Droht Wladimir Putin nun mit offenem Krieg? Erst vor wenigen Tagen schrieb ich über das mögliche Kuba-Szenario, dass dem russischen Präsidenten vorzuschweben scheint. Unmittelbar danach veröffentlichte Putin einen sogenannten Forderungskatalog an „den Westen“ – eine Liste von durch die NATO unerfüllbaren Ansprüchen, will das westliche Verteidigungsbündnis nicht seine eigenen Grundsätze verraten. So verlangt der Kreml, die NATO möge ihre militärische Infrastruktur auf die Positionen von 1997 zurückziehen. Damit wären alle ehemaligen Staaten des Warschauer Pakt faktisch aus der NATO expediert und die EU am Ende – nicht vorstellbar, dass Putin allen Ernstes glaubt, eine solche Forderung durchsetzen zu können. Denkbar allerdings, dass er tatsächlich ein Kuba-Szenario erträumt und darauf setzt, mit Maximalforderungen zumindest einen von ihm gewünschten Status Quo durchsetzen zu können. Die Reaktionen der NATO allerdings ließen ihm wenig Hoffnung, auch wenn die Appeaser im Westen nicht zu unterschätzen sind.
Am Montag der Weihnachtswoche nun legte Putin nach. Bei einem Treffen mit der Militärführung stellte er fest: „Im Fall einer Fortsetzung der ziemlich aggressiven Linie unserer westlichen Kollegen werden wir mit adäquaten militärisch-technischen Maßnahmen antworten.“
Schuld am Krieg sei die NATO
„Ziemlich aggressive Linie unserer westlichen Kollegen“? Damit meint der Russe nicht nur die Unterstützung der gewählten ukrainischen Regierung durch die USA. Tatsächlich hatte US-Präsident Joe Biden den Ukrainern im September Militärhilfe in Höhe von 60 Millionen US-Dollar zugesagt und als Ziel die „bessere Verteidigung gegen russische Aggressionen“ genannt. Damit soll sich die Militärhilfe, mit der Washington Kiew unterstützt, laut US-Angaben seit 2014 auf aktuell 2,5 Milliarden Dollar belaufen. Zudem ließ Biden wissen: „Die Vereinigten Staaten bekennen sich weiterhin entschieden zur Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine angesichts der russischen Aggression.“ Was konkret das bedeutet, wird jedoch nicht gesagt – für Russland allerdings steht fest: Erzfeind USA will nach Skandinavien und dem Baltikum nun auch über die Ukraine unmittelbar an Russlands Grenzen heranrücken.
Russlands Machteinfluss nach 1989 zurück auf Status 1910
Es ist nicht nur Weißrussland, das der Herr im Kreml nun zu seinen Gunsten gegen die demokratische Volksbewegung sicherte, und die Ukraine, deren Verlust er nicht zulassen will – es sind auch jene bereits unter das Dach der NATO geschlüpften ehemaligen Vasallenstaaten im Herzen Europas und am Schwarzen Meer, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit zurückerlangten und die Putin nicht verloren geben mag. Hinzu kommt: Auch auf dem Balkan scheint sein Versuch, ehemals blockfreie Regionen in seinem Dunstkreis zu halten, weitgehend verloren. Im stets westorientierten Kroatien sowie Slowenien ohnehin – doch mit dem NATO-Beitritt von Albanien, Montenegro und Nordmazedonien sind Putins Ambitionen, seinen Einfluss bis an die Adria auszudehnen, gescheitert. Nur das traditionell Russland-affine Serbien schwankt, da es im Falle einer offenen Annäherung an Russland seine Chance, an die Fleischtöpfe der EU zu kommen, aufgeben muss. Doch Putin hat dort einen Fuß in der Tür: Erst im November übergab er den Serben Panzer und Kriegsfahrzeuge im Wert von 75 Millionen Euro.
Für Putin sind die Beitritte zuletzt der Balkanstaaten Teil der NATO-Aggression, während er sein eigenes Bemühen, dort Fuß zu fassen, als einen Akt der Selbstverteidigung versteht.
NATO-Aggression versus russische Selbstverteidigung
Aggression war so auch die Aussage des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg im Oktober, wonach das Nordatlantikbündnis jederzeit bereit sei, den Partner Finnland als Mitglied aufzunehmen. Um einen entsprechenden Wunsch der früheren Zarenprovinz zu beflügeln, wies Stoltenberg noch einmal eindrücklich auf den Unterschied zwischen Mitglied und Partnerschaft hin: „Artikel 5 legt fest, dass ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf die Allianz gilt. Wenn man kein Mitglied der Allianz ist, gilt Artikel 5 nicht. Darin besteht auch der Unterschied im Status eines Partners.“ Will sagen: Greift Russland das EU-Land Finnland an, besteht keine vertragliche Verpflichtung der Allianz, gegen den Aggressor vorzugehen. Dieses ist eben auch der Grund, warum die Ukraine flehentlich um jene Aufnahme bittet, die Putin um jeden Preis zu verhindern sucht.
Russland fühlt sich zunehmend von der NATO eingekreist und hat im Osten seines Großreichs zudem einen potentiellen Gegner, der ebenfalls durch keine Pufferstaaten von der Föderation getrennt ist. In gemeinsamen Manövern, die beiden Seiten vorrangig dazu dienten, die militärische Leistungsfähigkeit des anderen einschätzen zu können, wurde der Welt ein einvernehmliches Miteinander der beiden asiatischen Großmächte zelebriert. Seinen Anspruch auf die im 19. Jahrhundert militärisch abgezwungenen Nordterritorien allerdings hat Peking niemals aufgegeben – und die Vorstellung, künftig nicht mehr für sibirisches Gas und zentralasiatischen Weizen an Russland zahlen zu müssen, hat durchaus eine gewisse Attraktivität. Zwar steht im Reich der Mitte gegenwärtig der pazifische Konflikt mit den USA im Vordergrund – die behutsame Übernahme der ehemaligen Mandschu-Provinzen obliegt bis auf Weiteres den chinesischen Einwanderern, die beharrlich nach Sibirien einsickern.
Potentielle Bedrohungen im Westen wie im Osten
Putin hat insofern ein doppeltes Problem, bei dem er sein Reich von zwei ungleichen Riesen bedrängt sieht. Mit dem Östlichen der beiden glaubt er sich gegenwärtig in einem halbwegs gedeihlichen Einvernehmen und erwartet dort keine Zuspitzung, sollte der Konflikt zur NATO an Schärfe zunehmen. Vielmehr geht Moskau davon aus, dass Peking kein Problem damit hätte, wenn der kühle Krieg zwischen NATO und Russischer Föderation allmählich wärmer wird. Doch die Geschichte lehrt, dass auf solche Bauchgefühle wenig Verlass ist – und manch Analytiker im Westen sieht in der engen wirtschaftlichen Bindung des roten Reichs am Gelben Fluss an den Absatzmarkt EU eine Sicherheitsgarantie. Realistischer allerdings dürfte im Ernstfall eine Pekinger Abwägung des territorialen Gewinns sein – und dabei könnte die Übernahme des russischen Ostens wesentlich attraktiver sein als die Unterbrechung der Handelsbeziehungen zur EU.
Ein heißer Krieg, der von Russland gegen die westlichen Verbündeten ausgeht, scheint vor allem Europas Politikern dennoch unvorstellbar. Gleichwohl: „Adäquate militärisch-technische Maßnahmen“, das klingt nach deutlich mehr als nach Sanktionen oder Diplomatenausweisung. Das kann auch der jeweils kalkulierte Waffengang sein, wenn Russland sich bedroht sieht. Und das tut es nicht zuletzt aufgrund der Aussagen Stoltenbergs, wonach das Verhältnis der 30 NATO-Mitglieder zur Ukraine ausschließlich von diesen und sonst niemandem bestimmt werde. Dagegen, so auch Vizeaußenminister Sergej Rjabkow, werde Russland „kämpfen.“
Aus dem Krieg der Worte ein Waffengang mit ungewissem Ausgang?
Tatsächlich besagt die 2014 veröffentlichte „Putin-Doktrin“, dass in angrenzenden Staaten „eine Politik, welche die Interessen der Russischen Föderation bedroht“, als „militärische Bedrohung“ eingestuft werde. Damit wird bereits eine Revolution wie 2014 in der Ukraine oder ein Aufstand wie in Weißrussland zum Anlass eines russischen Militäreinsatzes.
Noch ist es ein Krieg der Worte und des subversiven Vorgehens – doch beide Seiten haben sich längst in eine Situation manövriert, aus der es kein Entkommen gibt.
Gehen NATO und EU auf Putins Forderungen auch nur ansatzweise ein, indem sie – vergleichbar der Kuba-Krise – auf jede weitere Unterstützung der Ukraine verzichten und den diktatorischen Status in Weißrussland ebenso akzeptieren wie einen NATO-Nichtbeitritt Finnlands und weiterer, potentieller Partner, dann verraten sie sich selbst und jene Völker, die im Vertrauen auf das westliche Wohlstands- und Selbstbestimmungsangebot fort von Moskau streben.
Putin pokert mit zu hohem Einsatz
Moskaus Forderungen sind für die NATO nicht akzeptabel. Putin sollte das wissen, auch wenn er meint, besser pokern zu können. Darin liegt die eigentliche Gefahr, die Russland derzeit beschwört. Putin hat sich in eine Position manövriert, aus der es für ihn persönlich kein Entkommen mehr gibt. Er kann sich nicht durchsetzen, weil dieses die Selbstvernichtung der NATO bedeutet. Und er hat mit dem Säbelrasseln den Korridor für diplomatische Lösungen kontinuierlich eingeengt. Selbst eine Aufgabe der Ukraine würde für die NATO mittlerweile einen unzumutbaren Akt der Selbstzerstörung darstellen.
Putin wird versuchen, mit weiteren Nadelstichen und Drohungen den Westen weichzuklopfen. Bereits seit September hat Russland das Asowsche Meer zwischen Krim und Festland gesperrt. Am 21. Dezember hat Russland den Erdgasstrom in der Pipeline Jamal-EU umgekehrt – das zweite Mal nach einem entsprechenden Testlauf Anfang November. Putin droht im kühlen Krieg mit einem kalten Winter.
Der Cyberkrieg hat längst begonnen
„Militärisch-technische Maßnahmen“ – dass muss sich nicht auf Einmarsch beschränken. Vielmehr wird Putin darunter neben der Energieversorgungslücke, in die Angela Merkel mit ihrem undurchdachten Atomausstieg und die grüne Klimaideologie die Bundesrepublik gebracht haben, als nächste Schritte die Intensivierung unbewaffneter Angriffe auf die Infrastruktur des Westens verstehen. Der Cyberkrieg, der längst entbrannt ist, wird nach Opfern suchen: Energie- und Wärmeversorgung, Verkehrsinfrastruktur, Gesundheitssystem – alles das sind mögliche Ziele, die Russland für sich selbst als Mittel der Verteidigung definieren und gegen die der Westen wenig ausrichten kann, selbst wenn sie unmittelbar ihren Urhebern zuzuweisen sind.
Einen kleinen, regional begrenzten Krieg der Militärmacht Russland gegen die Ukraine wird es unter den gegenwärtigen Voraussetzungen kaum noch geben können. Denn es wäre nun eben doch kein Krieg mehr um klassische nationale Interessen, es ist ein Krieg gegen den totalen Gesichtsverlust – auf beiden Seiten.
Solche Kriege sind erfahrungsgemäß die gefährlichsten, da sie sich ab einem bestimmten Zeitpunkt jedweder rationalen Argumentation und Logik entziehen. Vielleicht sogar fühlt sich Putin tatsächlich stark genug, einen offenen Krieg gegen die NATO gewinnen zu können. So unterstrich er anlässlich der Eröffnung der „Internationalen Armeespiele“ im August 2021, dass der „Anteil moderner Ausrüstung bei den strategischen Nuklearstreitkräften bereits bei über 80 Prozent“ liege. Dies sei höher als in anderen Nuklearländern der Welt. Und: Zahlreiche Waffen Russlands seien „durch ihre taktischen und technischen Eigenschaften weltweit einzigartig“, soll heißen: Auch der NATO deutlich überlegen.
Es spielt keine Rolle, ob es tatsächlich so ist oder ob hier die berühmten Potemkin‘schen Dörfer gezeichnet wurden. Entscheidend ist, ob Putin selbst daran glaubt – denn dann wird er auch bereit sein, sie einzusetzen, bevor ein drohender, totaler Gesichtsverlust ihn gnadenlos aus der russischen Geschichte expediert.