Tichys Einblick
Die Wiederkehr der Macht des Klerus

Die Wahl des Bundestagspräsidenten – Dokument der Abkehr vom Laizismus

Verweigert eine Mehrheit der Abgeordneten die Wahl eines Kandidaten, weil er den Religionscharakter des Islam nicht akzeptiert, dokumentiert dies, dass sich der Staat vom Laizismus seiner Vorgänger verabschiedet und von der Aufklärung.

© Carsten Koall/Getty Images

Ist der Islam eine Religion? Diese auf den ersten Blick bedeutungslose Frage bewegt mehr, als wir uns vorzustellen bereit sind. Zumindest bietet sie offenbar Anlass für eine breite Mehrheit eines frisch gewählten Parlaments, die Wahl eines Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages zu verweigern. Denn dieser hatte zu einem früheren Zeitpunkt seine Auffassung dargelegt, dass er den Islam nicht für eine solche halte.

Was ist eine Religion?

Nun sollte es in einer aufgeklärten Gesellschaft jedem frei stehen, etwas für eine Religion zu halten – oder es eben nicht zu tun. Ist der Glaube an das Fliegende Spaghettimonster eine Religion? Wer weiß – es werden sich Menschen finden lassen, die das so sehen. Ist Ron L. Hubbards Dianetik der Scientology Church eine Religion? Ihre Anhänger sehen es offensichtlich so. In Deutschland allerdings wird diesem Verein aus nachvollziehbaren Gründen die Anerkennung als Religionsgesellschaft im Sinne des Artikels 140 des Grundgesetzes, der die Weimarer Artikel zum Verhältnis Staat-Religion übernimmt, seitens der staatlichen Institutionen verweigert.

Gleichzeitig aber schreibt dieses Grundgesetz in Artikel 4 fest: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

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Wenn dem so ist – warum darf dann jemand, der den Islam nicht für eine Religion hält, nicht Vizepräsident des Deutschen Bundestages sein? Es ist erschreckend, dass eine solche Auffassung in einem Parlament die Abgeordneten offenbar davon abhält, sich den üblichen, parlamentarischen Gepflogenheiten zu beugen und dem ewigen Agreement zu folgen, die Besetzung der Posten den besetzenden Fraktionen zu überlassen. Hätte sich in der Vergangenheit ebenfalls eine Mehrheit der Abgeordneten als Meinungspolizei wider Artikel 4 GG profiliert – wie hätte dann beispielsweise die Deutschland-Hasserin Claudia Roth in die Vizerolle dieses zweitwichtigstem Amtes des Staates aufsteigen können?

Noch erschreckender jedoch ist es, dass in einer Gesellschaft, die sich der Aufklärung und ihrer großen, aufklärerischen Geister rühmt, eine derartige Verweigerung nicht einmal ansatzweise öffentlich debattiert wird. Wenn überhaupt, dann ist Applaus zu hören. Es besteht offenbar ein breiter, gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die persönliche Auffassung, der Islam sei keine Religion, nicht geduldet werden darf. Was folgerichtig bedeutet, dass derjenige, der dieses glaubt oder – je nach Sichtweise – nicht glaubt, gesellschaftlich abzustrafen ist. Deutschland unterm Halbmond – so ist es offensichtlich, wenn die Intoleranz gegenüber der in der Verfassung verbrieften Meinungsfreiheit eines Einzelnen in einer den Islam betreffenden Frage dessen gesellschaftliche Ächtung zur Folge hat.

Denn die von dem Kandidaten vertretene Auffassung allein darf nicht nur – sie muss zulässig sein. Und das unabhängig davon, ob sie mit einem wissenschaftlichen Beweis geführt werden kann. Als bloße Feststellung ist sie nichts anderes als die persönliche, weltanschauliche Meinung eines Einzelnen.

Religion oder nicht?

Das führt uns nun zurück zur Eingangsfrage – ist der Islam eine Religion oder ist er es nicht?

Wenn meine 2015 im Reader „Wahrheit – Religion – Wirklichkeit“ dargelegte Definition zutrifft, dass Religion nichts anderes ist als der Wahrheitsanspruch der Wahrheitsvermutung einer unbeweisbaren Wahrheitsannahme, dann ist der Islam eine Religion. Denn er beansprucht die Wahrheit der unbeweisbaren Vermutung, dass es eine dem Menschen übergeordnete Instanz namens Allah gibt, die Wert darauf legt, von den Menschen angebetet zu werden und im Nicht-Anbetungsfall im wahrsten Sinne des Wortes Höllenstrafen androht.

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Wenn die Definition des Religionsphilosophen Paul Tillich zutrifft, dass Glaube die unbedingte Sinnhaftigkeit dessen ist, was den Menschen unmittelbar angeht – auch dann werden wir zu konstatieren haben, dass es Menschen gibt, die für sich im Islam eine Religion erkennen. All dieses aber gilt zwangsläufig auch für zahllose andere Welterklärungsmodelle. Selbst der vorgeblich atheistische Marxismus erhebt den Wahrheitsanspruch einer unbeweisbaren Vermutung. Auch er kann für einen Menschen das sein, was ihn als unbedingte Sinnhaftigkeit unmittelbar angeht. Ist er deshalb eine Religion? Er selbst verneint dieses – und weist doch religionsgleiche Züge in seiner Beweisführung wie bei seiner Anhängerschaft auf.

Letztlich – und nicht zuletzt das macht den Menschen aus – kann alles zur unmittelbaren Sinnhaftigkeit des Individuums werden – zu dem, was ihn in seinem Innersten zutiefst angeht. Und der Mensch in seiner Unvollkommenheit ist eben immer gern geneigt, unbeweisbare Fiktionen als Wahrheit anzunehmen und die Wahrheit dann noch zur einzig zulässigen zu erklären.

Eine überflüssige Frage

Macht es folglich Sinn, die Frage zu stellen, ob etwas eine Religion ist? Vielleicht für den Theologen, der mit seinesgleichen darüber sinnieren kann, warum das eine religiös, das andere dieses jedoch nicht ist.

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Doch für den Staat? Für eine Gemeinschaft freier Menschen, denen jeweils ganz individuell, gleich ob von Gott oder von einer planenden Natur oder einfach nur durch einen Zufall der Evolution, die Möglichkeit gegeben wurde, sich für einen persönlichen Lebensweg zu entscheiden, sicherlich nicht. Denn bereits in dem Moment, in dem der Staat oder eben auch nur die Gemeinschaft freier Menschen beginnt, darüber zu entscheiden, was eine Religion ist und was nicht, wird sie schuldig im Sinne der Freiheit und verstößt – so es sich dabei um die Bundesrepublik Deutschland handelt – gegen Artikel 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Und somit verstoßen auch jene, die die gewohnheitsrechtliche Wahl eines Menschen verweigern, der ein sich selbst als Religion behauptendes Welterklärungsmodell nicht für eine Religion hält, zumindest gegen den Sinn der Verfassung, denn da dieses Grundgesetz auch die Freiheit und Unabhängigkeit des Abgeordneten festschreibt, hat dieser selbstverständlich das Recht, einen Kandidaten nicht zu wählen. Nur sollte ihm dann bewusst sein, dass er damit einen Präzedenzfall schafft, der sich eines Tages vielleicht auch gegen ihn oder seine Fraktion kehren könnte.
Das Grundgesetz entscheidet nicht über Religion

Dieses Grundgesetz, 1949 auf den negativen Erfahrungen der jüngsten Deutschen Geschichte verfasst, stellt diese Entscheidung des Einzelnen darüber, ob und was eine Religion ist, nicht in die Aufgabe des Staates. Den Staat, so die Intention des Grundgesetzes, geht es nichts an, ob und was die Menschen glauben. Schon Friedrich König von Preußen erkannte seinerzeit, dass es ihn nicht interessiere, woran die Menschen glauben – solange aus diesem Glauben keine Gefahr für seinen Staat ausgeht.

Also alles geregelt? Scheinbar. Aber eben auch nur scheinbar. Denn jene Herrschaften, die 1949 das Grundgesetz als vorläufige Verfassung des von den nationalen Sozialisten ruinierten Deutschlands niederschrieben, waren – wie wäre es anders vorstellbar – selbstverständlich auch in ihren kulturellen Bezügen gefangen. Und so übersahen sie nicht nur, dass der deutsche Staat nicht zuletzt als einen Restanten aus der Frühphase der Herrschaft der NSDAP ein Reichskonkordat im Gepäck hatte, aus welchem eine Religionsgemeinschaft Ansprüche gegen den Staat geltend machen konnte – sie machten sich mit der Übernahme der Weimarer Artikel auch zum Handlanger dessen, was sich selbst als Religion bezeichnet. Denn diese Weimarer Artikel 136 bis 139 und 141 machen aus der Religion eine Institution, die Ansprüche gegen den Staat geltend machen kann.

Der Wiedereinzug der Institution Religion

Hatten sich die Verfassungsgeber der ersten deutschen Demokratie 1871 ebenso wie zuvor beim Norddeutschen Bund noch strikt an die laizistische Trennung von Staat und Religion, folglich von staatlicher und kirchlicher Institution gehalten, so zog mit der Weimarer Verfassung der Klerus wieder ein in die Politik der deutschen Republik.

„Religionsgesellschaften“ als „der Zusammenschluß von Religionsgemeinschaften“ sind nach Artikel 136 der Weimarer Verfassung als „Körperschaften öffentlichen Rechts“ anzuerkennen, „wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“. Damit einher ging beispielsweise die ebenfalls in der Verfassung festgeschriebene Berechtigung, „auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben“. Damit nun machte sich der Staat zum Finanzierungsbüttel des Klerus. Doch der Anspruch der institutionalisierten Religion reicht noch weiter. Nach Artikel 141 haben Religionsgesellschaften das Recht, vom Staat einzufordern, „im Heer, Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten die Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge besteht“.

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Damit wird die Institution, die sich als Vertreter einer Religion deklariert, in vielfacher Hinsicht zum Fordernden gegenüber dem Staat. Wer Ansprüche gegen jemanden geltend machen kann, der kann auch seinen Einfluss durchsetzen. So drehten die Verfassungsgeber von 1919 und mit ihnen die Verfassungsgeber von 1949 die Uhr um rund 900 Jahre zurück in eine Zeit, als der Konflikt zwischen den Vertretern des Staates und denen des Klerus darüber tobte, wer im Staat das Sagen habe. So verlangten schon damals, im Jahr 1075, die weltlichen Herrscher beispielsweise das Recht, über die Besetzung von Kirchenämtern anstelle der Kirchenleitung in Rom zu entscheiden – es ging schon damals auf beiden Seiten nur um Macht und den Einfluss auf die Gläubigen. Nach einem kurzen Sieg der weltlichen Herrscher wurde das Rad der Geschichte schnell zurück gedreht – bis in den 1870er Jahren Otto von Bismarck einen weiteren Anlauf nahm – und ebenfalls am Ende scheiterte. Seit 1919 ist dieser 1.000-jährige Konflikt nun auch in den vorgeblich modernen, deutschen Demokratien im Sinne des Klerus entschieden. Der nach wie vor wirkende Artikel 137 der Weimarer Verfassung schreibt fest: „Jede Religionsgesellschaft … verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde“.
Die Idee des Laizismus wird zu Grabe getragen

Wenn nun heute eine Mehrheit der Abgeordneten die Wahl eines Kandidaten mit der Begründung verweigern sollte, er akzeptiere den Religionscharakter des Islam nicht, so ist dieses weit mehr als ein dokumentierter Protest gegen den Einzug der diesen Kandidaten stellenden AfD. Es ist ein Dokument dafür, dass sich der bundesdeutsche Staat von den laizistischen Ansprüchen seiner Vorgänger abschließend verabschiedet und die aufklärerischen Gedanken der strikten Trennung von Staat und Religion zu Grabe getragen hat. Und damit auch gleichzeitig den Artikel 4 des Grundgesetzes durch die normative Kraft des Faktischen beerdigt. Denn, wie gesagt: Es geht den Staat und seine Vertreter nichts an, ob jemand ein religiöses Bekenntnis für sich beansprucht oder nicht. Es geht den Staat und seine Institutionen nichts an, ob jemand eine Weltanschauung, die sich selbst als Religion betrachtet, für eine solche hält oder nicht.

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Im Ergebnis allerdings wird das voraussichtliche Verhalten einer Mehrheit der Abgeordneten sogar noch katastrophaler sein als die bloße Feststellung, dass Artikel 4 spätestens dann seine Bedeutung verloren hat, wenn er sich in Religionsablehnung Bahn bricht. Wer den Widerstand gegen eine Person mit dessen Ablehnung einer sich selbst als Religion verstehenden Weltanschauung begründet, der zerstört nicht nur die Werte der Aufklärung – er übernimmt auch die Argumentation jener Institutionsvertreter, die genau diese Position des Selbstverständnisses als Religion durchgesetzt haben möchten. Dabei geht es nur noch vordergründig um Religion und metaphysische Welterklärungsversuche – tatsächlich geht es um Macht.

Denn mit dieser Durchsetzung des Religionsanerkenntnisses winkt jener Einfluss, den die verheerenden Artikel der Weimarer Verfassung zwangsläufig organisieren. Und verheerend sind sie. Sie sind es allein schon deshalb, weil sie den Staat, würde er seine eigenen Verfassung ernst nehmen, dazu zwingen müssten, eine Kriterienkatalog dafür aufzustellen, was eine Religion ist und was nicht. Das aber ist bislang nicht einmal Theologen gelungen – und es kann dieses die Aufgabe eines glaubensneutralen Staates ohnehin nicht sein, wenn er sich den Artikel 4 Satz 1 in seine Verfassung schreibt.

Das Trittbrett der Islamisierung

Für die Vertreter dieser Weltanschauung Islam allerdings ist es fundamental. Denn statt, wie es vom Staat zum Wohle seiner Bürger zu verlangen wäre, eine Institution, die in den Genuss der verfassungsrechtlich gebotenen Vorzüge kommen möchte, darauf zu prüfen, ob die Inhalte und Ziele dieser Institution überhaupt mit dem geltenden Recht vereinbar sind, wird mit dem aktuellen Vorgehen die Eigendefinition der Anspruchsteller undifferenziert übernommen. Hat sich die Republik bereits 1919 faktisch dem christlichen Klerus unterworfen, so soll dieses nun auch unter den islamischen geschehen.

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Insofern dürften die Protagonisten der islamischen Unterwanderung ihrem nächsten Ziel mit einer Ablehnung des AfD-Kandidaten einen deutlichen Schritt nähergekommen sein. Denn die Ablehnung besagt: Ja, der Islam ist eine Religion im Sinne des Grundgesetzes. Und sie besagt auch: Niemand darf dieses infragestellen – und wenn er es tut, wird er dafür öffentlich abgestraft. Damit nun können Mazyek und Co umgehend ansetzen, ihren Anspruch als Körperschaft Öffentlichen Rechts in die Tat umzusetzen, bei Bedarf ihre Finanzierung über die Erhebung von Kirchensteuer absichern und vor allem die Abhaltung der Rituale ihres Bekenntnisses bundesweit von Bürgeramt bis Universität durchsetzen. Gebetsräume allenthalben – denn wie schreibt es Artikel 141 als Pflichtaufgabe des Staates vor: „Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.“

Dass dabei seinerzeit lediglich an den Zugang von Seelsorgern und der Möglichkeit eines sonntäglichen Gottesdienstes für Menschen gedacht war, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht den Weg in die Kirche finden konnten, wird die Islamisierer nicht davon abhalten, für ihre höchstens fünf Prozent der Wohnbevölkerung in Deutschland die flächendeckende Einführung von Gebetsräumen einzufordern. Denn diese Gebetsräume sind in den Augen des Islam gleichzeitig Brückenköpfe zur Übernahme der maroden, ihre eigenen Werte verratenden, europäischen Gesellschaft. Die sich von der laizistischen Neutralität lösende Verfassung dieser Gesellschaft wird dabei zum entscheidenden Instrument, diese Verfassung selbst mittelfristig abzuschaffen. Und jene, die vorgeblich zu dieser Verfassung stehen sollten und die Werte der Aufklärung längst verraten haben, machen sich wohlfeil zu Handlangern der Vernichtung.

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