Mittlerweile ist es in unserer schönen Republik Usus, jeden irgendwie geeigneten Jahrestag zu Feierstunden zu nutzen. Klassische Jubiläen, die bei 25, 50, 75 und 100 Jahren angesetzt waren, rücken in den Hintergrund. Also feiert die Republik in diesem Jahr 2019 den siebzigsten Jahrestag des Grundgesetzes. Was den Vorteil hat, dass man nicht nur kurz vor den Abstimmungen über die Besetzung des EU-Parlaments bedenkliche Worte in die Öffentlichkeit bringen kann, sondern auch schon in nur fünf Jahren dann das klassische 75ste auf der Agenda steht und erneut mit den salbungsvollen Worten eines Bundespräsidenten sowie parlamentarischen Feierstunden und einem Großaufgebot öffentlich-rechtlicher Preisungen der Bürger daran gemahnt werden kann, was seine Pflicht und Schuldigkeit gegenüber diesem besten aller deutschen Staaten ist.
Das GG ist trotz Mängeln richtungsweisend
Gleich vorweg: Tatsächlich ist dieses 1949 aus der Taufe gehobene Grundgesetz insgesamt positiv zu bewerten. Auch wenn es vor allem gegenüber der Bundesverfassung von 1871 einige eklatante Nachteile aufweist wie die sozialistische Möglichkeit der Enteignung – neudeutsch „Kollektivierung“ genannt; die Abkehr vom strikt liberalen Laizismusgebot mit der Folge, dass eine Frau Bundeskanzler ein „postfaktisches Zeitalter“ ausruft und einer archaischen Imperialismusideologie unter dem Tarnmäntelchen des Religiösen die Pforten zur Übernahme des freiheitlichen Staates geöffnet wird; die Vergewaltigung des Gemeinwesens Staats durch nicht selten gänzlich unqualifizierte Parteienvertreter selbstverständlich geworden ist, indem die Besetzung von Legislativen durch Listenwahl und von Exekutiven durch Auflösung der Gewaltenteilung dem Bürger entzogen und Vereinigungen mit fragwürdiger Legitimation zugewiesen wurden.
Halten wir den sogenannten Verfassungsvätern, die sich ihr Werk bei der Gründung des damaligen Klientelstaats Bundesrepublik von den westalliierten Protektoratsmächten absegnen lassen mussten, zu Gute, dass sie in dem Bemühen, die Katastrophe der Selbstvernichtung durch die Diktatur der nationalen Sozialisten zu überwinden, vieles richtig gemacht haben. Das gilt auch dann, wenn interessierte Kreise permanent daran arbeiten, beispielsweise aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes eine Gleichheitsstanze zu machen, an deren Ende der evolutionsunfähige sozialistische Einheitsmensch stehen soll.
Gleichwohl bleibt ein Grundkonflikt, der bis heute ungelöst ist, und dessen Problematik letztlich die Legitimität des Grundgesetzes als Verfassung eines deutschen Staates infrage stellt.
Staatsbürger oder deutsches Volk?
Als 1949 die Verfassungsväter an die Arbeit gingen, standen sie bereits vor dem Problem: Ist das, was wir schaffen, nur eine weitere Phase des 1871 gegründeten Deutschen Reichs? Oder ist das etwas Neues?
Das Grundgesetz von 1949 mogelte sich geschickt um die Frage herum. Es sprach wie selbstverständlich von der „Wahrung seiner nationalen und staatlichen Einheit“ und forderte „das gesamte Deutsche Volk“ auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Es war damit im heutigen Gegenwartsverständnis recht völkisch und nationalistisch – also mehr als nur ein wenig rechtspopulistisch. Und das ist es bis heute, denn in seinen zahlreichen Artikeln spricht es nicht – was für das Grundgesetz eines deutschen Staates hätte gelten müssen – von Staatsbürgern, sondern von „Deutschen“.
Dieses „Deutsche“ war und ist im Sinne des Grundgesetzes durchaus auch ethnisch gemeint – es folgt damit der Vorstellung eines deutschen Nationalcharakters, der aufgrund traditioneller Kriterien wie Staatsgebiet, Sprache, Ursprung und Kultur eben das ausmacht, was bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein als „Volk“ bezeichnet wurde. Und was gegenwärtig massiv bekämpft wird, wenn beispielsweise in einigen Ländern der Europäischen Union (EU) es sogenannte „Rechtspopulisten“ wagen, dieses Volksverständnis in den Mittelpunkt ihres politischen Wollens zu stellen.
So ist es naheliegend, dass sich das GG 1949 überaus schwer tat damit, dieses Volk, für das es dieses Gesetz geschaffen hatte, überhaupt zu definieren. Denn Menschen, die sich als ethnische Deutsche fühlten, gab es auch seinerzeit von Kasachstan bis Kanada – und im ursprünglichen Siedlungsgebiet von Dänemark bis nach Italien. Weshalb – verstehen wir die Aufforderung des Grundgesetzes so, wie sie gemeint sein muss – auch diese Deutschen aufgefordert blieben, die Einheit in Freiheit zu vollenden.
Artikel 116 definiert den deutschen Staatsbürger
Sich dieser Problematik bewusst, schrieben die Autoren deshalb den Artikel 116 in ihr Gesetzespaket. Hier nun wird gezielt auf eine „deutsche Staatsangehörigkeit“ verwiesen. Da es zu jenem Zeitpunkt keinen deutschen Staat gab – schließlich sollte dieser gerade erst neu gegründet werden – kann damit nur die Reichsbürgerschaft gemeint gewesen sein. Deutscher war demnach, wer bis 1945 als Reichsbürger anerkannt war. Womit – nach Beitritt Österreichs und staatlicher Eingliederung beispielsweise des Sudetenlandes und des Elsass – auch deren Bewohner hätten Deutsche sein müssen – nicht aber jene Südtiroler, die Hitler unter Vernachlässigung seiner Ideologie aus opportunistischen Erwägungen vorerst dem italienischen Verbündeten zugebilligt hatte.
Artikel 116 lässt es dabei jedoch nicht bewenden. Flüchtlinge und Vertriebene mit dieser vermaledeiten „deutschen Volkszugehörigkeit“ sowie deren Ehegatten und Nachkömmlinge galten ebenfalls als Deutsche, so sie „Aufnahme in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937“ gefunden hatten. Damit war auch ein Bewohner Ostpreußens oder der von den Siegermächten an Polen übergebenen Gebiete Deutsche, soweit sie mindestens deutsche Vorfahren nachweisen konnten. Was hingegen hätte bedeuten müssen, dass Deutschkasachen keine Deutschen im Sinne des Grundgesetzes sind. Denn obwohl Vertriebene durch Stalin hatten sie sich zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht in besagten Territorium befunden.
Deutsch-Amerikaner, Deutsch-Kanadier, Deutsch-Chilenen, Deutsch-Australier und alle anderen Deutschstämmigen bis hin zu den Donauschwaben, die im Zuge der deutschen Migrationsbewegungen andernorts ein neues Heim gefunden hatten, waren schon 1949 im Sinne des Grundgesetzes keine Deutschen.
Die Unlogik der Ausbürgerung
Als Selbstverständlichkeit hingegen – und hier wird die innere Unlogik abschließend deutlich – wurde scheinbar festgeschrieben, dass jene deutschen Staatsangehörigen, denen unter der NS-Herrschaft ihre Staatbürgerschaft aus „politischen, rassischen oder religiösen Gründen““ aberkannt worden war, nicht als ausgebürgert galten, wenn – und das ist besonders zu beachten – „sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zu Ausdruck gebracht haben“.
Das, was hier scheinbar vernünftig klingt, entpuppt sich bei näherem Hinschauen durchaus als Fortsetzung der kollektivistischen Rassepolitik der nationalen Sozialisten. Denn durch das „haben“ wird ein abgeschlossener Vorgang beschrieben. Was bedeutet: Deutsche jüdischen Glaubens, um die es hier maßgeblich ging, hatten laut Grundgesetz keine Chance auf eine Aufhebung der Ausbürgerung, wenn sie bis zum Zeitpunkt der Staatsgründung BRD nicht auf dem beschriebenen Territorium ihren Wohnsitz hatten. Jene jüdischen Staatsbürger, die den kollektivistischen Irrsinn überlebt hatten und in die USA oder nach Israel gegangen waren, blieben im Sinne des Artikels 116 ausgebürgert.
Die Deutschen sollen ihren Staat erst schaffen
Die eigentliche Crux des Grundgesetzes jedoch lag in jenem abschließenden Artikel 146. Dieser basierte auf dem ausdrücklich festgeschriebenen, provisorischen Charakter dieses Gesetzeswerks. Das Grundgesetz sollte eine Übergangslösung sein, bis „die Deutschen“ wieder über einen gemeinsamen Staat mit entsprechender staatlicher Souveränität verfügten. Was insofern Sinn macht, als dem Grundgesetz keinerlei demokratischer Schaffensakt zugrunde lag.
Ein Zeitpunkt, dieses Grundgesetz durch eine Verfassung abzulösen, wäre insofern der Beitritt der Länder der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik gewesen. Es sei denn, die Politiker gingen davon aus, dass mit diesem Beitritt die verpflichtende deutsche Einheit eben noch nicht vollendet worden ist. In einem solchen Falle – beispielsweise in Erwartung eines irgendwann erfolgenden Beitritts Österreichs, Westpolens oder Elsaß-Lothringens – wäre auf den im Grundgesetz vorgeschriebenen, verfassungsgebenden Akt zu verzichten gewesen. Denn es wäre ja von einem noch langen Weg auszugehen, bis die deutsche Einheit in Freiheit nun endlich einmal vollendet wäre.
Kein Verfassungsgebung durch das Volk
Statt nun aber diese Problematik anzugehen und entweder klipp und klar gemäß der 2+4-Verträge durch eine vom Volk ausgehende Verfassungsgebung die deutsche Einheit mit dem Beitritt als erfolgt festzuschreiben, entmachteten die Politiker das Volk abschließend und schufen auf der Basis des Grundgesetzes von 1949 ein neues, welches vor allem in der Frage nach dem deutschen Volk deutlich vom ursprünglichen abweicht.
So wurde in der überarbeiteten Präambel allen sich ethnisch als Deutsche fühlenden Menschen weltweit ihr Deutschsein abgesprochen. Ob Deutschamerikaner, Deutschnamibier, Deutschaustralier – laut neuer Präambel sind sie sozusagen „ausgevolkt“.
Geht es nach jenen parlamentarischen Mehrheiten, die nach 1990 immer wieder am Grundgesetz herumgebastelt haben, dürfen sich all diese Deutschen nicht mehr als Deutsche bezeichnen. Denn in der Präambel steht nun: „Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“
Kaum vorstellbar aber, dass dieses Grundgesetz ernsthaft Anwendung finden kann auf einen Deutschstämmigen mit Wohnsitz in Canberra, Montevideo oder San Diego. Weshalb in der Logik des Gesetzestextes diese, da für sie das GG nicht gelten kann, nicht mehr Angehörige des Deutschen Volkes sein können.
Dieser offensichtliche Versuch einer systematischen Vernichtung eines Deutschen Volkes als ethnisch-historisch gewachsene Identität aus dem Herzen Europas wird auch an anderer Stelle des Grundgesetzes deutlich. Denn an dem Artikel 116, der die Staatsangehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland regelt, nicht aber die Frage einer ethnischen Identität als Deutscher betrachtet, wurde nichts verändert. Womit alles, was bereits hierzu dargelegt wurde, nach wie vor Gültigkeit hat.
Deshalb stehen wir nun vor einem Grundgesetz, welches in sich unlogisch ist, weil es in seiner geltenden Präambel immer noch Staatsangehörigkeit mit Volkszugehörigkeit verwechselt – was durchaus gewollt sein mag -, in Artikel 116 jedoch den „Deutschen im Sinne des Grundgesetzes“ deutlich anders definiert. Mit der neuen Präambel aber kann der Deutschschweizer, Deutschchilene, Deutschneuseeländer nicht einmal mehr Deutscher außerhalb des Sinnes des Grundgesetzes sein. Kurz: Mit der Umschreibung der Präambel haben jene Parlamentarier, die dafür verantwortlich sind, einen eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte vollzogen. Denn sie haben all jenen Weltbürgern, die sich als Deutsche oder als Deutschstämmige verstehen, diese ihre Identität gestohlen.
Offizielle Verfassungs-FakeNews
Noch dramatischer allerdings ist die Fortwirkung des Artikels 146, der ebenfalls fast unverändert im Grundgesetz steht. Wenn nun anlässlich der 70-Jahr-Feierlichkeiten allenthalben – ÖR-TV inklusive – die Behauptung aufgestellt wird, dieses Grundgesetz sei „die beste Verfassung, die die Deutschen jemals gehabt haben“, so ist dieses schlicht und einfach als FakeNews zu bezeichnen. Denn nach wie vor steht im GG, dass es eines eben nicht ist: eine Verfassung. Es ist und bleibt ein Grundgesetz, welches an dem Tage seine Gültigkeit verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von „dem deutschen Volke [wie immer wir dieses nun angesichts der Widersprüche zwischen Präambel und Art 116 auch definieren mögen] in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.
Diese unsere Bundesrepublik, die sich neuerlich anmaßt, allen Deutschen, die nicht in ihrem Territorium wohnen und nicht über einen bundesdeutschen Pass verfügen, ihr Deutsch-sein abzusprechen, hat laut Grundgesetz immer noch keine Verfassung. Sie ist und bleibt ein Provisorium. Wenn nun allenthalben der Siebzigste des Grundgesetzes gefeiert wird, so wird dort ein Dauerprovisorium gefeiert: Das Gesetz eines staatsähnlichen Konstrukts, welches sich nicht traut, seine Souveränität dadurch zu beweisen, dass es sich in einem demokratischen Entscheidungsprozess selbst eine Verfassung gibt.
Das spricht nicht für unseren Staat; das spricht nicht für seine Bürger, die dieses unwidersprochen hinnehmen; das spricht nicht für unsere Politiker, die den Bürgern diesen Akt der Selbstbestimmung vorsätzlich verweigern.
Oder sollte die Ursache vielleicht darin zu finden sein, dass dieses 1949 geschaffene Provisorium, das durchaus über zahlreiche positive und sinnvolle Aspekte verfügt, es vermutlich ungewollt so eingerichtet hat, dass die Unterwanderung des freiheitlich-liberalen Staates durch die Nomenklatura der herrschenden Parteien jenen derart viele Privilegien bietet, dass sie eine vom Volk sich selbst gegebene Verfassung scheuen wie der Teufel das Weihwasser?
Eine Verfassungsdiskussion wäre nötiger denn je
Dabei wäre eine Verfassungsdiskussion heute nötiger denn je. Sie könnte vielleicht das heilen, was von linkskollektivistischen Kräften sei gut einem halben Jahrhundert durch permanenten Kulturkampf als Spaltpilz in die bundesdeutsche Gesellschaft getragen wurde. Denn sie könnte klären, wer deutscher Staatsbürger ist und wer sich zum deutschen Volke zählen darf, ohne deshalb Staatsbürger eines Verfassungsstaates Bundesrepublik Deutschland zu sein. Sie könnte klären, dass Migranten und Migrantenkinder selbstverständlich Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sein können, ohne sich deshalb als Volksdeutsche begreifen zu müssen und ohne dass deshalb der Staat der Deutschen zu einem Staat der Zuwanderer umgeschrieben werden muss. Sie könnte klären, ob die Deutschen im Sinne des Grundgesetzes tatsächlich ihre Identität zugunsten einer EU-europäischen aufgeben wollen – oder ob sie lieber als Europäer mit deutscher Identität gemeinsam mit den anderen Nationen Europas unter einem gemeinsamen Dach leben möchten. Sie könnte auch klären, ob das Konstrukt, ein Staatsoberhaupt durch den Beschluss geheim tagender Dreiergremien zu bestimmen, angemessen und zeitgemäß ist. Sie könnte klären, ob die engen Verwebungen zwischen klerikalen Amtsträgern und Staat tatsächlich gewünscht ist. Sie könnte nicht zuletzt klären, ob die Übernahme des Staates durch die Parteiennomenklatura tatsächlich im Sinne des Volkes ist, oder ob nicht über ein anderes Wahlrecht und die Zurückbesinnung auf eine eindeutige Gewaltenteilung die konglomerale Melange aus Staatsmacht, Bürokratie und Parteien aufgelöst gehört.
Da genau Letzteres aber die Karrieren jener Funktionärscliquen ohne bürgerliche Bodenhaftung beenden müsste, die derzeit in den Parteien den Ton angeben, wird es eine Verfassungsdiskussion nicht geben. Womit wir eben feststellen müssen: Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Verfassungsstaat.
Sie wird es voraussichtlich auch nie werden, denn wie sagte erst jüngst wieder ein guter Freund mit einschlägiger DDR-Erfahrung: „Systeme sind nicht aus sich selbst heraus reformierbar. Sie müssen zusammenbrechen, bevor sie Platz für neues machen.“