationalen Sozialismus übernommen worden war. Wenn nun Scholz auf der Treppe des Reichstags „Nazisymbole“ zu erkennen meint, obgleich dort keine zu finden sind, stellt sich die Frage: Ist dieser Mann ohne jegliche historische Bildung, ist er einfach nur dumm, leidet er vielleicht an Wahrnehmungschwierigkeiten oder versucht er vielleicht gar bewusst, Geschichte zu klittern, um darauf sein ideologisches Süppchen zu kochen? Was immer auch die Ursache sein mag – ein Ausweis von Kanzler-Tauglichkeit ist nicht davon. Ganz im Gegenteil.
Das Ziel: Die sozialistisch-autoritäre Haltungsrepublik
Doch die Zielrichtung ist unverkennbar. Ganz im Sinn kulturrevolutionärer Bilderstürmer soll alles, was des Sozialisten Horizont übersteigt, bewusst kriminalisiert werden. Deutsche Geschichte vor 1949 (noch, demnächst dann vermutlich vor 1989) wird zu einem Ablauf staatskrimineller Verschwörungen umgeschrieben – die kurze Phase zwischen 1920 und 1933 ausgenommen vielleicht, in der auf der Grundlage einer in Weimar verabschiedeten Verfassung ein demokratisches Grundgerüst damit begann, aus dem liberal-laizistischen Staat von 1871 ein staatspolitischen Arbeitsauftrag zu machen.
Also muss nun ganz im Sinne der überzeichneten Karikatur der ersten deutschen Demokratie durch Heinrich Mann auch das sogenannte „Kaiserreich“ (was es im eigentlichen Sinne nie gewesen ist) zum Hort des Nazitums gemacht werden. Bürgerlich-liberale Demokraten, die Fürsten und Königen 1871 nach langem Ringen die freiheitlichste deutsche Verfassung ihrer Geschichte abgerungen hatten, sollen mit den rechts-kollektivisten Geistesbrüdern der links-kollektivisten Sozialisten in einen ideologischen Topf geworfen werden, um am Ende des Prozesses alle Freiheitswerte des bürgerlichen Liberalismus zu Unwerten der nationalen Sozialisten erklären zu können. Jeder gegenwärtig noch mögliche Widerstand gegen die kollektivistische Zwangsbeglückung durch sozialistische Ideologen, der sich nach dem liberalen Abdanken der FDP nur noch außerparlamentarisch formuliert, soll in die große, alles fassende Nazi-Kiste geschmissen werden.
Auf falscher Symbolik eigene Süppchen kochen
Unbestritten, vermutlich waren jene, die nun mit Reichsflaggen vorübergehend die Reichstagstreppe besetzt hatten, ebenfalls politisch Verwirrte. Vermutlich auch haben sie selbst nicht begriffen, wofür das angebliche Kaiserreich faktisch gestanden hat. Vermutlich zweckentfremden sie die Flagge der ersten deutschen Demokratie tatsächlich für wirre, politische Anschauungen. Doch dafür kann die Reichsflagge nichts: Auch aus Hammer und Sichel wird kein NSDAP-Symbol, selbst wenn „Rechtsextremisten“ sie künftig für ihre Auftritte nutzen sollten.
Aber angesichts kontinuierlicher Volksverdummung durch sozialistische Bildungsexperimente bietet sich die Diffamierung auch unbelasteter Symbole durch eine historisch mehr als unkorrekte Behauptung zu „Nazisymbolen“ an, um der offensichtlichen Agenda der Abschaffung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit weiteren Verschub zu leisten.
Der Ex-SED-und-nun-SPD-Funktionär Andreas Geisel befindet, es hätten sich am 29. August Menschen versammelt, die „an unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung insgesamt Zweifel hegen und diese angreifen wollen“. Sein Verständnis ende da, „wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen.“
Es geht also darum, aus einem verfassten Grundrecht ein politisches Wohlgefallensrecht zu machen. Dazu sind Verfassungsfeinden alle Mittel recht – auch die historisch unkorrekte Diffamierung deutscher Geschichte.
Dabei darf gegenwärtig noch ein deutscher Staatsbürger unter dem Schutz des Grundgesetzes selbstverständlich sogar eine Partei gründen, die „Zweifel an der freiheitlicht-demokratischen Grundordnung“ hat. Wäre dem nicht so, dann hätte beispielsweise die KPD-SED-PDS-PdL längst verboten werden müssen. Doch solange diese Zweifel nur in der demokratischen Debatte vertreten werden, nicht jedoch aktiv die Abschaffung der FDGO betreiben, können solche Parteien in der BRD tätig sein. Und das selbst dann noch, wenn die Überwindung der FDGO und die Ersetzung derselben durch einen ideologisch geprägten Haltungsstaat stillschweigend und subversiv erfolgt.
Die Linken schaffen rechte Helden
Insofern aber ist das nun zu konstatierende Hochgeschreie jener paar vermutlich politisch Verwirrten, die kurzfristig die früher frei zugängliche Reichstagstreppe besetzten, dann doch weder Dummheit noch Bildungsmangel, sondern berechnendes Kalkül. Wer nicht für den sozialistischen Haltungsstaat ist, ist Nazi. Und Nazis gehören verboten und ihnen ihre Grundrechte entzogen. So lautet die wahre Agenda dessen, was wir gegenwärtig erleben.
Die staatlich betriebene Nazifizierung schafft sich notwendige Gegner
Die Frage allerdings wird sein, ob nicht die kontinuierliche Nazifzierung immer breiterer Bevölkerungskreise durch die machthabende Politikelite irgendwann nach hinten losgeht. Denn wer seine eigene, linke Agenda offenbar nur damit durchsetzen kann, indem er sich ständig mehr Menschen als Nazi-Hassfeinde und denen dann die Helden schafft, belegt damit nicht nur die Jämmerlichkeit der eigenen Ideologie – er wird auch bewusst zum Totengräber der demokratisch-freiheitlichen Ideale.
Wer sein Volk zu Nazis macht, weil er meint, darauf sein machtpolitisches Süppchen der Überwindung einer freien Gesellschaft kochen zu können, darf sich nicht wundern, wenn er eines Tages nur noch von solchen Nazis umgeben ist. Wer aus der kurzfristigen, lächerlichen Besetzung einer Treppe einen „Sturm auf den Reichstag“ macht, schafft sich selbst jene Helden, auf deren Brust er künftig zielen wird.
Ideologie statt Vernunft
Ein vernünftiger Umgang mit jenen fahneschwingenden Treppenbesetzern wäre es gewesen, sie einfach freundlich darum zu bitten, die Treppe wieder zu verlassen und bei Widerstand mit sanftem Druck nachzuhelfen. Nun aber werden sie von der Politik und den Politik-hörigen Medien zu Helden einer Bewegung hochgeschrieben, die es ohne das politische Fehlverhalten der Herrschenden niemals gegeben hätte. So zeugt man sich seine Gegner selbst, indem man Kritiker und Verwirrte zu Anti-Helden der eigenen und Helden der generischen Ideologie macht.
Und so betreibt man aktiv jene Spaltung, die man anderen vorwirft, die es ohne die eigene Spaltungsagenda in dieser Form nie gegeben hätte.