Noch vor wenigen Tagen stand der Westen geschlossen vor der Frage des „ob“. Ob Russland wirklich so weit geht; ob Präsident Putin den Einmarsch in die Ukraine tatsächlich befiehlt; ob ein mächtiges Land einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg startet. Schon zu jenem Zeitpunkt warnten Experten: Die Frage sei nicht ob, sondern wann.
Die Fragen sind mittlerweile beantwortet. Die Antwort lautet Ja. Ja, Russland geht so weit. Ja, Putin befiehlt den Einmarsch in die Ukraine. Ja, ein mächtiges Land startet einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Ja, Russland überfällt das Nachbarland Ukraine.
Der Westen – und nicht nur der – steht nun vor den nächsten Fragen. Fragen, mit denen man sich vielleicht schon deutlich früher hätte beschäftigen sollen. Wie? Wie jetzt weiter verfahren? Wie ist der Ukraine helfen? Wie mit dieser Situation umgehen?
- Das Verfahren? Sanktionen, die der Kriegsführer Putin längst eingespeist hatte und die ihn nicht schrecken – und um die offenbar dennoch zäh gerungen werden musste.
- Die Hilfe? Keine. Zumindest nicht aus Deutschland. Bis zum Abend des 26. Februar. Kiews Botschafter Andrij Melnik hatte zu Recht festgestellt: Die Politiker können sich ihre Solidaritätsadressen schenken. Wahre Freundschaft und Solidarität erweist sich in konkretem Handeln – nicht in überflüssigen und fadenscheinigen Sprüchen. Nun beschloss die Bundesregierung, die erbetenen Abwehrwaffen zu liefern.
- Der Umgang? Keine Antwort. Hätten die Politiker des Westens Rückgrat, so hätten sie bereits eine Klage vor dem Menschenrechtsgerichtshof gegen Wladimir Putin auf den Weg gebracht. So, wie sie einst die serbischen Kriegsverbrecher vor Gericht stellten. Doch das waren kleine Fische, die man gefahrlos fangen und aburteilen konnte. Den mächtigen Putin anklagen, der ohnehin niemals vor diesem Gericht erscheinen würde, und der dessen Kompetenz schon vor Jahren in Abrede gestellt hatte? Besser nicht.
Showbühne UN
Während die Staaten der NATO ihre Streitkräfte mobilisieren, um ihre Verteidigungsfront gegen Russland zu stärken, schaltete die westliche Führungsmacht rituell den sogenannten Sicherheitsrat der supranationalen Regierungenorganisation mit der Bezeichnung Vereinte Nationen oder kurz UN ein. Die UN, einstmals gegründet als Kriegsbündnis gegen das nationalsozialistisch geführte Deutschland und das schintoistische Japan, hat sich in der Konsequenz des heißen Krieges von 1939 bis 1945 den Schutz des Weltfriedens auf die Fahne geschrieben hat. Sehr erfolgreich war es dabei nicht, denn weder waren seine Gremien paritätisch besetzt, noch folgten sie demokratischen Grundsätzen.
Als dennoch mächtigstes Gremium dieser supranationalen Regierungenorganisation versteht sich der sogenannte Sicherheitsrat. In diesem hatten sich nach Kriegsende die Siegermächte USA, Sowjetunion und das Vereinigte Königreich ständige Sitze mit Vetorecht gesichert. Jeweils einen weiteren Sitz vergaben sie an das Frankreich des General de Gaulle, der völkerrechtswidrig nach der Kapitulation der legitimen französischen Regierung gegenüber dem Deutschen Reich von England aus den Krieg gegen die Besatzungsmacht fortsetzte, und an das China des Usurpators Mao Zedong, der die legitime Regierung des Chiang Kai Shek auf das zuvor von Japan besetzte Taiwan verdrängt hatte.
Dieser Sicherheitsrat ist ein in jeder Hinsicht anachronistisches Gremium. Es sollte zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Weltherrschaft der global-imperialen Mächte sichern: Die USA, über ihre Anstrengungen im Krieg gegen Japan und Deutschland zur größten Militärmacht des Planeten aufgestiegen; die von Stalin und der KPdSU diktatorisch geführte Sowjetunion, dank US-Hilfe und der Opferbereitschaft seines russischen Volkes zur Hegemonialmacht bis an die Elbe aufgestiegen; das bereits im Zusammenbruch stehende Vereinigte Königreich, das sich hilflos an ein koloniales Weltreich klammerte, in dem die Sonne nie unterging und in dem die Sonne dennoch längst schon zu scheinen aufgehört hatte; Kriegsverlierer Frankreich, dessen überzogenes Selbstverständnis als „grande nation“ es nun zahllose Kolonialkriege führen lassen sollte und das dennoch seinen Niedergang als Weltmacht bereits 1940 hinter sich hatte; China, seit Jahrzehnten von den europäischen Imperien und dem japanischen Nachbarn erniedrigt mit der Konsequenz, dass die bürgerlichen Ansätze einer modernen Regierungsform von einer pseudorevolutionären Sandalenarmee überrannt werden konnten.
Der Sicherheitsrat sichert alles – nur keinen Weltfrieden
Aufgabe dieses Sicherheitsrats, in dem sich die Mächte von Gestern den Zugriff auf Heute zu sichern suchen, soll es sein, Bedrohungen dessen, was wohlfeil als „Weltfriede“ bezeichnet wird, abzuwenden. Das Problem: Es gibt kaum eine Bedrohung dieses Friedens, in die nicht die eine oder andere Vetomacht selbst involviert wäre. Und so gibt sich das Gremium, dem jener Saarländer so gern als Vollmitglied angehören wollte, der nach seinen erfolgreichen Angriffen auf die Meinungsfreiheit zum bundesdeutschen Außenminister mutierte und nun sang- und klanglos entschwand, einmal mehr der eigenen Absurdität preis, jedoch nicht ohne dabei den Nachweis zu führen, dass sich die Welt neu sortiert.
Die USA, die gemeinsam mit Albanien die Resolution gegen den russischen Überfall eingebracht hatten, erklärten über ihre Vertreterin Linda Thomas-Greenfield, wer gegen die Resolution stimme oder sich der Stimme enthalte, stimme gegen die UN-Charta und die Grundsätze des Völkerrechts, weil er den Überfall auf einen souveränen Staat nicht ablehne. Hier nun liegt das Problem. Dass Putins Sprachrohr Vasily Nebenzya sein Veto einlegt, stand von vornherein fest. Doch drei Länder stimmten, um in der Beschreibung der US-Repräsentantin zu bleiben, zusätzlich gegen die Charta, indem sie nicht für die Resolution stimmten. Darunter Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die beide dem US-Lager zugerechnet werden
Erfolg oder Misserfolg?
Seitdem geht es um die Erklärungshoheit. Für die Pro-Amerikaner ist die Tatsache, dass sich auch die Volksrepublik China enthalten hat, ein Erfolg, der die Isolation Russlands belegt. Tatsächlich allerdings belegt diese Enthaltung nur die Verunsicherung der Roten Mandarine.
Im Grundsatz steht Xi Jinping hinter Putin, weil jener wie er selbst sein Volk mit eiserner Hand führt. Auch hat China kein Problem damit, andere Länder zu überfallen, wenn dem die Erzählung dient, es handele sich dabei um Separatisten. Hier blickt er stets auf die demokratische Republik China auf der Insel Taiwan, die ihm ein Dorn im Auge ist. Auch scheint der Volksrepublik alles zu nützen, was den USA zu schaden scheint. Andererseits ist die VRC existenziell angewiesen auf den Handel mit den NATO-Staaten – und auf die Energielieferungen aus Sibirien. Da gilt es, zu lavieren und sich nicht eindeutig auf eine Seite zu schlagen.
Richtete sich diese an sich unnötige und dann überflüssige Erklärung, wenn es der Kreml ernst meint, tatsächlich nur an die Ukraine und an den Westen? Xi jedenfalls muss sie als Absage an seine Verhandlungsaufforderung verstehen – und ob er der russischen Erzählung Glauben schenkt, die Ukraine habe entsprechende Angebote ausgeschlagen, darf durchaus bezweifelt werden.
Indien eiert herum
Die Welt sortiert sich neu. Putins Russland begibt sich gegenwärtig in die Rolle des Weltschurken. Die Volksrepublik China möchte nicht dazugehören, aber guter Kumpel bleiben.
Indien, dessen Enthaltung Irritationen ausgelöst hat, versucht sich nach einem Bericht von „The Indian Express“ im Herumeiern. Demnach hat Selenskyj nach dem Votum mit Narendra Modi telefoniert und den indischen Ministerpräsidenten über die tatsächliche Situation informiert. Indien bekenne sich zu den Grundsätzen von Souveränität und Gewaltfreiheit. Die Enthaltung, ein Missverständnis? Da sie ohnehin zum Scheitern verurteilt und die Formulierungen zu scharf gewesen seien …
Und die Vereinigten Arabischen Emirate? Ein reicher Küstenstreifen, der von den Saud abhängig ist, die von den USA abhängig sind? Vermutlich wollte man die russischen Oligarchen nicht zu sehr verschrecken, die ihr Geld vor dem möglichen Zorn irgendwann einmal revoltierender Bürger vorsorglich am Arabischen Golf untergebracht haben.
Die Vertreter aus Amerika und Afrika bekennen sich
Bemerkenswert hingegen die Unterstützung der Resolution. Wie zu erwarten stimmten neben den beiden Initiatoren die Vetomächte Frankreich und das Vereinigte Königreich zu. Auch NATO-Mitglied Norwegen und das assoziierte Irland stehen gegen Russland. Spannend aber der Blick auf die Mitglieder aus Mittel- und Südamerika sowie Afrika. Mexiko als US-Nachbar, aber auch das Brasilien des selbst zur Unberechenbarkeit neigenden, als „Rechtsnationalist“ geschmähten Jair Bolsonaro positionierten sich gegen Putin. Und die drei afrikanischen Staaten Gabun, Ghana und Kenia.
Es wird spannend werden, wie die Vollversammlung abstimmen wird, der die Resolution nun vorgelegt werden soll. Unmissverständlich zu Putin bekannt haben sich bislang nur seine Mündel in Belarus und Syrien sowie Linksdiktaturen in Nicaragua, Kuba und Venezuela.
Vor allem das Stimmverhalten der VRC kann hier Bedeutung gewinnen. Wer nicht für die USA ist, sich aber nicht zu eindeutig auf die Seite eines Aggressors stellen möchte, kann sich enthalten. Gut möglich, dass Russlands diplomatische Niederlage in der Vollversammlung perfektioniert wird.
Der Anachronismus bleibt
Nichts allerdings ändert all dieses an der Feststellung, dass die SGO UN mit ihrem Sicherheitsrat in der Welt des 21. Jahrhunderts zum Anachronismus wird. Was soll ein Sicherheitsrat, der durch Beteiligte ausgekontert werden kann? Und wozu braucht es einen UN-Generalsekretär, dessen Appelle in etwa dieselbe Wirkkraft haben wie die himmlischen Wünsche des Papst Franziskus im Vatikan? Man hört sie und ist amüsiert – mehr nicht.
Was braucht es, diesen Anachronismus zu überwinden? Entweder, die UN beginnen, sich nach demokratischen Grundsätzen zu organisieren und die Vorstellung von gleicheren als gleichen Ländern mit Weltvormachtstellung zu überwinden – oder sie wird sich zunehmend überflüssig machen. Als Bühne für propagandistisches Schaulaufen auf Gegenseitigkeit braucht sie niemand.