Als wir unter Winfried Stefani Ende der Siebzigerjahre im politischen Seminar der Universität Hamburg das Thema Radikalenerlass auf der Agenda hatten, war ich so ziemlich der einzige der Studierenden, der dieses Instrumentarium der Verfassten Demokratie befürwortete und verteidigte. Meine Kommilitonen (m/w – d gab es damals noch nicht) sprachen kollektiv vom „Berufsverbot“, welches einen unerträglichen Angriff auf die Persönlichkeitsrechte des Bürgers darstelle.
Worum ging es bei der Debatte, die auf Seiten der Anti-Berufsverbotler durchaus fanatische Züge annahm?
Am 18. Februar 1972 hatten die Innenminister des rot-gelb regierten Bundes und der Länder einen gemeinsamen Runderlass beschlossen, der die Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Kräften im Öffentlichen Dienst regeln sollte. Wie sinnvoll dieses damals gewesen ist, können wir unschwer erkennen, wenn wir uns die Sozialistisierung der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts betrachten. Doch davon später.
Dieser sogenannte „Radikalenerlass“ oder auch „Extremistenbeschluss“, von seinen Gegnern schnell als „Berufsverbot“ negativ konnotiert, sollte sicherstellen, dass Beamte als dem sie beschäftigenden Staat verpflichtete und durch diesen zu alimentierende Mitarbeiter in staatstragender Funktion zu den Werten der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung (FDGO) stehen. Für mich war und ist dieses eine Selbstverständlichkeit. Schließlich stellt ein Schlachthof auch keinen militanten Tierschützer ein – und die Bank keinen strafrechtlich als solchen erkannten Bankräuber (von den systemimmanent Unerkannten soll hier nicht die Rede sein).
Der Beamte – nur um diesen ging es und nicht um den Angestellten im Öffentlichen Dienst – sollte, so erwarteten es seine Dienstherren, also nichts anderes tun, als sich zu den Grundwerten seines Arbeitsgebers zu bekennen. Wer hingegen diese Grundwerte ablehnte, weil ihm beispielsweise die Rechts- oder Wirtschaftsordnung nicht gefiel, hatte in der freiheitlichen Demokratie jedes Recht, solche Ziele zu vertreten und auch an deren Erreichen auf friedlichem Wege zu arbeiten – nur sollte er nicht als Bock zum Gärtner gemacht werden und ausgerechnet dort beruflich zum Einsatz kommen, wo er genau das zu schützen und zu befördern hatte, was er zu vernichten suchte.
Die Rolle des Verfassungsschutzes
Da nun nicht jeder Verfassungsfeind mit einem entsprechenden Stempel auf der Stirn durch die Weltgeschichte spazierte, erfolgte bei Bewerbern eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz – was vor allem die sich an der Durchführung des von Rudi Dutschke propagierten Marsches durch die Institutionen gehindert sehende, radikale politische Linke veranlasste, von „Gesinnungsschnüffelei“ zu sprechen. Sich diesem populistischen Druck beugend, kündigte die immer noch amtierende SPD-FDP-Bundesregierung 1979 einseitig ihre Teilnahme am Erlass auf. 1991 dann gab auch Bayern als letzte Bastion wider die Unterwanderung der Staatsorgane die Praxis auf – was insgesamt insofern praktisch war, als nun die beigetretenen DDR-Staatsbediensteten, obgleich ursprünglich gezielt zum Kampf gegen den westdeutschen Kapitalisten- und Revanchistenstaat aufgefordert, weitgehend in ihren Ämtern verbleiben konnten. Weitgehend insofern, als dass über sie keine Erkenntnisse der Stasi-Mitarbeit vorliegen durften – was jedoch später auch keine Rolle mehr spielte, als Stasi-Denunzianten aus Überzeugung sogar staatlich finanzierte Nichtsregierungsorganisationen (NGO) leiten durften. Die 1949 gegründete Bundesrepublik wiederholte insofern nach 1989 ein Modell, welches sie bereits vierzig Jahre zuvor einsetzte: Mangels qualifizierten Personals hatte sie nach 1949 auf bewährtes Personal aus jener Zeit des mit zwölf Jahren für seine Protagonisten zu kurz geratenen Tausendjährigen Reiches zurückgegriffen – und tat es nun bei den internationalistischen Brüdern und Schwestern im Geiste des Kollektivismus.
Während jedoch nach 1949 noch die Scham über vorangegangenes deutsches Handeln die potentiellen Gegner der Bundesrepublik Deutschland weitgehend zu konstruktiven Mitarbeitern des neuen Staates werden ließ, konnten die SED-geprüften Gegner der bundesdeutschen Verfassung und deren Geistesverwandte aus bundesdeutschen Kaderschmieden ihrer antidemokratischen Agenda folgen und den Staat des Grundgesetzes von innen aushöhlen. Ungehindert waren vor allem die unorthodoxen Linken nach dem Ende des Radikalenerlasses in den Staatsdienst gegangen und vollendeten nicht nur an den Schulen und Universitäten, sondern auch an den Schlüsselstellen der Macht Dutschkes Auftrag des Marsches durch die Institutionen – mit dem einen Ergebnis, dass heute selbst die vom Verfassungsschutz zwischen 1972 und 1979 als Verfassungsfeinde erkannten Radikalen Rehabilitierung und Schadenersatz fordern können.
Aus Gesinnung wird Haltung
Fakt ist: Der sogenannte Radikalenerlass als staatlich gesteuertes Schutzinstrument des Verfassungsstaates vor der Zerstörung aus seinem Inneren heraus ist Geschichte. Damit haben nun auch erklärte Gegner von rechts, links oder sonstwo der vom Grundgesetz definierten, bundesdeutschen Staatsordnung grundsätzlich den Anspruch, dem von ihnen bekämpften Staat zu dienen. Und sie tun es mit Fleiß.
Übrigens in diesem Zusammenhang und nur, weil es manches der gegenwärtigen Situation erklären hilft: Das, was damals im Kampf gegen das „Berufsverbot“ Gesinnung genannt wurde und dem vor allem aus Sicht der sich politisch links einordnenden Systemüberwinder seinerzeit menschenrechtswidrig „nachgeschnüffelt“ wurde, heißt heute „Haltung“. Dieser Haltung muss bei jenen, die in den 70ern erlassmäßig erfasst worden wären, auch nicht mehr nachgeschnüffelt zu werden, denn sie tragen diese heute gleich einer Monstranz vor sich her und wähnen sich dabei als die Avantgarde des Anstands eines insgesamt eher unanständigen Volkes.
In der Sache sind Gesinnung und Haltung identisch – und der Artikel 3.3 des Grundgesetzes garantiert selbst politischen Gegnern der FDGO, dass niemand vom Staat wegen seiner „politischen Anschauungen“ (ein weiteres Synonym für Haltungen) benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
Die friedliche Gegnerschaft zur Verfassung ist verfassungskonform
Unter grundgesetzlichem Gesichtspunkt war die Abschaffung des Radikalenerlasses insofern durchaus verfassungskonform – und es spricht im Grundsatz nicht einmal etwas dagegen, dass jemand, der auf friedlichem Wege das Sowjetsystem oder das NS-Modell der Dreißigerjahre zu erreichen sucht, selbst Bundesrichter werden darf. Zumindest, solange es sich dabei nur um seine politische Anschauung handelt und dieses ansonsten keine relevanten Auswirkungen zeitigt.
Ob dann das Ergebnis des Handelns entsprechender Personen noch verfassungskonform wäre oder ist, steht auf einem anderen Blatt, und wer einen Verfassungsrichter als Verfassungsfeind offenbart, wenn er im Namen der Verfassung wider den Geist derselben urteilt, bleibt an dieser Stelle ungeklärt.
Gleichwohl aber gilt grundsätzlich auch: Da jede Verfassung menschengemachtes und kein Gottesrecht ist, kann sie verändert, ja sogar auf den Kopf gestellt werden. Dazu bedarf es im Rechtsstaat nicht einmal einer gewaltsamen Revolution – es reicht völlig, auf demokratisch-parlamentarischem Wege die notwendigen die in der Verfassung hierfür vorgesehenen Regularien zu erfüllen.
Woraus nun letztlich zu schließen wäre, dass zumindest die bundesdeutsche Verfassung, bislang als Grundgesetz noch nicht vom Bürger abgesegnet, entweder nicht perfekt im Sinne des Eigenschutzes – oder aber in einem Maße freiheitlich-liberal ist, dass sie sogar die Abschaffung ihrer selbst auf parlamentarischem Wege als einen in der wahren Demokratie zu billigenden Prozess betrachtet.
Der Anspruch auf Verfassungsschutz
Selbstverständlich denkt in der Masse derzeit kaum jemand ernsthaft daran, das Grundgesetz abzuschaffen oder auf den Kopf zu stellen. Sieht man von ein paar politisch-geistig Verwirrten einmal ab, die eigenen politischen Wert- oder Wahnvorstellungen (darüber zu entscheiden liegt zumeist im jeweiligen Auge des Betrachters) haben und mit denen jede menschliche Gesellschaft in irgendeiner Form auskommen muss, solange sie sich zu Menschenrecht und Meinungsfreiheit bekennt.
Gleichwohl sei festgehalten: Der freiheitlich-demokratische Staat hat das Recht und die Pflicht, darüber informiert zu sein, ob und welche Kräfte gegen ihn arbeiten. Zu diesem Zwecke darf er Dienste einrichten, wie wir ihn in der Bundesrepublik unter der Bezeichnung Bundesamt für Verfassungsschutz haben.
Doch um was handelt es sich überhaupt bei dem, was gemeinhin unter „Verfassung“ verstanden wird? Was also ist zu schützen – vor wem und vor allem: Mit welchen Mitteln?
Davon wird im zweiten Teil die Rede sein.