Lassen Sie uns die Zeit kurz zurückdrehen zu dem Zeitpunkt, zu dem Josia inthronisiert wurde. In ersten Überlegungen unternahm ich den Versuch, ein Psychogramm des jungen Herrschers zu entwickeln. Dieses Ziel war maßgeblich dadurch motiviert, dass Jahrzehnte währender Umgang mit Politikern deutlich gemacht hatten: Oftmals sind es persönliche und sehr individuelle Kindheits- und Jugenderfahrungen, die Menschen prägen und in die Politik treiben.
Nicht wenige Jungpolitiker nahmen bereits vor ihrem Einstieg in die Politik eine Außenseiterrolle ein. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass ihr frühes politisches Interesse in der Regel von den Altersgenossen nicht nur nicht geteilt, sondern als zumindest absonderlich betrachtet wird. Hinzu kommen oftmals kommunikative Probleme – es ist erstaunlich, dass diejenigen, die sich für einen Job entscheiden, der von der Kommunikation lebt, häufig überaus unkommunikativ sind. Diese Unkommunikativität wird über egozentrisches Darstellungsverhalten kompensiert – oder korrespondiert unmittelbar mit der angelernten Rednergabe eines Volkstribuns, der als Verführer der Massen auf seine überlegene Art seine Geringschätzung gegenüber seinen „Opfern“ postuliert.
Ein psychisch belastetes Kind
Insofern wollte mir die Einschätzung der Psyche des Jéáshéjah ebenfalls nicht unbedeutend erscheinen. Ich kam zu dem Ergebnis, dass ein Kind, das erst den Mord an seinem Vater miterleben muss, um dann von den Massen zum Herrscher gekürt zu werden, ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu Menschen und Menschenmassen entwickeln wird. Einerseits ist ein solcher Mensch von einem ständigen, fast menschenfeindlichen Misstrauen geprägt, andererseits wird er sich der Macht der Massen bewusst sein und daraus manipulative Fähigkeiten entwickeln.
Ohne dass ich an dieser Einschätzung grundsätzliche Abstriche zu machen hätte, erscheint sie mir heute deutlich weniger relevant als 2008. Der Grund liegt darin, dass ich mittlerweile ernstzunehmende Zweifel daran habe, dass sich der Machtwechsel tatsächlich so abgespielt hat, wie er im Tanach geschildert wird. Doch ist es an dieser Stelle zu früh, dieses näher zu erläutern. Ich möchte mich stattdessen der Diskussion um zwei andere Aspekte der ersten zwanzig Verse der gemeinsamen Version zuwenden.
Kein Tempel des Jahɰah
Diese Möglichkeit wollte im ersten Anschein auch deshalb den historischen Fakten entsprechen, weil es keinerlei plausiblen Grund dafür gibt, dass überzeugte Anhänger des Jahɰah-Kultes wie Josia und sein Oberpriester Hilkia ausgerechnet die Restaurierung eines ál-áshérah-Tempels beauftragen. Auch der im Tanach geschilderte Fund eines Gesetzbuches des Jahɰah in eben diesem Gotteshaus macht nur Sinn, wenn es sich dabei seit Langem um ein Gotteshaus des Jahɰah gehandelt hat.
Auf der anderen Seite steht die Aussage des Jahɰah, wonach ganz Jerusalem und seine Bewohner für ihr abtrünniges Verhalten bestraft werden würden. Von einem „Glauben“ abtrünnig ist man dann, wenn man sich anderen Kulten zuwendet. Es war folglich nicht zu übersehen, dass der ál-áshérah-Kult zum Renovierungszeitpunkt ein fester Bestandteil des jahudahischen Alltags gewesen sein muss.
Heidnische Zuwanderer aus Israel?
In der ersten Phase meiner Überlegungen erklärte ich dieses damit, dass nach dem Untergang des Nordreichs Israel zahlreiche Bewohner in den Süden geflüchtet waren. Finkelstein und Silberman legen dar, dass die Stadt Jerusalem nach dem Untergang Samarias einen deutlichen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatte. Da der Tanach sämtliche Herrscher Israels mit Ausnahme des Jehu (אוהי . jáhɰá) als Polytheisten beschreibt, ist davon auszugehen, dass das einfache Volk ebenfalls in seiner breiten Mehrheit der traditionellen Vielgötterwelt anhing. Insofern wäre es auch nachvollziehbar, dass mit der unkontrollierten Zuwanderung aus dem heidnischen Norden der monotheistische Süden in zwei Glaubenslager geteilt worden wäre.
Was aber hatte diese Feststellung mit dem Jahɰah-Tempel in Jerusalem zu tun? Auf den ersten Blick nichts – denn das Haus des Jahɰah konnte nichts anderes sein als eben dieser Tempel. Doch dann kamen Zweifel. Angesichts der zahlreichen Ausstattungsattribute, die unzweideutig den polytheistischen Kulten zugeordnet werden mussten, möchte es zumindest fragwürdig sein, dass dieser Tempel nicht von der großen Anzahl der Polytheisten in Jerusalem zurückgefordert worden war. Doch allein mit diesen Überlegungen wäre die Behauptung, der Große Tempel zu Jerusalem sei um 622 vc nicht dem Jahɰah, sondern den assyrischen Göttern geweiht gewesen, nichts als Spekulation. Folglich suchte ich nach weiteren Hinweisen, um die Frage nach der religiösen Ausrichtung des Tempels zu beantworten. Hierbei reichte es nicht mehr, sich auf den beiden Chroniken gemeinsamen Erzählungsstrang zu beschränken – der Blick musste auf jene Passagen gerichtet werden, die keine unmittelbare Übereinstimmung aufweisen.
Das Buch der Könige trug zur Aufklärung wenig bei. Zwar erfahren wir hier, dass die Mutter des Josia eine Jedida, die Tochter Adajas, aus Bozkath gewesen ist. Weiterhin wird der Name des Saphan um den seines Großvaters – Meschullam (méshélém) – ergänzt und seine Funktion als Schreiber bereits in Vers K2.2203 erwähnt.
Warum keine Kontrolle der Geldmittel?
Die nicht erfolgende Kontrolle der für die Arbeiten am Tempel aufgewendeten Mittel wird unzweifelhaft festgeschrieben und der Zorn des Gottes wird sich erst zu einem späteren Zeitpunkt entzünden. Wenn davon überhaupt etwas ein Mehr an Informationen über die tatsächlichen Vorgänge liefert, dann ist es der unmissverständliche Hinweis darauf, dass das Geld ohne jedwede Kontrolle ausgegeben werden durfte. Wer auch nur ein wenig Erfahrung „am Bau“ hat, den lässt eine solche Regelung in Unverständnis erstarren. Denn damit ist Missbrauch und Korruption Tür und Tor geöffnet. Die einzig plausible Erklärung: Josia musste Hilkia uneingeschränkt vertrauen.
Doch selbst dann: Hier wurden Spendengelder der Gläubigen eingesetzt, über deren Verwendung offensichtlich der König und nicht der Hohepriester zu entscheiden hatte. War also der König das wahre Oberhaupt der Kirche? Oder diente diese Übertragung der Zuständigkeit dem Zweck, die Korruption unter Priestern zu verhindern? Dann allerdings stellte der Kontrollverzicht die ursprüngliche Intention auf den Kopf.
Bei einem Blick in die Gegenwart des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts signalisierte ein solcher Verzicht auf jedwede Ausgabenkontrolle notwendig ein gemeinsames Ziel. Und welch ein Ziel könnte das sein? Nun – in aller Regel geht es darum, sich heimlich selbst die Taschen zu füllen. Wenn es aber so gewesen wäre, dann hätten die Autoren doch jeden Grund gehabt, es wohlmeinend zu verschweigen, wollten sie nicht das Andenken an diese Kämpfer für den wahren Glauben beschädigen. Doch das taten sie nicht. Wollten sie also einer derartigen Fehlinterpretation gezielt vorbeugen?
Das hätten sie auch erreichen können, indem dieser Kontrollverzicht nicht erwähnt worden wäre. Und so blieb bei Abwägung aller plausiblen Varianten nur noch eine: Es gab ein gemeinsames Ziel, welches durch diese Mitteilung angedeutet, ohne dabei offenbart werden sollte. Dieses Ziel bestand aber nicht darin, das persönliche Eigentum zu mehren. Vielmehr war es ein Ziel, das mit dem Auftrag selbst in Zusammenhang stehen musste. Dieses Ziel konnte selbstverständlich der religiöse Eifer gewesen sein, den Tempel schnellstmöglich in bestmöglicher Weise zu restaurieren. Aber wäre nicht auch das so selbstverständlich, dass es keines Hinweises darauf bedurft hätte? Und vor allen Dingen: Warum schrieb man es dann nicht so? Nein – dieser Satz ist eine Botschaft an Eingeweihte und er vermittelt eine Botschaft, die nicht explizit im Text stehen durfte! Bei mir verfestigte sich die Idee, dass mehr hinter dem Kontrollverzicht stehen musste, als offensichtlich zu erkennen war.
Kampf- statt Taufnamen
Da aus den Abweichungen des Königsbuches keine weiteren Informationen zu ziehen waren, wendete ich mich der Chronik zu. Dort allerdings gibt es deutliche Unterschiede zur übereinstimmenden Variante. Es beginnt bereits im dritten Vers, wonach Josia nicht seit seiner Geburt ein Anhänger des Jahɰah gewesen ist, sondern erst im achten Jahr seiner Regierung, mithin in seinem siebzehnten Lebensjahr 631 vc zum Jahɰah-Kult konvertierte. Angesichts der Darstellung, dass Vater und Großvater nicht dem Jahɰah anhingen, schien diese Darstellung überaus plausibel. Sie bedeutete dann allerdings auch, dass das Kind Josia auf einen anderen Namen gehört haben wird. Denn – siehe „Nomen est deum“ – es machte wenig Sinn, dass eine Sippe von Nicht-Jahɰahisten ihrem Sprössling einen Namen mit Jah-Bezug gab.
Sollte die Darlegung der Chronik den Tatsachen entsprechen, so haben wir es bei dem Namen Josia fast schon zwingend mit dem zu tun, was wir heute als Kampfnamen bezeichnen würden: Der junge Konvertit wird sich diesen Namen selbst gegeben haben, so wie im zwanzigsten Jahrhundert ein Cassius Clay mit seinem Übertritt zum Islam zu einem Muhammad Ali oder die Sowjetusurpatoren Wladimir Iljitsch Uljanow zu Lenin und Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili zu Stalin wurden.
Vielleicht auch erhielt Josia, der als jé-ásh-jah derjenige ist, der das Feuer oder die Flamme des oder von Jah verkörpert, seinen Kampfnamen gezielt, um damit seinen Kampfauftrag im Amt des mélék ebenso zu beschreiben wie seine Rolle als weltlicher Beförderer und Oberbefehlshaber der Kampfeinheiten gegen die assyrische Fremdherrschaft. Die Tatsache, dass der Name des Herrschers letztlich auch Programm sein konnte, streifte ich in den ersten Überlegungen zu Josia eher kurz. Vollumfänglich sollte mir die Konsequenz erst bewusst werden, nachdem ich in die Tiefen des Tanach eingedrungen war und mir zunehmend bewusst wurde, dass Josia die Idee von Jah tatsächlich mit Feuer und Schwert umsetzte.
Wann und wie beginnt die religiöse Säuberung?
Im zwölften Jahre seiner Regierung – 627 vc – beginnt Josia nach Darlegung der Chronik damit, erst Jahudah und dann Israel von allen Zeichen, Symbolen und Kultstätten der Polytheisten zu säubern. Israel? Diese Darstellung konnte so nicht stimmen. Denn Israel war nach geltender, historischer Auffassung zu diesem Zeitpunkt noch fest in der Hand der Assyrer. Hätte Josia – vorausgesetzt er wäre, wie es der Tanach darstellt, eigenverantwortlicher Herrscher eines unabhängigen Kleinreichs gewesen – tatsächlich die Kultstätten im ehemaligen Nordreich entfernt, so hätte er die Grenze überschreiten und damit das mächtigste Reich seiner Zeit herausfordern müssen. Wäre das nicht – unabhängig vom Ausgang – ein Faktum gewesen, das unbedingt der Nachwelt zu erhalten gewesen wäre? Doch darüber erfahren wir nichts – weder im Königsbuch noch in den Chroniken; und außerhalb dieser beiden Schriftwerke schon gar nicht. So stellte sich auch hinsichtlich dieser Darstellung ein erster Zweifel ein.
Gleichwohl wird für das Jahr 627 vc der Tod des assyrischen Herrschers Ashur etilani angesetzt und tatsächlich waren Thronwechsel bei antiken Hegemonialmächten nicht selten Anlass für periphere Vasallenstaaten, sich die eigene Unabhängigkeit zurück zu erobern (oder zumindest einen entsprechenden Versuch zu unternehmen), doch das Kleinstreich Jahudah hätte politisch-militärischen Selbstmord begangen, hätte es zu dieser Zeit das Weltreich offen herausgefordert. Es wäre ihm ungefähr so ergangen wie Ungarn 1956, als es die übermächtige Sowjetunion herausforderte. Nur mit einem kleinen Unterschied: Die Herrscher Ashurs waren in den Methoden ihrer Strafexpeditionen noch deutlich unmenschlicher als jene Kommunisten aus Russland, die den Aufstand der Ungarn niederschossen. Josia mochte vieles sein – aber er war sicherlich kein Selbstmörder.
Die Behauptung der Chronik, Josia hätte seine religiöse Säuberung im Jahr 627 vc auf die assyrische Provinz Samaria auf das Gebiet des früheren Israel ausgedehnt, konnte daher kaum zutreffend sein. Und damit stellte sich der Wahrheitsgehalt des gesamten Erzählungsstrangs in Frage, der diese bedeutende Säuberungsaktion, auf die das Königsbuch in keiner einzigen Zeile eingeht, beschreibt.
Die Leviten der Chronik
Wenn nun diese Darstellung der Chronik unzweifelhaft unzutreffend ist, gilt dieses auch für alle anderen Beschreibungen, die die Chronik liefert und die das Königsbuch nicht erwähnt? Um diese Frage beantworten zu können, war es unverzichtbar, sich mit den weiteren Abweichungen zu beschäftigen.
Auffällig in den Chronik-Darstellungen zur Tempel-Restaurierung ist, dass hier deutlich mehr Personen als Agierende verzeichnet sind als im Königsbuch. So schickt Josia nicht nur den Schreiber Saphan (רפסה ןפש . shéfén h‘séfér) zum Gotteshaus, sondern auch den Stadtminister (ריעה רש . shér h‘ýjr) Maaseja (הישעמ . mýshéjah). Mit dabei ist zudem der „Geschichtsschreiber“ (ריכזמה – h‘méßékjr = der Sekretär) Joach bn Joachass (זחאוי ןב חאוי . jɰách bén jɰáchéß).
Darüber hinaus bevölkern zahlreiche Leviten, die uns hier als die „Hüter der Schwelle“ beschrieben werden, die Szene. Als Aufseher (Vorarbeiter) werden uns vorgestellt Jachath (תחי . jéchát) und Obadja (הידבע . ýbédéjáh) von den Söhnen Merari (יררמ ינב . bénj mérérj; auch zu interpretieren als Sippe der Mérér), sowie Sekarja (הירכז . ßékéréjah) und Mesullam (םלשמ . méshélém) von den Söhnen der Kahethjm (םיתהקה ינב . bénj h‘qahétjm; auch: Sippe der Qahét).
Neben den Funktionen als Torhüter und Vorarbeiter finden sich in der Elberfelder Übersetzung noch Musiker als Leviten – wobei mich nicht nur die darauffolgende Zusammenfassung von Schreibern, Vorstehern und Torhütern zu der Auffassung verleitete, unter den „der Musikinstrumente kundigen“ einen Personenkreis zu vermuten, der ein anderes „Instrument“ beherrschte: Die Feder. Oder, um es ganz korrekt zu bezeichnen: Die Schreibfeder.
Wenngleich die Leviten als Kirchendiener im Judentum ohne jeden Zweifel eine bedeutende Funktion haben, so empfand ich ihre geballte Anwesenheit in der Chronik ebenso ungewöhnlich wie die Erwähnung der beiden Saphan-Begleiter – und dieses umso mehr, als im Königsbuch keine Leviten erwähnt werden. Liest man ausschließlich die Chronik, so scheint das Restaurierungsprojekt ausschließlich in den Händen der Leviten gelegen zu haben. Im Königsbuch hingegen ist es eine Aufgabe, die sich auf die Person des Hohepriesters konzentriert.
Auch ist es im Königsbuch die ausschließliche Aufgabe des Saphan, die Verbindung zwischen Herrscher und Hohepriester aufrecht zu erhalten – in der Chronik bedarf der Vertraute des Königs der Unterstützung durch den Stadtbürgermeister und eines Sekretärs. Wollten die Autoren der Chronik hier lediglich einer Chronistenpflicht genügen – oder gibt es für diese ungewöhnliche Vermehrung der Individuen einen anderen Grund?
Lesen Sie in Teil 7, weshalb die Leviten erst nach dem Untergang des Reichs auf den Plan treten.
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