Dreißig Jahre „Wiedervereinigung“, die keine gewesen ist, weil sie völkerrechtlich als Beitritt der Bundesländer eines Staates durch Selbstauflösung zu einem anderen Staat abgewickelt wurde, war wieder einmal Anlass für Sonntagsreden. Es scheinen auf den ersten Blick die üblichen Sprechblasen zu sein, die zwecks Selbstvergewisserung und Bürgerberuhigung verbreitet werden. Doch sie werden bemerkenswert, wenn die Versatzstücke der Einheitsrituale eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem gesprochenen Wort und der faktischen Handlung offenbaren. Wenn sich zwischen den Zeilen dann eben doch nicht verstecken lässt, was tatsächlich in den Köpfen der Sprechblasenproduzenten vor sich geht.
Zwei Texte sind es, die passend zum Anlass von zwei der drei ranghöchsten Vertreter des Staates platziert wurden. Texte, die auf den ersten Blick einfühlsam und doch belanglos erscheinen mögen, weil sie scheinbar in der Endlosschleife des ewig wiederholten verharren – und die doch viel, wenn nicht alles aussagen über die Gemütslage und das Demokratieverständnis von Personen, die dieses strapazierte Wort gebetsmühlenartig im Munde führen.
Das eine ist ein Interview, das die Frau Bundeskanzler in real existierender Manier exklusiv einem unkritischen Redakteurskollektiv in die Feder diktiert hat. Das andere ist die Rede, in der jener Mann, der im Schloss Bellevue Hof hält und das Bundesverdienstkreuz als Massenware unter die Leute bringt, die von seinen Redenschreibern als Beruhigungsplacebos zu Papier gebrachten Sprachschablonen eines scheinbaren mea culpa feilbot.
Die Einzigartigkeit der Merkel
Blicken wir auf Merkel. Wie das Redakteurskollektiv beglückt schreibt, sei dieses, dem Kollektiv gewährte Gespräch, das einzige Interview, welches die Frau Bundeskanzler aus Anlass des Dreißigsten gegeben habe.
Allein das für sich spricht Bände. Oder auch nicht – denn es besagt am Ende nur eines: Dass Ihre Majestät dem Volk nicht wirklich etwas zu sagen, nichts erklären zu müssen meint.
Was, wenn nicht ein solches Jubiläum, hätte den Anlass bieten können und müssen, zu den zahlreichen Problemen, vor denen Deutschland steht, sich an das Volk zu wenden und darzulegen, wie aus der Sicht des Kanzleramts das weitere Zusammenwachsen der vereinten, beiden deutschen Nachkriegsstaaten in die Zukunft gedacht werden kann. Und es hätte auch den Anlass bieten können, aus der immer noch bestehenden Breite des Medienangebots sich nicht nur einer Echokammer der Selbstbeweihräucherung zu bedienen, sondern der perpetuierten Phrase des Unerträglichen durch die Bereitschaft, auch mit kritischen Medien zu sprechen, zu entrinnen.
Die Kommunikation der Merkel
Doch Kommunikation war noch nie Sache der Frau mit dem Sprachfehler, der eine Ursache Merkel‘scher Kommunikationsunwilligkeit sein mag. Keinen ihrer im Alleingang gefassten Beschlüsse hätte sie jemals dem Volk zu erklären versucht.
Der populistische und überhastete Ausstieg aus der Kernenergie – nie hat sie dem Volk erklärt, wie eine ernsthafte Perspektive der Energiesicherung aussehen soll, wenn dann noch im nicht minder populistischen Nachgang selbst Kohle, Öl und Erdgas als Instrumente des Teufels verdammt werden.
Der unfassbare Rechtsbruch einer unkontrollierten Grenzöffnung nebst vorbehaltloser Unterwerfung unter die EU-Agenda der großen Umsiedlung (offizieller EU-Sprachgebrauch) – nie hat sie dem Volk dazu mehr gesagt als ein defätistisch-plattes „Nun sind sie halt da“. Und das galt und gilt auch für all jene, die noch nicht „da“ waren.
Der 30. Jahrestag des Beitritts hätte der Anlass sein können, all dieses und mehr im Rückblick zu erklären – und daraus eine vielleicht nachvollziehbare Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Das aber hätte auch bedeutet, eigene Fehler einzugestehen. Doch Fehler macht Ihre Majestät die Kanzlerin nicht. Und wer keine Fehler macht, der bedarf auch keiner Kommunikation.
„Nun ja, meine ostdeutsche Herkunft, das bin ja ich. Das ist mein Leben. Aber gleichzeitig bin ich die Kanzlerin aller Deutschen,“ stellt sie fest und wiederholt wenig später, damit es ja keiner vergisst: „Ich bin die Bundeskanzlerin aller Deutschen, und ich finde es schön, dass eine Ostdeutsche Kanzlerin werden konnte – dazu aus einer Partei, der man das nicht unbedingt zugetraut hatte.“
„Schön“? Wie treffend für jemanden, der mit dem Bauch denkt und nicht mit dem Kopf. Oder korrekter: Der so tut, als dächte er mit dem Bauch, weil seine Entscheidungen immer so wirken, als seien sie ohne Verstand aus einem Bauchgefühl heraus getroffen worden. Passend dazu erklärt die Einheits-Beglückte, dass es „eine wunderbare Erfahrung“ gewesen sei, als entgegen ihrer eigenen Zukunftserwartungen 1989 der Weg zum Beitritt zur BRD freigemacht worden war. Daraus habe sie eine Lehre gezogen:
„Veränderung kann etwas Gutes bedeuten, und Veränderung zum Guten ist möglich.“
Es ist die geballte Ladung aus dem Munitionspack der Emotionen, mit dem Merkel die Bürger attackiert: „schön“, „wunderbar“, „Gutes“!
Ihre Majestät, die Mutter der Nation, betrachtet Politik als hausfrauliche Aufgabe. Die Wohnung hat schön zu sein, und es ist wunderbar, wenn die Familie traut und einig beisammensitzt und sich des Guten erfreut, das Mutti ihnen zubereitet hat.
Doch wie in jeder Familie gibt es auch in Merkels großer deutschen ein paar Kinder, die aus dem Ruder laufen. Auf die lenkt das Redakteurskollektiv, nachdem Merkel noch ein wenig die gefühlt gequälte Seele ihrer „Ossis“ gestreichelt hat, gezielt das Gespräch. Oder ist es doch Merkel, die lenkt? Zumindest fällt dabei ein in anderer Hinsicht bemerkenswerter Satz – doch dazu später.
Ohne AfD geht es nicht
Nach all dem Seelenstreicheln führt der Weg zu jener Botschaft, die Merkel gebetsmühlenartig zu verbreiten sucht. Da im Mainstream der Echokammer eine Wahlentscheidung zugunsten der AfD ein Dokument mangelnder Zustimmung zur Demokratie ist, wirft das Redakteurskollektiv Merkel den gewünschten Ball zu:
„Es gibt im Osten eine geringere Zustimmung zur Demokratie und auch flächendeckend höhere Wahlergebnisse der AfD. Warum?“
„Das zeigt, dass wir für die Demokratie immer wieder werben müssen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Vielleicht war auch in den ersten Jahren der deutschen Einheit nicht genügend Zeit, um deutlich zu machen, dass die Demokratie auch anstrengend ist. Dass Freiheit auch bedeutet, mitzumachen, sich einzubringen. Und wenn man glaubt, nicht ausreichend gehört zu werden, muss man es trotzdem immer wieder versuchen. Deshalb habe ich in den letzten Jahren immer wieder gesagt, dass wir uns mit unseren Gedanken einbringen müssen, dass man nicht denken sollte, sowieso gehört zu werden. Vielleicht hatten manche Menschen auch Scheu vor einem Engagement, weil es in der DDR soviel Zwang zum Mitwirken gab.“
In 30 Jahren sei es demnach nicht gelungen, Demokratie in die Köpfe der „Ossis“ zu bringen. So lautet, auf den Punkt gebracht, Merkels Klage. Denn wäre es anders, würden die Undemokraten aus dem Osten nicht die AfD, sondern die Blockparteien wählen.
Staatsversagen wird zu Bürgerversagen
Schon mit diesem Satz konstatiert die frühere FDJ-Funktionärin ein totales Staatversagen, wenn es denn tatsächlich so wäre, wie von ihr behauptet. Es ist ihr, Merkels totales Staatsversagen, denn sie ist seit 2005 jene, die jene vorgebliche Angestrengtheit der Demokratie hätte vermitteln müssen und nach eigenem Bekenntnis damit gescheitert ist.
Doch Merkel macht aus ihrem Versagen ein Versagen des Bürgers und garniert diese Schuldzuweisung mit der Behauptung, dass ein vorgeblicher Mangel an Bereitschaft, sich in die Demokratie einzubringen, ein freiwilliger Freiheitsverzicht sei. Wer sich das Recht herausnimmt, nicht dem kollektiven Staatsbeglückungsideal durch Eigenleistung beizuwohnen, verzichtet auf seine Freiheit. Und damit letztlich auch auf die Rechte, die diese Freiheit mit sich bringt.
Eine solch gezielte Verwirrung von Demokratie, Freiheit und Mitmachpflicht ist in einem Maße absurd, dass dem Leser die Augen schmerzen müssten, wäre er nicht längst schon entdemokratisiert delegitimiert. Doch das Redakteurskollektiv nimmt es artig hin. Der böse Bürger ist schuld – nicht die weise Politikerin.
Auch keine Nachfrage, was Merkel meint, wenn „man“ nicht denken solle, dass man sowieso gehört werde. Wer denkt das? Jener, der aus Protest auf die Straße geht und gegen Merkels Politik demonstriert, weil er sich mit seinen Anliegen Gehör verschaffen will? Sicherlich nicht – und er darf sich dafür von Merkels Camarilla vorwerfen lassen, als Rechter und Nazi das Volk zu spalten.
Oder jener Otto Michelbürger, der es vorzieht, sich grundsätzlich aus der Politik herauszuhalten, weil er davon ausgeht, ohnehin nicht gehört zu werden und ihm offen vorgetragene Kritik nur Ärger einbringt?
Wie auch immer – Merkels Botschaft scheint unmissverständlich: Wer seine „Gedanken“ nicht einbringt, wird auch nicht gehört. Seine Anliegen dürfen von der Politik unberücksichtigt bleiben. Also selbst schuld – nicht jammern, nicht kritikastern!
Dass diese Vorstellung von Politik und Kritik eine ist, die nach dem Muster der SED-Diktatur sich selbst ständig und immer wieder als „alternativlos“ diktiert und damit dem Bürger jegliches Bürgerengagement wegen Alternativlosigkeit aberzieht – kein Gedanke, der sich einer Merkel erschließen könnte. Denn für Merkel ist Bürgerengagement nur Bürgerengagement, wenn es ihr und ihrer Politik dient. Wer in einer alternativlosen Gesellschaft eigene, von der Unvermeidbarkeit der Alternativlosigkeit abweichende Gedanken einzubringen sucht, der wird in der gleichgeschalteten Gesellschaft zwangsläufig zum Renegaten.
Wie deutlicher hätte Merkel beschreiben können, was sie unter „Mitwirkung“ in der Demokratie versteht? Wie deutlicher hätte sie darlegen können, dass sie von Demokratie nichts versteht? Wie deutlicher hätte sie belegen können, dass für sie Demokratie der Gleichschritt des Kollektivs und nicht das kreative Durcheinanderlaufen von selbständig denkenden Individuen ist?
Ein Hauch von Erkenntnis führt ins Nichts
Als ob es diese Klarstellung noch einmal unterstreichen wolle, wirft das Redakteurskollektiv mit einem scheinbaren Hauch von Erkenntnis den nächsten Ball vor Merkels Füße:
„Lautstark eingebracht haben sich in den vergangenen Jahren viele ostdeutsche Bürger – und das mit Kritik an Ihrer Politik. Auf ostdeutschen Marktplätzen sind Sie besonders heftig ausgepfiffen und angebrüllt worden. Wie sehr berührt es Sie, dass die Kritik gerade von Ihren eigenen Landsleuten kommt? Und warum haben Sie keine Antwort auf die Wut der Menschen gefunden?“
Bemerkenswert bereits die immer noch nicht vollzogene Einheit in den Köpfen des Redakteurskollektivs. „Ostdeutsche Bürger“ sind Merkels „eigene Landsleute“. Aber was sind dann die Westdeutschen? Ausländer, Gastanwesende, Nichtbürger, Aliens? Hat der missbilligende Pfiff gegen eine Ungeliebte aus dem gespitzten Munde eines Kölners eine andere Qualität als der aus dem eines Dresdners?
Immerhin: Das Redakteurskollektiv wagt es, Ihrer Majestät der Kanzlerin vorzuwerfen, sie habe keine Antwort auf die Wut der Menschen gefunden. Das ist der Vorwurf des Versagens – und selbstverständlich kann Merkel einen solchen Vorwurf nicht akzeptieren. Also schwurbelt sie gekonnt Ursache und Wirkung durcheinander. Und beginnt diese Umkehr der Wirklichkeit mit einer Falschbehauptung.
„Erst einmal bin ich froh, dass wir jetzt in Freiheit leben und niemand, so wie früher, Verfolgung fürchten muss, wenn er eine andere Meinung hat.“
Ist das so? Sehr wohl muss jemand Verfolgung fürchten, wenn er eine andere Meinung hat.
Was anderes als Verfolgung ist es, wenn jemand seinen Job verliert, weil seine Meinung vom Kollektiv der haltungsbedingten Anständigen als „rechts“ wegsortiert wird?
Was anderes als Verfolgung ist es, wenn einem Staatssekretär namens Christian Hirte seine Aufgabe entzogen wird, weil er einem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten einer demokratischen Partei öffentlich seinen Glückwunsch ausspricht?
Was anderes als Verfolgung ist es, wenn dieser demokratisch gewählte Ministerpräsident von Ihrer Majestät der Kanzlerin genötigt wird, umgehend sein Amt aufzugeben und ein randalierender Mob ihn und seine Familie bedrohen darf?
Was anderes als Verfolgung ist es, wenn eine Stasi-Mitarbeiterin mit Steuergeldern schwarze Listen behaupteter Faschisten erstellen und veröffentlichen darf?
Was anderes als Verfolgung ist es, wenn der Leiter einer Stasi-Aufklärungsstelle auf Betreiben von Stasi-Mitarbeitern und diesen nahestehenden Politikern mit Stasi-Methoden in die Wüste geschickt wird?
Was anderes als Verfolgung ist es, wenn Laien als Zensurbehörden eingesetzt werden und politisch missliebige Texte öffentlich brandmarken dürfen?
„Aber wenn nur gebrüllt wird, kann man schwer eine Antwort geben. Dafür braucht es die Bereitschaft zum Dialog. Aber es gab auch sehr viele Menschen, die zuhören wollten. Und es war traurig, dass ihnen diese Möglichkeit von anderen genommen wurde. Mit politischem Meinungsaustausch hatte das nichts zu tun.“
Schuld am lautstarken Protest sind die anderen, die Protestierer. Und weil sie jenen, die zuhören wollen, diese Möglichkeit nehmen, verhalten sie sich klassisch asozial und gesellschaftsschädlich. Dabei sollte doch eine Erkenntnis sogar bis hinter die Mauern des Kaiseramts im Kanzleramt vorgedrungen sein: Nicht gehörte Kritik erzeugt Unmut. Unmut kann Wut erzeugen. Wut richtet sich gegen jenen, der durch seine mangelnde Bereitschaft, auf Kritik zu reagieren, diese Wut zu verantworten hat.
Die Schuld an der Wut trägt der Wütende
Sollte das Redakteurskollektiv mit seinem Vorwurf tatsächlich der Merkel die Chance gegeben haben wollen, die eigene Verantwortung an dieser Wut zu erkennen und sich dazu zu erklären?
Weit gefehlt – Merkel kommt aus dem kleinsten Karo ihrer Echokammer der Unfehlbarkeit nicht heraus. Nicht sie, die alternativlos Unfehlbare, trägt die Schuld an der Wut, die ihr entgegengeprallt ist – es sind die Wütenden, die sich für ihre Wut zu verantworten haben. Die Frau im Kanzleramt spricht vom politischen Meinungsaustausch – doch den meint sie nicht.
Ihre Kommunikation basiert auf dem Modell der Einbahnstraße: Merkel spricht – das Volk hat zuzuhören. Wer widerspricht, hat nicht zugehört. Hätte er zugehört, so hätte er verstanden. Wer verstanden hat, der bedarf eines Meinungsaustausches nicht. Denn wozu wäre der gut? Der Verständige hört und gehorcht. Nur dem, der nicht versteht, weil er nicht hören will – nur dem bleibt die Wut. So ist die Wut vom Wütenden selbst verschuldet, nicht von der Unfehlbaren und ihrer alternativlosen Politik, sie allein schon deshalb jede Kritik und Nachfrage kategorisch ausschließt.
Der Schluss der Meinungsfreiheit
Umso unpassender, nein entlarvend dann die Antwort, nachdem das Redakteurskollektiv nun noch gezielt und wie gerufen auf die Corona-Proteste eingeht.
Freiheit, wir erinnern uns, ist für Merkel die Freiwilligkeit der Mitwirkung am staatsutopistischen Heil. Nur wer in diesem Sinne mitwirkt, hat das Recht auf Freiheit und Meinung. Was also, so möchte das Redakteurskollektiv wissen, löse es bei Merkel aus, wenn man bei „den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen oftmals“ den Satz höre, man dürfe seine Meinung gar nicht mehr sagen?
„Ich komme zu dem Schluss, dass es manchem gar nicht allein darum geht, seine Meinung sagen zu dürfen, sondern darum, keinen Widerspruch zu bekommen. Seine Meinung zu sagen, die dann unwidersprochen im Raum zu stehen hat, ist nicht das Wesen von Meinungsfreiheit. Wenn wir eine Meinung äußern, dann müssen wir auch damit leben, dass andere das anders sehen, und versuchen, uns mit deren Meinung auseinanderzusetzen. Das kann manchmal sehr anstrengend sein. Deshalb lohnt es sich auch zu versuchen, durch Gespräche Menschen für den demokratischen Meinungsstreit zurückzugewinnen.“
Fast könnte man als Leser dieser Zeilen selbst zu einem „Schluss“ kommen – zu dem, dass Merkel hier zu ihrem Spiegelbild spricht.
In diesem relativ kurzen und auf den ersten Blick so belanglosen Interview hat sie mit jedem Satz unterstrichen: Sie, Ihre Majestät die Kanzlerin, ist es, der es darum geht, keinen Widerspruch zu bekommen. Sie, die Unfehlbare und Alternativlose ist es, deren eigene Kommunikation nach ihrer eigenen Definition „nicht das Wesen von Meinungsfreiheit ist“. Wobei für Merkel etwas, das „dem Wesen nach“ ist, selbst zu einem Wesen wird.
Sie, die ewige Merkel, ist es, die nicht bereit ist und es nie war, sich mit Meinungen auseinanderzusetzen, die nicht ihre eigene sind. Sie ist es, die gezielt und mit Vorsatz jene „ihre Landleute“, die auf dem Stimmzettel die AfD ankreuzen oder ihren Protest gegen Merkels Politik mit Pegida oder Anti-Corona-Demo in die Öffentlichkeit tragen, als Unbelehrbare ausgegrenzt hat und ausgrenzt. Sie ist es, die jenen, die nicht ihrer Meinung sind, unterstellt, bei ihnen sei der vom Staat eingeforderte Prozess des Demokratie-Lernens ohne Erfolg geblieben.
Merkel hat recht, weil sie recht hat
Der Deutsche Kaiser hatte meistens recht – solange ihm sein Kanzler und sein Parlament dieses Recht durchgehen ließen.
Der Staatsratsvorsitzende und Generalsekretär des ZK der SED hatte lange recht, denn er war die Partei, die immer recht hat – bis die Partei feststellte, dass der Staatsratsvorsitzende doch nicht immer recht hat.
Merkel aber hat immer recht, weil sie immer recht hat. Und es ist niemand da, der ihr sagen könnte, wann sie nicht recht hat. Denn wer es wagt, ihr, der Unfehlbaren, Fehler zu unterstellen, der macht sich selbst zum Fehlenden, dessen Tage an der Sonne gezählt sind.
Weshalb es nun an der Zeit ist, jenen bereits versprochenen Satz zu zitieren, der das geistige Kalkül der Immerrechthabenden auf erstaunliche Weise enthüllt. In der gefühlsschwangeren Hinwendung zu „ihren Landsleuten“ im Osten dessen, was früher einmal als geeintes Vaterland bezeichnet werden durfte, entrückt sich ihr mit Blick auf jene, die ihr Glück im fremden Beitrittswesten suchten, die folgende Feststellung:
„Lange Zeit sind viele Junge deswegen in die alten Bundesländer gegangen und haben dort Familien gegründet. Das hat zu einer Traurigkeit bei Eltern geführt, die ihre Enkelkinder nicht aus nächster Nähe aufwachsen sehen konnten.“
Ach je, ist man versucht, zu seufzen. Wie kann diese Frau, die die Traurigkeit jener Eltern bejammert, die ihre vielleicht 400 Kilometer entfernt lebenden Enkelkinder nicht aus nächster Nähe aufwachsen sehen können, es ertragen, dass sie allein die Verantwortung dafür trägt, wenn nun zahlreiche Eltern aus Asien und Afrika in tiefe Traurigkeit gestürzt werden, weil sie aufgrund der Auswanderung ihrer Söhne und manchmal auch Töchter ihre Enkelkinder nicht aus nächster Nähe aufwachsen sehen können?
Hätte sie recht, so müsste sie es sich gefallen lassen, dass ihr die Frage gestellt würde, warum sie die unendliche Traurigkeit über vier- oder fünfhundert Kilometer zutiefst belastend findet – sie die Traurigkeit über Tausende von Kilometern jedoch nicht im Geringsten rührt?
So entlarvt sich dieses in gefälliger Kooperation mit einem willigen Redakteurskollektiv entstandene Interview als ein Kunstprodukt aufgesetzter Unehrlichkeit und geheuchelter Pseudoemotionalität. Ein bemerkenswertes Zeitdokument deshalb dennoch allemal, weil es unter einer Camouflage der Deklaration des Demokratischen eine zutiefst undemokratisch denkende Frau entlarvt.
Zur Rede Steinmeier folgt ein getrennter Beitrag.