Spätestens seit jenem Unsinnstext des Knödelbarden Herbert Grönemeyer ist die Kindessehnsucht der bundesdeutschen Gesellschaft offenbar. Nicht die Sehnsucht nach Kindern ist mit diesem Begriff gemeint – nein, es ist vielmehr die Sehnsucht, selbst den Status des Kinds niemals verlassen zu müssen, sein Leben lang Kind bleiben zu können.
„Kinder an die Macht“, jener naiv-anarchische Aufschrei des Sängerschauspielers, war und ist immer noch der Aufruf, die Habecks und Baerbocks endlich das politische Ruder übernehmen zu lassen. Menschen die Geschicke des Staates lenken zu lassen, die, so der Barde, angeblich nicht berechnen, was sie tun. Eine Behauptung übrigens, die jeder, der sich in seinem Leben irgendwann einmal mit Kindern und Kinderpsychologie beschäftigt hat, in das Reich einer selbstgestrickten Legende verbannen muss, denn selbstverständlich sind Kinder nicht minder berechnend als Erwachsene. Sie unterscheiden sich von letzteren – wenn überhaupt – nur dadurch, dass die Ergebnisse ihrer Berechnungen in Ermangelung real gewonnener Erfahrungen oftmals andere sind als jene, zu denen tatsächlich Erwachsene kommen. Was wiederum Kindern nicht vorzuwerfen ist – sehr wohl aber Erwachsenen, deren Berechnungen sich auch in gesetztem Alter auf dem Niveau von Kindern bewegen.
Der Weg in die Kindgesellschaft als Flucht vor der Verantwortung
Die Kindisierung der bundesdeutschen Gesellschaft begann recht kurz nach der finalen Niederlage in der zweiten Phase der Selbstvernichtung der europäischen Imperien. Angesichts der zunehmend offenkundig werdenden Verbrechen, die die nationalen Sozialisten im Namen des deutschen Volkskollektivs begangen hatten, nahm die Generation der zu spät Geborenen den Weg in die dauerhafte Kindheit. Dieser Weg dokumentiert sich bis heute in jenen deutschen Nachkriegsfilmen, in denen sich Jungerwachsene beständig nur als „Kinder“ anreden – er kam zu seinen Höhepunkt, als die sehr wohl berechnenden und in der Tradition ihrer Väter stehenden Jahrgänge der späten Dreißiger- und Vierzigerjahre ab 1967 ansetzten, die Gesellschaft der Erwachsenen, in der sie Ursache und Verantwortung des zivilisatorischen Bruchs zu erkennen glaubten, erst zu unterwandern, um sie dann zu übernehmen.
„Kinder an die Macht“ wurde zum politischen Programm, lange bevor ein einstmals seriöser Süßwarenhersteller aus dem Großraum Bonn dieses durch werbende Erwachsene, deren Aussagen durch kindlich-naives Synchronsprech ersetzt wurde, in der Ikonografie einer Werbung der Volksverblödung verewigte. Bäumchen, die nur noch rote Gummibärchen als Früchte tragen – wie perfekt und sinnbildlich steht dieses geistige Niveau eines Dreijährigen auch für jene Jungnaiven, die an die Stelle staatlich finanzierter Bildung die kollektiv herausgeschriene Forderung nach Sofortabschaltung aller Grundlagen des eigenen Wohlstandes setzen.
Grüne an die Macht – so lautet die eigentliche Botschaft auch der Gummibärchenwerbung. Denn sie berechnen nicht, was sie tun. Wozu auch: Der Strom für Handys und PC-Games kommt aus der Steckdose, das Geld für das eigene Wohlergehen von Papas wohlgefülltem Konto. Und sollte Papa außerstande gewesen sein, dieses Füllhorn entsprechend aufzufüllen – dann ist eben Papa Staat, gelenkt durch Mutti Merkel, gefordert. Fordervereine, die unter rotgrüner Dominanz über die Stammtische wie kleine rote Pilze mit grünen Tupfen aus dem Boden schossen, sollten es richten – sie stehen auch jetzt wieder parat, wenn ein seiner eigenen Unproduktivität frönender Vorsprecher der Staatsausbeutung angesichts der Corona-Misere fordert, erst einmal die Sozialhilfesätze kräftig aufzustocken.
Kinder fragen nicht, sind verantwortungs-los
Kinder fragen nicht, woher das Geld kommt, mit dem Mama und Papa die Wohnung bezahlen, den mehr oder minder gehobenen Luxus finanzieren, den Mittagstisch bestücken. Müssen sie auch nicht, solange sie Kinder sind. Doch sie müssen diese Fragen lernen, sollen sie eines Tages auf eigenen Beinen stehen und selbst Kindern den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft ebnen. Kinder aber, die nicht erwachsen werden wollen, müssen diese Fragen auch deshalb nicht lernen, weil sie selbst als Kinder keine Kinder haben wollen. Was nicht damit zusammenhängt, dass das die Elternrolle erlernende Spiel mit Puppen mittlerweile als genderfeindlich und ewig-gestrig gesellschaftlich verpönt ist. Eigene Kinder gelten Kindern, die die Pubertät hinter sich haben, bestenfalls als Erfolgsbestätigung für das eigene Kindsein. Vorzeigeobjekte des persönlichen Erfolgs – Puppenersatz, der schnell auch lästig werden kann.
Kinder sind verantwortungs-los. Weil – so will es auch das Recht – sie noch nicht reif genug seien, die Verantwortung ihrer Taten und Handlungen einschätzen zu können. Volljährig werden sie deshalb erst mit 18 Jahren. Allerdings ohne Prüfung, ob mit diesem Alterspunkt nun tatsächlich die große Verantwortungsfähigkeit über sie gekommen ist. Dient es allerdings den Kindern, die das 18. Lebensjahr bereits hinter sich haben, dann, wenn diese in ihrer kindlich, angeblich nicht berechnenden Art darin die Möglichkeit erblicken, für sich und ihre vorgetragene Naivität Vorteile zu ziehen, dann darf beispielsweise das Wahlrecht auch schon mal auf das Erreichen des 16. Lebensjahres herabgesetzt werden. In der Logik der alten Kinder heißt dieses: Nicht in der Lage, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen – sehr wohl aber in der Lage, Verantwortung für den Staat zu tragen.
Auch das eine durch und durch kindliche Logik. Billige ich einem 16-Jährigen zu, mit seiner Entscheidung über die Besetzung von Parlamenten zu entscheiden, dann muss ich ihm auch zubilligen, über seine eigenes Leben ohne Fremdbestimmung entscheiden zu können. Nicht von der Hand zu weisen, dass dieses möglich und sinnvoll ist. Mir persönlich sind durchaus 16-Jährige bekannt, die über mehr Verantwortungsbewusstsein und politisch-gesellschaftliches Verständnis verfügen als viele 40- oder 50-Jährige. Was wiederum konkret bedeuten müsste, dass eben diese Übernahme der uneingeschränkten Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft eben nicht vom Lebensalter abhängig sein kann, sondern von der individuellen Fähigkeit, eben genau dazu in der Lage zu sein.
Solche Debatten aber schaltet eine Gesellschaft der Kinder aus. Weil sie offensichtlich davon ausgeht, dass Kinder auch dann, wenn sie Dreitagebart tragen oder die Menopause hinter sich haben, keine Verantwortung tragen müssen. Das tun dann statt ihrer Kinder, die sich dazu auserwählt wähnen, weil sie von den anderen Kindern dazu auserwählt wurden.
Das Kind Habeck
So wie eben jener Robert Habeck, Kinderbuchautor und als solcher absolut prädestiniert, der Kindgesellschaft vorzustehen. Ihm, diesem frühpubertär-unorganisiert wirkenden Dauerkind, fielen am 11. April gleich mehrere berechenbare Unberechenbarkeiten ein, wie Kindermacht nach dem Ende der Corona-Misere zu gestalten sei. Bemerkenswert dabei, wie sehr sich Grönemeyers Nichtberechnung der Vorschläge Habecks mit den naiven Vorstellungen jener Sekten deckt, die sich als Parteien des Sozialismus seit eh von jeglichem politischen Pragmatismus abgrenzen.
• „Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie einen Weg und die Grundlagen ihre Abwägungen aufzeigt; Transparenz und Klarheit sind gerade in der Krise nötig. Oft sind es ja die kleinen, die kreativen Lösungen, die helfen. In Thüringen zum Beispiel wurde den Buchhandlungen Straßenverkauf erlaubt – Bücher to go sozusagen.“ – Kinder, dass kennen wir, setzen sich gern einmal mit ihren ausrangierten Spielsachen und Kinderbüchern vor den Supermarkt oder auf die Parkbank, um ein paar Cent Taschengeld hinzu zu verdienen. Das macht Sinn und kann lehren, Marktmechanismen zu verstehen. Als „kreative“ Basis einer Nach-Corona-Wirtschaft allerdings will diese Kinderbuchvorstellung doch eher Zweifel aufkommen lassen. Immerhin aber wirft das Kind Habeck dann doch einen berechnenden Blick auf die eigenen Umsätze – Kinderbuch to go schafft immerhin noch mehr Umsatz als ein Ladenhüter.
• „Die Erkenntnis, wie notwendig ein vorsorgender Staat und ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem sind, wie wertvoll öffentliche Räume, die wir jetzt so sehr vermissen, und wie wichtig es ist, sie zu stärken: Schulen, Kitas, Schwimmbäder, Bibliotheken, lebenswerte Innenstädte.“ – Das klingt auf den ersten Blick so gut und richtig. Und es ist dennoch die Perfektion des Kindstaates. Denn es wandelt „den Staat“ von einer Gemeinschaft eigenverantwortlicher Erwachsener zu einem Kindergarten von der Krippe bis zur Bahre. Ein „gut ausgestattetes Gesundheitssystem“ – wer wollte das ernsthaft in Abrede stellen? Aber es muss bezahlt werden. Durch jene, die es in Anspruch nehmen wollen. Habecks „vorsorgender Staat“ aber stellt diese Frage nicht. Kinder wollen gesundgepflegt werden – die Rechnung geht an Papa. Wie und wovon Papa aber diese Rechnung begleichen soll – darüber macht sich das Kind keine Gedanken. Muss es als Kind auch nicht. Problematisch wird es aber dann, wenn eine Gesellschaft nur noch aus Kindern besteht, für die eine nette Fee über den Wassern schwebt und die Talerchen einfach so herunterklimpern lässt. Der grüne Kinderbuchautor träumt vom Schlaraffenland der elterlichen Fürsorge bis ins Grab – aber ohne Eltern selbstverständlich, weil die in der kindlichen Phantasie immer die Bösen sind, die entweder mit ihren Regeln und Vorschriften dem Kind den Spaß verderben, oder in der abstrahierten Form der Umweltsünder ohnehin die Verantwortung für alle Übel jener Welt tragen, die dem kindlichen Gemüt das unbelastete Spielen verdirbt.
• „Eine höhere Tarifbindung, Mindestlöhne, ein Sozialsystem, das Hartz IV hinter sich lässt“, wünscht sich der Kindautor. Bedeutet: Kein freies Spiel von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, kein eigenverantwortliches Handeln und Entscheiden, keine Tarifautonomie. In der Konsequenz das „bedingungslose Grundgehalt für alle“. – Eben Papas ewig gefüllter Geldbeutel, mit dem sich das Kind seine Wünsche erfüllen darf. Wer ihn füllt – und wie? Egal! Den Kindern wurde nie gelehrt, dass Geld erst verdient sein will, bevor es ausgegeben werden kann. In Kinderbüchern fällt das Gold vom Himmel in den Schoß des armen Mädchens. Kinderbuchautoren wissen als Experten also, wovon sie beim Geld reden.
• „Drittens sollten wir die Globalisierung nicht mehr dem Markt allein überlassen, sondern sie sanfter und fairer, hoffentlich solidarischer und robuster gestalten.“ – Einmal abgesehen davon, dass „drittens“ eigentlich schon viertens ist – aber auch beim Zählen sind wir bereit, den Kindern kleine Unzulänglichkeiten zu verzeihen -, bedeutet die Floskel des „nicht allein überlassen“ im eigentlichen Sinne das Ende selbst des Kinderflohmarktes. Denn es bedeutet konkret: Der Markt ist nur ein solcher, wenn er nach den Regeln der Kinder funktioniert. Er soll „sanft“ sein, „fair“, „solidarisch“ und „robust“. Er soll also kuscheln und herzen – und das in einer Weise, die „robust“ erst noch definieren muss. Denn wie robust der kuschelige Kinderhandel ist, wenn der Besitzer der leckeren Himbeere diese nicht freiwillig gegen die roten Gummibärchen gibt, weil der Himbeerbesitzer diese lieber selbst essen möchte und das Gummibärenkind nichts im Angebot hat, was das Himbeerchen zum Tausch veranlassen könnte, wird sich erst noch zeigen müssen. Handel beruht auf der Freiwilligkeit des Austausches. Ich habe etwas, das Du willst – Du gibst mir dafür, was ich will. Weil das spätestens nach der Steinzeit nicht mehr problemlos funktionierte, erfanden die Menschen als Objekt des Wertetransfers das Geld. Was wiederum zwangsläufig dazu führte, dass manch einer, der mehr gesuchte Waren im Angebot hatte, auch mehr Geld sammeln konnte als jener, dessen Angebote keinen Abnehmer fanden. So entstand das, was wir Markt nennen. Mit dem, was dem Kinderbuchautoren vorschwebt, aber hat das nichts zu tun. Hier gibt, wer hat – und nimmt, wer nicht hat. Unbeantwortet bleibt die Frage, woher dabei derjenige, der hat, nehmen soll? Vor allem: Weshalb er sich überhaupt bemühen soll, zu haben, denn er bekommt auch ohne Mühe. Doch auch diese Frage muss das Kind nicht bewegen. Mutti wird schon dafür sorgen, dass immer genug Goldbären und Colorados in der Schublade sind.
• „Wenn wir Mumm haben, überprüfen wir viertens die Koordinierung in unserem Föderalismus.“ – Ein schönes Beispiel liefert dieser Satz erst einmal für den Grönemeyerschen Unsinn der Berechnungslosigkeit. Denn der Kindautor berechnet hier selbstverständlich recht genau die Folgen seiner Prosa. Am Ende steht das Ende des Föderalismus – worüber gern auch nachgedacht werden darf, wenn man die Erwachsenenreife bereits erreicht hat. Aber dann sollte man auch den Mut haben, das unverklausuliert zu sagen und zu beschreiben: Der Zentralstaat bestimmt die Regeln, die Bundesstaaten haben sie durchzuführen.
• „Und fünftens sollten wir vielleicht nicht nur staatliche Vorsorge und Sicherheit fordern, sondern insgesamt eine vorsorgende Politik betreiben, die sich für kommenden Krisen und Bedrohungen wappnet.“ – Hier knüpft das Kind mit dem „fünftens“, das ein „sechstens“ ist, an das in der Zählung unterschlagene „zweitens“ an. Der all-around-ultimative Betreuungsstaat – das Kind umarmend und umsorgend, es hütend und behütend – so wünscht sich das Kind Habeck die Gesellschaft der Zukunft. Alles Sehnen und Wähnen von Politik nur unter dem Wunsch der allumfassenden Fürsorge der Gesellschaft. Das behütete Kind – abends vom Papa sanft zugedeckt und in den Schlaf gesungen – morgens von Mama liebevoll geweckt und auf den risikobefreiten Spielplatz gebracht. Der Kinderbuchautor träumt den Traum des ewigen Schlaraffenlandes – ohne jegliches Risiko, ohne jede Verantwortlichkeit für das eigene Tun. Der Staat als ewige Kinderwelt, die ausblendet, dass auf dieser Welt nun einmal nichts ohne Risiko ist. Die Evolution selbst ist ein ewig-währendes, unendlich umfassendes Risiko-Spiel. Es überlebt, wer mit den Risiken umzugehen versteht – nicht der, welcher glaubt, sie durch Ausblenden abschalten zu können.
Der ratlose Staat der Räte
Der Kinderbuchautor träumt seinen Traum der kindlichen Unendlichkeit. Er fügt nun als seine Forderungen die hinlänglich bekannten Wunschträume des grünen Dauerkinderartens an. Schafft eine grüne und entdeutschte Deutschinsel der Isolation in einer Welt, die durch ganz andere Probleme als die naiver Kinder aus den Fugen gerät; Probleme, die der Horizont des Kindergartens schlicht nicht erreichen kann. Unverdrossen aber weiß das Kind Habeck auch, wie der Kindergarten der Politik seinen nach außen geschützten Indoor-Spielplatz funktionstüchtig erhält. Und auch hier träumt der Autor von „Kleine Helden, große Träume“ zumindest beim Start im Gleichschritt mit den Sozialisten.
„Es wäre ein großes Zeichen der Bundesregierung, nach der Krise Zukunftsbündnisse, Räte zu gründen, in denen zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger das Erlebte diskutieren, über Konsequenzen für die Zeit danach beraten und gesellschaftliche Schlüsse daraus ziehen.“
Nicht Sachverstand, nicht Erfahrung, nicht Wahl der – zumindest theoretisch – Besten soll den Weg in die Zukunft weisen. „Zufällig geloste Bürger“ diskutieren, beraten und ziehen Schlüsse.
Nicht, dass ein solches Modell tatsächlich neu wäre. Auf kommunaler Ebene der Politik haben die grünen Kinder längst ihren Kindergarten etabliert. Von ihnen oder ihren Mitläufern gelenkte „Beiräte“ entscheiden längst über alles und jedes. Die Sozialarbeiterin bestimmt, wo ein Supermarkt die besten Marktchancen hat. Der abgebrochene Jurastudent erklärt der Stadt, warum die Unternehmensansiedlung nicht zu genehmigen ist. Der Vertreter des örtlichen Fahrradclubs legt fest, welche Autostraßen künftig wie auszubauen sind.
Ein sich selbst organisierender Kindergarten
Bislang allerdings – mag die berufliche Bildung und sachliche Qualifikation auch noch so fraglich sein – konnte den Räten jedoch zumindest noch ein gewisses, wie auch immer gelagertes Interesse am Gegenstand der Beratung unterstellt werden. Sachorientierter Lobbyismus war die unvermeidbare Folge. Doch auch das ist dem Kind Habeck nicht mehr recht. Das kindliche Zufallsprinzip soll es künftig richten. Ein sich selbst organisierender Kindergarten, der dann auch auf die Kindergärtner verzichten kann.
Wer auch nur einmal einen Tag im Kindergarten miterlebt hat, der hat eine konkrete Vorstellung davon, wie organisiert ein Kindergarten ohne Kindergärtner ist. Die nicht berechnende Unberechenbarkeit des Kindes, von Grönemeyer und seinen naiven Kinderfreunden als ultima ratio gefeiert, endet schnell in der Anarchie des Stärkeren, dem Rückfall in die menschliche Ursubstanz.
Einem Kinderbuchautor, der sich dem Erwachsenendasein verweigert und sein Leben als Kind beenden möchte, mag eine solche Situation gefallen. Die Frage, wer in einem solchen Kindergarten den Mittagstisch füllt, die Windeln wechselt und das Geld für die notwendigen Reparaturen und Spielzeuge bereitstellt, hat das Kind nicht zu interessieren. Insofern ist es dann tatsächlich sachdienlich, in der Republik der Kinder auch ein großes Kind zum vorübergehenden Chef zu machen. Vorübergehend deshalb, weil sich die Anarchie der Kinder bestenfalls vorübergehend für jenes interessieren wird, was das Oberkind von sich gibt. Denn Anarchie funktioniert eben nicht so, dass sie aufgesetzte Hierarchien duldet. Auch keine kindlichen. Aber auch das interessiert das Kind als Kinderbuchautor nicht. Hauptsache, die Geschichte liest sich nett und ist hübsch bunt bebildert.
Zum Abschluss eine Erläuterung
Apropos nett und hübsch bebildert. Zum Abschluss noch ein persönliches Wort. Ursprünglich wollte ich mit dieser Geschichte zu einem anderen, recht bedeutsamen Aspekt unserer Kindgesellschaft führen. Die kindliche Unfähigkeit zum Umgang mit dem Tod, der uns angesichts der Corona-Problematik einmal mehr so deutlich vor Augen geführt wird. Das kindliche Verhalten, die Alten in Isolationsheime zu stecken und die Sterbenden in Krankenhäuser abzuschieben. Die fehlende Bereitschaft der Kinder, sich dem Tod als selbstverständliches und unvermeidbares Sein unserer Existenz offensiv zu stellen. Die Unfähigkeit, auch den eigenen Tod als Selbstverständlichkeit zu begreifen und nicht stattdessen wie ein furchtsames Kind die Augen vor ihm zu verschließen.
Ich wollte darüber schreiben, wie ich als Nachkriegskind und Vorschüler meinen ersten Toten sah, weil der Fahrer des VW-Käfer nicht bemerkt hatte, dass seine von rechts kommende Straße durch Städteplanung nun keine Vorfahrt mehr hatte und er deshalb unter den Bus geraten war.
Ich wollte darüber schreiben, wie meine Großmutter mir, als sie sich entschloss, zu sterben, begreiflich machte, dass jemand, der Angst vor dem Tod hat, nur vergessen hat, zu leben.
Ich wollte darüber schreiben, dass verantwortungsbewusste Ärzte meinen bis in den letzten Moment lebensbejahenden Großvater in Ruhe sterben ließen, als er mit einem unheilbaren Schlaganfall eingeliefert worden war, statt ihn auf Befehl der Politik als atmende Hülle zu einem Leben zu zwingen, welches für ihn kein Leben mehr gewesen wäre.
Ich wollte darüber schreiben, wie wir entschieden, einen im Sterben liegenden, geliebten Menschen seinen letzten Weg in seinem vertrauten Bett gehen zu lassen, statt ihn in die Sterbestation eines Krankenhauses abzuschieben.
Kurz: Ich wollte darüber schreiben, dass der Umgang mit Corona uns auch wieder einen erwachsenen, einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Tod lehren sollte. Sterbende und Tote sind keine Trophäen auf staatlichen Statistiken. Der Tod hat nichts Erschreckendes, wenn man ihn als Selbstverständlichkeit des Lebens begreift.
Irgendwie kam ich davon ab, weil der Protagonist der Kindergesellschaft, die in ihrer unbedarften und von ihren eigenen Elternkindern gepflegten Scheu vor dem Tod diesen aus ihrer menschlichen Realität verdrängt hat, ein solches Konvolut an Naivität des Künftigen vorgelegt hatte, dass für den Umgang der Kindgesellschaft mit dem Tod kein Raum mehr war. Vielleicht schreibe ich später noch einmal darüber. Vielleicht aber auch nicht.
Denn eigentlich ist dann doch auch dazu alles gesagt – wenn man versteht, dass eine Welt der Kinder eben nur eine Welt des Peter Pan sein kann. Nicht aber eine Welt, die sich offensiv den Herausforderungen mit all ihren Licht- und Schattenseiten stellt, um in der Verantwortung eines erwachsenen Menschen die Problem der Gegenwart und der Zukunft nicht durch das eigene Verschwinden in Kinderbüchergeschichten zu bewältigen, sondern sich der tatsächlichen Möglichkeiten bewusst zu werden, die die Menschheit hat, um ihren weiteren Weg zu beschreiten auch dann, wenn diese Wirklichkeit von den zu alten Kindern nicht in Kinderbücher geschrieben werden mag, weil sie angeblich für Kinder vielleicht zu unerträglich sind.
Dabei lehrt die Erfahrung: Es sind nicht die Kinder, die sich weigern, die Welt so zu sehen, wie sie ist, indem sie den Kopf in den Sand stecken. Es sind die Kinder, die ihr Kindesalter lange hinter sich haben und das Erwachsenensein verweigern, die dieses tun. Weil sie glauben, sich ihr eigenes Kindsein durch ein naives Bild vom Kind retten zu können. Ein Bild des Naiven, das dann eben auch in der Unsinnslyrik eines der Pubertät unbemerkt entronnenen Grönemeyer, in den politischen Kinderbuchträumen eines Habeck – und nicht zuletzt in der Selbstspiegelung der bundesdeutschen Wirklichkeit seinen Niederschlag findet.