Tichys Einblick
Gottessohn oder „nur“ ein Prophet

Die Figur des Jesus im Koran

Der beste Beweis dafür, wie offen der Islam auf die Christen zugehe, sei die Anerkennung des Jesus als islamischer Prophet. Das lässt es nicht nur wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes zweckmäßig erscheinen, die Rolle Jesu im Koran genauer zu betrachten.

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Gottessohn oder „nur“ ein Prophet – der Konflikt um die Figur Jesu trennt seit 1.600 Jahren Christen und Muslime. Bei der Dominanz islamischer Welterklärungen, mit denen diese gerade einmal zwei Prozent der bundesdeutschen Bürger seit geraumer Zeit die öffentliche Diskussion dominieren, wird regelmäßig immer wieder auch die Behauptung aufgestellt, der Gott der Christen und der Gott der Mohamedaner seien identisch – und der beste Beweis dafür, wie offen der Islam auf die Christen zugehe, sei die Anerkennung des Jesus als islamischer Prophet. Das lässt es nicht nur angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes zweckmäßig erscheinen, die Rolle des Jesu im Koran etwas genauer zu betrachten.

Jesus als Gesalbter

In Su003.045 des Koran verkünden „Engel”, die ursprünglich nichts anderes als „königliche Boten“ waren, der jungfräulichen Maria den Namen ihres noch ungeborenen Kindes: „Messias Jesus Sohn Maria”. Weiterhin wird Maria über die künftige Aufgabe ihres Kindes informiert. Jesus werde „im Diesseits und im Jenseits angesehen” und einer von jenen sein, die Allah „nahestehen”.

Die Kernaussage des Koran folgt insofern dem Evangelium nach Lukas. Mohamed greift die phantasievolle Vorgeburtsgeschichte des Lukas-Evangeliums auf, in der allerdings von einem „Messias” nicht die Rede ist, während der Koran den Zusatz des Messias bereits zu Anbeginn seiner Darstellung einführt. Damit zeigt sich der Autor des Koran als Kenner auch des Evangeliums nach Johannes und vollzieht die Erhebung des als Menschen geborenen Jesus zumindest zum Gesalbten Gottes nach – ein deutlicher Hinweis darauf, dass Mohamed eine umfassende, christliche Sozialisation erfahren haben muss oder sich zumindest recht intensiv mit den Evangelien beschäftigt hatte.

Wenn, wie geschehen, Mohamed die Figur des Jesus in sein Glaubenskonzept einbezieht, so liegt es in der dem Koran inhärenten Logik, Jesus in einen unmittelbaren Bezug zu Allah als dem von Mohamed als solchen beschriebenen, eigentlichen Gott auch der Juden und Christen zu stellen. Die Einbeziehung der entscheidenden Figur des christlichen Monotheismus in das Mohamed-Konzept fällt in eine Phase, in der die Frage nach der „Natur“ Jesu theologisch nicht nur nicht abschließend geklärt ist, sondern insbesondere im Nahen Osten als dem eigentlichen Spannungsfeld des imperialen Konflikts zwischen Byzantinern und sassanidischen Persern zu einem der entscheidenden, theologischen Streitpunkte gehört. Insofern sind die Darstellungen des Koran nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie eine unübersehbare Nähe des Mohamed zur christlichen Lehre darlegen, sondern weil die Art der Einordnung auch Rückschlüsse auf die konkrete christliche Sozialisation und den Stand der innerchristlichen Diskussion zulassen mag, die Mohamed bei seinen Texten inspiriert hat.

Die Person des Jesus im Koran

Die Geburt eines Kindes durch eine Jungfrau namens Maria (Marjam) wird als Tat und Wille Gottes festgeschrieben. Das Kind hat eine menschliche Mutter – aber keinen biologischen Vater. Diese Mutter Maria ist bereits selbst als Fötus in den Dienst des einen einzigen Gottes gestellt worden (Su003.35). Die Existenz des Jesu ist – identisch mit der christlichen Auffassung – ausdrücklich göttlicher Wille und nähert sich der damals diskutierten monotheleteitischen Position der zwei Naturen Jesu – einer menschlichen und einer göttlichen. Abweichend von dieser wie jeder anderen christlichen Auslegung ist dieses jedoch im Koran nicht gleichbedeutend mit der Geburt eines Gottessohnes.

Damit weicht der Koran sowohl von der Doppelnatur-These des byzantinischen Kaisers Herakleios als auch von der monophysitischen Vorstellung einer ausschließlich göttlichen Natur des Jesus, wie sie in orientalischen Ostkirchen vertreten wurde, ab. Der Jesus des Koran ist ein Mensch – kein Gott. Er hat auch keine göttliche Natur. Aber er ist eine Schöpfung Gottes, was einerseits als Einzigartigkeit der Figur Jesu interpretiert werden kann – andererseits aber auch genau dieses nicht tut, wenn jedwede Schöpfung als Resultat eines göttlichen Willens verstanden wird.

Nestorius und Amtskirche

Deutlich näher liegt Mohameds Jesus-Position an jener der Nestorianer. Nestorios, der von 428 bis 431 nc christlicher Patriarch von Konstantinopel gewesen war, lehnte die Vorstellung einer Gottesgeburt (theotokos) ab. Vielmehr plädierte er dafür, Maria als Christusgebärerin (christotokos, christos als griechischer Begriff für Messias) zu begreifen. Maria hätte demnach keinen Gott oder gottgleichen Menschen geboren, sondern einen Gesalbten Gottes. In der Diktion der semitischen Sprachen hätte diese Position tatsächlich mit der Formel „Gesalbter Jesus Sohn Maria“ beschrieben werden können – es ist genau diese Formel, die Mohamed gewählt hat.

Nestorios positionierte sich mit seiner Auffassung gegen den sich zu seiner Zeit als Patriarch von Konstantinopel ausbreitenden Muttergottes- oder Marienkult, der nach seinem Verständnis geeignet war, den Menschen Maria auf eine göttliche Ebene zu heben. Diese Position des Nestorios entbehrt nicht einer gewissen, intellektuellen Logik, da die Mutter eines Gottes – und nicht eines Halbgottes – selbst in letzter Konsequenz auch Göttin sein muss. Weiter gedacht hätte dieses bedeuten müssen, dass durch das Erscheinen Jesu als göttliche Person die Nur-Ein-Göttlichkeit auch deshalb ausgehebelt wurde, da nunmehr mit Maria als Mutter eines Gottes auch eine Frau göttlichen Charakter erhielte.

Für Nestorios konnte Jesus darüber hinaus nicht ein Mischwesen aus menschlicher und göttlicher Natur sein. Der Patriarch ging in mono- bzw. miaphysitischer Sichtweise („eine Natur“) davon aus, dass der Mensch Jesus ausschließlich über eine „Natur“ verfüge – eine göttliche – während die Gegner des Nestorios von einer Doppelnatur – einer menschlichen UND einer göttlichen, die unabhängig voneinander Bestand haben – ausgingen. Gleichwohl ist bei Nestorius streng darauf zu achten, dass die „göttliche Natur“ nicht mit einer gottgleichen Identität zu verwechseln ist. Jesus bleibt ein Mensch und wird nicht zu einem Gott, handelt jedoch ausschließlich als Instrument Gottes und ist so quasi fremdbestimmt.

Nestorios blieb mit seiner radikal-monotheistischen Auffassung innerhalb seiner Amtskirche ziemlich allein. Seine Glaubensauffassung wurde auf dem Konzil von Ephesos in Kleinasien – einem zeitgenössischen Schwerpunkt der Marienverehrung und von dem Patriarchen Kyrill von Alexandria, einem Verfechter der Dreifaltigkeitsthese, im Jahr 431 nc gezielt dorthin einberufen – thematisiert. Nestorios‘ Lehre wurde mit Unterstützung durch den römischen Papst Coelestin als Häresie gebrandmarkt, er selbst als Patriarch von Konstantinopel abgesetzt und 435 nc vom byzantinischen Kaiser Theodosios 2 ins oberägyptische Exil verbannt, wo er um 450 nc verstarb.

Aus der Position des Nestorios entwickelte sich die nestorianische Lehre, die wiederum erheblichen Einfluss auf die orientalischen Ostkirchen nahm und mit diesen über die damaligen Handelswege im vorderen und mittleren Orient bis nach Indien und China Verbreitung fand.

Mit dem Schisma von Chalcedon wurde 451 nc Jesus von der oströmischen Amtskirche als nur eine Person definiert, die jedoch „wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“ ist und damit ihre Einzigartigkeit erhält. Der nunmehr naheliegenden Interpretation, dass neben „dem einen Gott“ Jesus als zweiter Gott existiert, begegnete die Amtskirche mit der Hypostase der Trinität: Es gibt nur einen Gott, der auf verschiedenen Daseinsstufen in Erscheinung tritt: Als Gott selbst, als Jesus und als „Heiliger Geist“ im Sinne des „ruch álahjm“ (dem „Atem [der] Götter“) der Genesis. Diese tatsächlich höchst konstruiert wirkende Auffassung ließ nicht nur konkurrierenden Religionsvorstellungen Raum für die Unterstellung, das Christentum sei keine monotheistische Religion – auch innerhalb der Christen wurde sie von den Nestorianern und den orientalischen Ostkirchen nicht akzeptiert.

Die Natur des Jesus im Koran

Mohamed grenzt sich von der Trinitätslehre ebenso deutlich ab wie die Ostkirchen. Anders als Ostkirchen und Nestorianer verwirft der Koran jedoch auch die Gottessohnfunktion des „Gesalbten Jesus Sohn Maria“.

Die dem Jesus in den Evangelien zugeschriebenen Wunder werden im Koran nicht in Abrede gestellt (Su003.049). Sie werden auch nicht ausdrücklich als Taten Allahs deklariert. Vielmehr billigt der Koran dem Jesus die Handlungsfreiheit zu, Wunder zu wirken, jedoch erhält Jesus dazu ausdrücklich die Erlaubnis Allahs. Insofern kann Jesus zwar selbst entscheiden, nicht jedoch gegen den Willen Allahs handeln. Dieses gilt letztlich für jeden Muslim – die menschliche Natur des Jesus wird damit festgeschrieben. Jesus wird auch nicht als ein göttliches Instrument gesehen, das ausschließlich den vorgegebenen Willen Gottes exekutiert.

Mohamed akzeptiert darüber hinaus auch eine göttliche „Natur“ des Jesus, wenn er feststellen lässt, dass Jesus „aus Lehm“ einen Vogel schaffe, dem er (Leben) einhauchen werde, so dass er ein (wirklicher) Vogel werde (Su003.49). Dieses Motiv ist aus dem Tanach ausschließlich aus der Schöpfungsgeschichte bekannt, wo die álahjm in einem identischen Prozess aus Lehm den Mann h‘ádém (Adam) schaffen. Mohamed übernimmt diese Fähigkeit zur Kreation des Lebens aus Lehm für die Person des Jesu – beschränkt sie allerdings in seinem Bild auf einen Vogel. Gleichwohl ist unabweisbar, dass Mohamed seinem Jesus – unter dem Aspekt des Erlaubnisgebots – hier die traditionell nur Göttern vorbehaltene, lebensschaffende Fähigkeit zubilligt.

Die dezidierte Positionierung zur Funktion des Jesu lässt den Schluss zu, dass Mohamed von der innerchristlichen Debatte maßgeblich geprägt wurde. Herakleios hatte seinen vergeblichen Versuch, den innerchristlichen Konflikt zwischen Monophysiten und Doppelnaturanhängern zu lösen, zu Beginn seiner Herrschaft begonnen – folglich nach 610 nc. Der Beginn islamischer Zeitrechnung fällt auf das christliche Jahr 622 nc.

Der um 570 nc geborene Mohamed muss in der Logik des Koran seine erste Offenbarung vor dem Überfall auf Medina gehabt haben. Seine ursprüngliche Position zu Jesus ähnelt dem Versuch der Überwindung des innerchristlichen Streits durch Herakleios: Der Monotheleteismus definierte Jesus einerseits als mit menschlicher Natur, die jedoch ausschließlich nach göttlichem Willen gehandelt habe. Schauen wir genau hin, so ist dieses letztlich die Position, die Mohamed über die Verbalinspiration des Koran für sich selbst beansprucht. Die monotheletheistische Auffassung brachte nicht nur Herakleios in Konflikt mit beiden Glaubensauffassungen der Christenheit – auch Mohamed saß damit zwischen den Stühlen. Gleichwohl lässt die inhaltliche Nähe den Schluss zu, dass die entsprechenden Passagen des Koran keinesfalls vor dem Amtsantritt des Herakleios verfasst worden sein können. Selbst die Auffassung, dass Mohamed anfänglich im Sinne des Herakleios im Hedschas tätig gewesen ist, scheint vertretbar und lässt einen Konflikt mit den ortsansässigen Christen kaum vermeidbar erscheinen, da die herakläische Sonderposition bei allen seinerzeit vertretenen, christlichen Glaubensrichtungen auf Ablehnung stieß.

Unverkennbar allerdings bleibt, wie tief Mohamed in die zeitgenössische, innerchristliche Debatte eingebunden gewesen sein muss. So will es nicht einmal als absurd erscheinen, ihn sich in seiner ursprünglichen Motivation als Parteigänger und Exekutor des Herakleios vorzustellen, von jenem zumindest inspiriert in dem Ziel, die Teilung der christlichen Welt in unterschiedliche, sich häufig sogar feindlich gegenüberstehende Lager zu überwinden.

Die Jesus-Logik des Koran

Folglich entbehrt die Position des Koran nicht einer gewissen inneren Logik. Jesus darf im strikt monotheistischen Sinne kein Gott sein. Er ist es nicht, denn er ist der Sohn einer Menschin, die ihn jedoch ohne menschlichen Zeugungsakt allein aus göttlichem Willen heraus empfängt und austrägt. Das Kind Jesus bleibt uneingeschränkt ein Mensch, der jedoch in jeder Hinsicht als Instrument des einen Gottes wirkt – bis dahin, dass er einem Häufchen Lehm Leben einhauchen kann. Das Handeln des Jesus hat damit göttlichen Charakter, jedoch wird er dadurch nicht selbst zu einem Gott oder einer gottgleichen Figur, sondern bleibt als faktisch fremdbestimmtes Lebewesen ausschließlich ein Instrument Gottes.

Es mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, dass diese Konstruktion aus naturwissenschaftlich-agnostischer Betrachtungsweise nicht ebenso problematisch erscheint wie die Konkurrenzauffassungen der christlichen Kirchen – entscheidend für die Beurteilung des Mohamed ist ausschließlich die Tiefe, mit der er sich jenem seinerzeit aktuellen, innerchristlichem Disput widmet und aus der heraus er einen Lösungsweg findet, der die scheinbar unvereinbaren Positionen eines Menschen-geborenen Gotteskindes in der Figur des einzig Gesalbten Gottes als Menschen mit prophetischer Auszeichnung und besonderer Gottesnähe zu vereinen scheint. Gleichwohl bleibt auch der Lösungsweg des Islam nicht ohne innere Unlogiken. So macht es beispielsweise wenig Sinn, dass ein Mensch, der uneingeschränkt als Instrument Gottes fungiert, beispielsweise – wie im Koran dargestellt – durch Gott selbst unterrichtet werden muss. Jedwede Ausbildung eines Menschen dient dem ausschließlichen Zweck, ihn in die Lage zu versetzen, auf unerwartete Geschehnisse angemessen und existenzsichernd reagieren zu können. Ein Mensch, der ausschließlich als göttliches Instrument funktioniert, bedarf in dieser Logik keiner Ausbildung, denn der allwissende und allmächtige Gott muss in der Lage sein, keine unerwarteten Geschehnisse zuzulassen.

Der Islam als Erneuerungsbewegung

Die deutlich gezielter formulierte Abgrenzung des Koran gegenüber den Juden – was ihn ebenfalls mit den damaligen Christen verbindet – ebenso wie das deklarierte Bestreben, alle Völker unter einer einzigen, monotheistischen Glaubensauslegung zu einen, lässt zumindest als These die Möglichkeit zu, den Islam in seinem Ursprung auf die christliche Position der Monotheleteisten zurück zu führen. Der Islam wäre demnach als christliche Erneuerungsbewegung zu verstehen, die jedoch innerhalb annähernd sämtlicher bestehender Auslegungsvarianten des Christentums auf Widerspruch traf und unabhängig davon eine regionalbedingte Eigendynamik entwickelte, aus der heraus dieses ursprüngliche Konzept zu einer eigenen Religionsauffassung wurde.

Ein ähnlicher Prozess ist bereits in den Anfängen des Christentums als ursprünglich jüdische Erneuerungsbewegung zu sehen, auch wenn der Durchbruch des Christentums deutlich länger dauerte als der kometenhafte Aufstieg der neuen Lehre aus Mekka. Warum der Erfolg bei den Christen erst über Jahrhunderte mühsam entwickelt wurde und beim Islam quasi über Nacht kam, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Gleichwohl kann eine der entscheidenden Ursachen darin vermutet werden, dass die frühen Christen sich in einem machtvollen und durchorganisierten Staatswesen behaupten mussten, während die machtpolitische Situation zur Zeit des Mohamed durch den Zermürbungskrieg zwischen christlichen Byzantinern und zoroastrischen Persern geprägt war. Anders als die Christen stieß Mohamed nicht nur in ein geistiges Vakuum, sondern fand eine überaus instabile politische Machtsituation vor, in der sich für das Volk der Wunsch nach unzweifelhafter, spiritueller Perspektive mit der Sehnsucht nach geordneten politischen Verhältnissen verbunden haben mag.

Jesus als Schüler Allahs

Jesus ist ein Schüler des Allah, welcher ihn „das Buch” oder die Weisheit („kitab”), die Tora und das Evangelium lehren wird (Su003.048). Hinsichtlich des kitab sind unterschiedliche Interpretationen denkbar. Einerseits kann darunter das Heilige Buch des Islam, der Koran, verstanden werden. Andererseits verwendet Mohamed diesen Begriff häufig in Verbindung mit den Söhnen Israels – den Juden. Es wäre demnach der Tanach, was allerdings die Abgrenzung zur Tora als Mose-Erzählung unsinnig macht. Wäre hier allerdings der Koran gemeint, so wäre Jesus als erster und wirklicher Verkünder des Islam zu verstehen – in seiner religiösen Bedeutung weitaus höher anzusetzen als Mohamed selbst. Da andererseits in unmittelbarer Folge des Wirkens Jesu zwar die Evangelien stehen, nicht aber der Koran, macht eine derartige Zuordnung in der Logik keinen Sinn, was darauf hindeutet, dass beim Entstehen dieser Sure an ein umfassendes Koranwerk noch nicht gedacht war.

Wenn wir hingegen die Substantive „Weisheit”, „Thora” und „Evangelien” nicht als additives „und” verstehen, sondern als Beschreibung des Inhalts des „kitab”, so wäre mit diesem Buch nichts anderes als das christliche Bibelwerk ohne die nicht-evangelikalen Teile gemeint. Für diese Möglichkeit spricht, dass Allah den Jesus nicht nur die Thora als vor dessen Geburt bereits bestehendes, religiöses Werk lehren will (worauf der Koran Jesus ausdrücklich hinweisen lässt), sondern auch die Evangelien als gleichsam menschliche Umsetzung göttlichen Willens.

In der historischen Logik können einem Jesus diese Werke, die erst deutlich nach seinem Tod entstanden sind, nicht gelehrt worden sein. So scheint es plausibel, dass Mohamed das Bibelwerk in christlicher Version ohne jene nach-evangelikalen Teile tatsächlich als Ergebnis des Lernprozesses Jesu beschreiben möchte – und darin gleichzeitig das Master für sein eigenes Koran-Vorhaben sieht, dem er damit die Weihe gibt. Unklar bleibt, ob Mohamed alle vier in der christlichen Kirche anerkannten Evangelien unter seinem Begriff zusammen fasst und ob er jene Evangelien, die von den Christen zu den Apokryphen gezählt werden, ebenfalls als Quelle oder Inspiration herangezogen hat – die Koran-Aussage legt sich hierzu nicht fest.

Jesus als Gesetzesänderer

Ausdrücklich unterstreicht der Koran eine gesetzesändernde Funktion des Wirkens Jesu. Su003.050 ist in dieser Hinsicht unmissverständlich. Damit allerdings begibt sich Mohamed in eine problematische Position. Da der Koran andernorts wiederholt verdeutlicht, dass auch die Tora das Werk Allahs ist, wird damit letztlich eingeräumt, dass Allah bei der Verfassung/Verkündung dieses Basiswerks Fehler unterlaufen sind. Wäre dem nicht so, bestünde keine Notwendigkeit, Jahrhunderte später jemanden zu schicken, der Teile der seinerzeit fixierten Gesetzgebung außer Kraft setzt. Mit dem behaupteten Allwissenheitsanspruch Allahs ist dieses schwerlich zu vereinbaren. Gleichzeitig wird hier deutlich, dass Mohamed die dem Jesus zugesprochene Rolle quasi als Vorbild der eigenen Prophetenaufgabe betrachtet: Er begründet damit den eigenen Anspruch, als menschliches Werkzeug eines Gottes gottgegebenes Gesetz ändern zu können.

Mit den Darlegungen in Su003.045-051 wird dabei durch Mohamed nicht nur die grundsätzliche Richtigkeit der evangelikalen Inhalte mit Gesetzescharakter festgeschrieben – mögliche, die Tora korrigierende Inhalte werden ebenfalls als göttlicher Wille fixiert. Dieses unterstreicht die Annahme, dass Mohamed aus einem christlichen Umfeld stammte, das sich jedoch von dem der byzantinischen Amtskirche in zahlreichen Positionen deutlich unterscheidet.

Mohamed als Verfechter der Maria

In Su004.156-157 setzt sich der Koran unmittelbar mit der die frühe christliche Kirche ebenso wie das Verhältnis zwischen Juden und Christen beherrschenden Auseinandersetzung um die Einordnung der Figur Jesu auseinander.

Im Zuge der Differenzen zwischen Juden und Nichtjuden in der jungen christlichen Gemeinde entwickelten die jüdischen Rabbiner mit dem babylonischen Talmud nach 200 nc die Auffassung, dass Maria zwar eine Jüdin, gleichwohl aber auch eine Hure gewesen sei, die sich mit einem römischen Soldaten eingelassen habe. Jesus sei das Ergebnis dieser Liaison gewesen. Damit sei Jesus weder vollwertiger Jude, noch könne er – wie in den Evangelien behauptet – in der Nachfolge des David stehen. Gleichzeitig wurde damit die Messias-Funktion Jesu abgestritten – und die Sohn-Gottes-Interpretation grundsätzlich abgelehnt.

Es dürfte diese Position der Juden sein, auf die Mohamed in Su004.156 unmittelbaren Bezug nimmt, wenn er von einer „gewaltigen Verleumdung“ der Maria spricht. Die entsprechende Passage, die sich gegen „die Leute der Schrift, die den Bund brachen“, richtet, verurteilt nicht nur die entsprechende Maria-Behauptung, sondern unterstellt ihnen auch Unkenntnis des tatsächlichen Vorgangs des Todes Jesu. Nicht sie, die Juden, hätten den „Messias Jesus Sohn Maria“ getötet. Dieses sei von ihnen lediglich vorgetäuscht worden. Tatsächlich sei Jesus von Allah zu sich empor gehoben worden (Su004.158).

Offensichtlich liegt dieser Sure eine entsprechende Auseinandersetzung zwischen Mohamed und Juden zugrunde, in der Mohamed die christliche Auffassung insoweit vertreten haben muss, als dass Jesus sowohl ein Messias als auch ein Sohn der Maria gewesen ist. Seine jüdischen Gesprächspartner wiederum müssen beides vehement in Abrede gestellt haben. Mohamed geht jedoch auch hier nicht den Weg der christlichen Amtskirche, sondern betrachtet den Messias, Sohn Marias, nicht als Sohn Gottes, sondern als dessen Gesandten. Gleichzeitig wird die „Himmelfahrt“ Christi zwar nicht grundsätzlich in Abrede gestellt, jedoch die Wiederauferstehung der christlichen Vorstellung. Wenn Jesus „weder erschlagen noch gekreuzigt“ wurde, sondern es sich dabei lediglich um ein Täuschungsmanöver gehandelt habe, dann impliziert dieses, dass es einen getöteten Jesus, der von den Toten auferstanden ist, nicht gegeben haben kann. Gleichwohl hat Allah ihn zu sich emporgehoben – was im bildlichen Sinne eine ideelle Erhebung beschreiben kann, in der Umsetzung jedoch auch eine „Himmelfahrt“ nicht in Abrede stellt. Die Darstellung im Koran entspricht insofern eher der Darstellung des Tanach zu Elia, der auf unerklärte Weise zu seinem Gott hinaufsteigt.

Mohamed gegen die Trinität

In Su004.171f wendet sich der Koran unmittelbar an die byzantinischen Christen:

„O Leute der Schrift, übertreibt nicht in eurem Glauben und sagt von Allah nichts als die Wahrheit. Wahrlich, der Messias, Jesus, Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Allahs und Sein Wort, das Er Maria entboten hat, und von Seinem Geist. Darum glaubt an Allah und Seine Gesandten, und sagt nicht: ‚Drei.‘  Lasset ab ist besser für euch. Allah ist nur ein einziger Gott. Es liegt Seiner Herrlichkeit fern, Ihm ein Kind zuzuschreiben. Sein ist, was in den Himmeln und was auf Erden ist; und Allah genügt als Anwalt. Der Messias wird es niemals verschmähen, Diener Allahs zu sein; ebenso nicht die nahestehenden Engel; und wer es verschmäht, Ihn anzubeten, und sich dazu zu erhaben fühlt so wird Er sie alle zu Sich versammeln.“

Es ist unverkennbar, dass Mohamed sich hier definitiv gegen die Position der Amtskirche von Byzanz stellt. Gleichzeitig begründet er damit die islamische Auffassung, wonach das Trinitätsdogma die Westchristen zu ungläubigen Polytheisten stempelt. Wie üblich verbindet der Koran seine Aufforderung, der christlich-amtskirchlichen Auslegung abzuschwören, mit einer hier noch versteckten Drohung: „Ist besser für Euch!“

In der politisch-expansiven Dynamik des jungen Islam erfolgt dadurch eine unverkennbare Unterscheidung zwischen den in Arabien und Mesopotamien lebenden Christen und den Byzantinern: Erstere gelten als lediglich geringfügig fehlgeleitete Muslime, letztere hingegen als Häretiker. Zeitlich wäre diese Koran-Passage damit in die Übergangsphase von der Unterwerfung der nahöstlichen Christengemeinden zur unmittelbaren Konfrontation mit Byzanz anzusetzen.

Eine schärfere Gangart gegen Christen

Unmissverständlich deutlich wird die Exkommunizierung der Trinitäts-Christen als potentielle Muslime in Su005.017. Sie dreht die christliche Logik quasi um:

„Wahrlich, ungläubig sind diejenigen, die sagen: ‚Allah ist der Messias, der Sohn der Maria.‘ Sprich: ‚Wer vermöchte wohl etwas gegen Allah, wenn Er den Messias, den Sohn der Maria, seine Mutter und jene, die allesamt auf der Erde sind, vernichten will?‘ Allahs ist das Königreich der Himmel und der Erde und dessen, was zwischen beiden ist. Er erschafft, was Er will; und Allah hat Macht über alle Dinge.“

Der Koran vermittelt nunmehr den Eindruck, für die Christen sei nicht Jesus ein Geschöpf Gottes, sondern Gott selbst sei dieser Messias und Sohn der Maria. In dieser Logik wird der Christ zu jemandem, der sich mit Jesus einen eigenen Gott – und damit einen Abgott – geschaffen hat. Die Tatsache, dass selbst die byzantinische Interpretation der Trinität eine solche Behauptung nicht zulässt, wird nunmehr ausgeblendet. Das kann einerseits bedeuten, dass jene Autoren der frühen Koran-Passagen, die über umfängliches Wissen des innerchristlichen Disputs verfügten, mittlerweile nicht mehr zur Verfügung stehen. Oder – wollen wir bei der Annahme bleiben, die Person Mohamed habe den Koran verfasst – Mohamed selbst ist es mittlerweile leid, den Westchristen noch irgendwelche Brücken zum Islam zu bauen. Das wiederum würde bedeuten, dass der Widerstand der byzantinischen Gemeinden gegen die Zwangsislamisierung doch nachhaltiger gewesen ist, als Mohamed dieses erwartet hatte.

Die schärfere Gangart gegen die Westchristen mit der irrigen Gottesbehauptung wird in Su005.072 wiederholt und darüber hinaus mit einem angeblichen Jesus-Zitat verschärft:

„Wahrlich, ungläubig sind diejenigen, die sagen: ‚Allah ist der Messias, der Sohn der Maria‘, während der Messias doch selbst gesagt hat: ‚O ihr Kinder Israels, betet zu Allah, meinem Herrn und eurem Herrn.‘ Wer Allah Götter zur Seite stellt, dem hat Allah das Paradies verwehrt, und das Feuer wird seine Herberge sein. Und die Frevler sollen keine Helfer finden.“

Mittlerweile ist im mohamedanischen Denken die Verschmelzung von Jahwah, dem christlichen Gott und Allah zu einer einzigen Gottesfigur abgeschlossen und Jesus selbst, der als aramäisch sprechender Jude seinen Gott als „Aloho“ bezeichnet haben mag, wird zu einem jüdischen Mohamed. Verknüpft wird das Jesus-Zitat mit der nunmehr sehr konkreten Drohung gegen jene Christen, die immer noch nicht bereit sind, sich dem arabischen Eroberer zu unterwerfen: Ihre Heimstätten werden verbrannt und sie selbst für vogelfrei erklärt.

Am Ende seiner Auseinandersetzung mit den widerstrebenden Christen scheint Mohamed dann selbst den Glauben an die Wirkkraft seiner Jesus-Geschichten verloren zu haben. Su005.075 klingt fast schon nach dem Umgang mit einem bockigen Kind:

„Der Messias, der Sohn der Maria, war nur ein Gesandter; gewiß, andere Gesandte sind vor ihm dahingegangen. Und seine Mutter war eine Wahrhaftige; beide pflegten Speise zu sich zu nehmen. Siehe, wie Wir die Zeichen für sie erklären, und siehe, wie sie sich abwenden.“

Will sagen: Euer Jesus war eigentlich nichts Besonderes, nur ein kleiner Prophet unter vielen, der wie seine Mutter Speise und Trank zu sich nehmen musste – eben nur ein Mensch mit einem göttlichen Auftrag. Gehen wir – wie die Islamgelehrten – davon aus, dass ältere, frühere Suren ihren Gebotscharakter verlieren, wenn es Allah zu einem späteren Zeitpunkt  eingefallen sein sollte, seine ursprüngliche Position korrigieren zu müssen, dann ist der Karriereknick des Jesu in der koranischen Narrative nicht zu übersehen.

Irgendwann dann hat Mohamed die Geduld mit den Christen abschließend verloren. In Su009.030f werden sie durch Allah verflucht:

„… und die Christen sagen, der Messias sei Allahs Sohn. Das ist das Wort aus ihrem Mund. Sie ahmen die Rede derer nach, die vordem ungläubig waren. Allahs Fluch über sie! Wie sind sie irregeleitet! Sie haben sich ihre Schriftgelehrten und Mönche zu Herren genommen außer Allah; und den Messias, den Sohn der Maria. Und doch war ihnen geboten worden, allein den Einzigen Gott anzubeten. Es ist kein Gott außer Ihm. Gepriesen sei Er über das, was sie zur Seite stellen!“

Europas Christen sind Ungläubige

Aus dieser Entwicklung der Betrachtung der Figur Jesu im Koran in Verbindung mit der zunehmend konsequenteren Ablehnung der byzantinisch-amtskirchlichen Trinitätslehre lässt sich für die Christen der Orthodoxie und des Katholizismus am Ende nur eine Feststellung treffen: Wenn überzeugte Muslime diesen Christen erzählen, der Islam wurde sie als Söhne des einen, gemeinsamen Gottes anerkennen, dann ist dieses nichts anderes als eine Unwahrheit. Allah als gemeinsamer Gott war der Rettungsanker für die orientalischen Christen, die Mohameds Glaubensfanatiker zu einem Zeitpunkt unterwerfen wollten, als seine Bewegung noch in den Anfängen stand. Als seine Armee des islamischen Kalifats stark genug war, die Ungläubigen im Kampf zu unterwerfen, wurden alle Anhänger der byzantinischen Glaubensauslegung zu Ungläubigen erklärt. Und für die ist im Islamischen Staat keine Platz – so wie umgekehrt für diese als strenggläubige Christen nach Kapitel 2.22f des ersten Johannes-Buches zu gelten hat, dass der Muslim als jemand, der die Gottessohn-Eigenschaft des Jesu in Abrede stellt, der Antichrist ist:

„Wer ist der Lügner, wenn nicht der, der da leugnet, daß Jesus der Christus ist? Dieser ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater.“

Wenn angesichts dieser Ausgangslage ein oberster Glaubensvertreter der katholischen und einer der evangelischen Kirche gemeinsam auf den Tempelberg gehen und dabei in vorauseilendem Gehorsam ihr Kreuz ablegen, dann kann beiden eigentlich nur unterstellt werden, dass sie weder den Koran noch ihr eigenes Heiliges Buch gelesen haben.

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