Tichys Einblick
Die Angst der Herrschenden vor dem Armageddon

Verschwörungstheorie und Verschwörungsmythos

Dieser postdemokratische deutsche Staat der dritten Dekade nach dem Beitritt der Länder der ehemaligen DDR zur BRD wandelt sich selbst zur verschwörungstheoretischen Republik.

Was ist der Unterschied zwischen einem Mythos und einer Theorie? Hat diese Frage eine Bedeutung, die über bloße Gehirnakrobatik hinaus geht? Hat sie vielleicht sogar eine politische Bedeutung, die für unser aller Leben von Bedeutung ist? Nähern wir uns dieser Frage behutsam – nähern wir uns ihr, indem wir sie zu verstehen suchen.

Der Mythos

Ein Mythos ist in seinem ursprünglichen Sinne nichts anderes als eine Erzählung. Das, was in neudeutscher Sprachvernebelung gern als „Narrativ“ umschrieben wird, ursprünglich allerdings auch für „Märchen“ steht. Der klassische Mythos ist daher nichts anderes als eine erzählerische Erfindung. Derartige Erzählungen können einen Kern dessen haben, was gemeinhin als Wahrheit bezeichnet wird – wobei auch dieser Begriff zumeist höchst unpräzise verwendet wird (in „Wahrheit – Religion – Wirklichkeit“, ISBN 978-3-943726-69-5, bin ich auf diese Problematik umfänglich eingegangen). Mythen können jedoch auch bar jeglichen Realitätsbezuges nichts anderes als mehr oder weniger hübsch erdachte Phantasievorstellungen wiedergeben.

Die Theorie

Eine Theorie beschreibt durch Denken gewonnenes Wissen. Wobei wir auch hier vorsichtig sein sollten: „Wissen“ impliziert nicht selten „Wahrheit“. Zumeist jedoch ist es nichts anderes als eine durch das denkende Individuum als „Wahrheit“ im Sinne von tatsächlichen, unwiderlegbaren Fakten angenommene Idee oder Vorstellung, die dennoch als Theorie niemals Wahrheit sein kann, solange sie des definitiven Beweises bedarf. Die Theorie ist eine Wahrheitsvermutung, deren Beweis aussteht. Ist dieser Beweis jedoch erbracht, handelt es sich bei der jeweiligen Erkenntnis nicht mehr um eine Theorie – denn nun wäre die Theorie Tatsache.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Deshalb wiederum wird der „Theorie“-Begriff von manchen Wahrheitsgegnern auch gelegentlich genutzt, um wissenschaftlichen Erkenntnissen ihren „Wahrheitsgehalt“ weiterhin abzusprechen. Deutlich wird dieses beispielsweise bei den Erkenntnissen zur Evolution, deren Wahrheitsgehalt kein wissenschaftlich-denkender Mensch ernsthaft in Abrede stellen kann, und die dennoch gern als „Evolutions-Theorie“ von ihren Gegnern im Sinne des Framing bewusst in die Fragwürdigkeit des Ungewissen verbracht wird. Weshalb ein ernsthafter Mensch auch nie von Evolutionstheorie, sondern von Evolution oder Evolutionserkenntnis sprechen wird.

Eine Theorie basiert auf Thesen oder Hypothesen. Diese beiden Begriffe nun sind, wenn überhaupt, schwer zu unterscheiden. Die These können wir am ehesten als Wahrheitsvermutung oder als Wahrheitsannahme betrachten, die möglicherweise in der Sache und der ihr innewohnenden Logik naheliegend, nicht jedoch bewiesen ist. Als solche unterscheidet sie sich von der Theorie in ihrer Substanz nicht, jedoch in der Menge: Eine These steht immer für sich allein, während eine Theorie aus zahllosen Thesen bestehen kann – niemals jedoch nur aus einer These, da eine These allein keine Theorie ausmacht. Die Hypothese wiederum ist gleichsam die Steigerung der These ins Ungewisse. Basiert die klassische These zumeist noch auf zumindest logischen, vielleicht auch wissenschaftlich begründbaren Annahmen, so verzichtet die Hypothese als – wörtlich übersetzt – „Unterstellung“ auf jeglichen Bezug zur Wirklichkeit. Sie ist insofern das Pendant zum Mythos in der Theorie dann, wenn diese den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt.

Eine Theorie, die von der bloßen Wahrheitsvermutung zur manifesten Wahrheitsannahme wird, bezeichnen wir gemeinhin als Ideologie: Ein Sammelsurium unbeweisbarer Vermutungen, deren Anhänger gleichwohl wider die intellektuelle und wissenschaftliche Vernunft diese nicht bewiesene Vermutung alternativlos als Wahrheit annehmen – wiederum, ohne diese Wahrheitsannahme in irgendeiner wissenschaftlich korrekten Weise als eben solche beweisen zu können.

Mythos und Theorie sind enge Verwandte

Wir sehen: Mythos und Theorie sind im Ergebnis enge Verwandte. Sie unterscheiden sich dadurch, dass der Mythos gänzlich auf jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verzichtet, während der Theorie, wenn sie sich nicht auf das Ergebnis von Hypothesen beschränkt, sondern in ihrer Thetik zumindest den Versuch unternimmt, sich der Wirklichkeit zu nähern, ein höherer Wahrscheinlichkeitsgrad des Tatsächlichen zugewiesen werden kann.

Aus der DDR nichts gelernt
Borchardt entlarvt sich in einem Interview: „Es gab Mauertote auf beiden Seiten“
Dieser graduelle Unterschied führt dazu, dass im Verständnis des unbedarften Menschen eine deutlich größere Unterscheidung zwischen Mythos und Theorie dominiert. Hier wird der Mythos uneingeschränkt in den Bereich des Sagen-haften gedacht; dabei bestenfalls – so der Mythos jene Erzählungen berührt, die landläufig als Religionen bezeichnet werden – als mythologischer Aspekt einer unbeweisbaren Wahrheitsvermutung angenommen wird. Der Theorie hingegen wird gemeinhin unterstellt, auf wissenschaftlichen, damit gefühlt auf Wahrheit beruhenden Erkenntnissen basierenden Tatsachen eine Realsituation der Gegenwart und selbst der Zukunft beschreiben zu können.

Auch wenn diese Unterstellung selbst wenig mit dem tatsächlichen Gehalt einer These zu tun hat, so dient diese ihrerseits lediglich theoretische Annahme vom hohen Grad der Wahrscheinlichkeit einer Theorie ihren Verfechtern gern als Instrument, ihre Theorie als Wahrheitsersatz anzudienen und zu vertreten. Gleichwohl bleibt festzuhalten: Die Theorie ist nichts anderes als eine mögliche Annahme dessen, was die Wahrheit sein könnte. Wäre die Wahrheitsidentität der sie füllenden Thesen bewiesen, so wäre sie keine Theorie mehr.

Die politische Bedeutung der Unterscheidung

Tatsächlich nun gewinnt diese geistige Akrobatik der Unterscheidung von Mythos und Theorie in der aktuellen Politik der Bundesrepublik Deutschland eine ungeahnte Bedeutung. Die Bedeutung ist derart relevant, dass nicht nur Politiker, sondern auch die zu Staatsmedien mutierten, öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sich an vorderster Front in die Unterscheidungsreihen eingliedern. Warum? Nun, man könnte als unbedarfter Betrachter den Eindruck bekommen, dass die Herrschenden von einer unbestimmten Angst bestimmt werden. Ein Eindruck, den wir als These in den Raum stellen, da wir ihn nicht beweisen können und er für sich allein noch nicht ausreicht, um bereits Theorie zu sein.

Worum geht es? Seit „der Staat“ – also jene, die als politische Führung über unser aller Geschick bestimmen – im Zuge der Corona-Panik in erheblichem Maße in die Grundrechte eingegriffen hat, mehrt sich der Widerstand gegen eben diese Eingriffe. Wie es das Recht eines jeden freien Bürgers ist, trafen und treffen sich einige jener, denen die Eingriffe zu weit gehen, zu Demonstrationen. Bei diesen wiederum waren auch Personen anzutreffen, die über un- und außergewöhnliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit verfügen. Dabei ist der jeweilige Grad der Wahrscheinlichkeit der jeweiligen Wahrnehmungen so vielfältig wie der Mensch selbst.

Verschwiegen
Regierungsbericht meldet Rekordausgaben für "Flüchtlings- und Integrationskosten" 2019
Neben jenen, die beispielsweise nicht akzeptieren wollten, dass sie nicht mehr ihre Zweitwohnung in einem anderen Bundesland ansteuern durften, oder denen die Eingriffe in ihre individuelle Lebensgestaltung grundsätzlich zu weit geht, finden sich auch Personen, deren Wahrheitsannahmen zumeist bestenfalls in den Bereich der Hypothese zu stellen sind. Manch einer unterstellt einem ungarischen Großkapitalisten, der sein Geld nicht zuletzt mit Insidergeschäften und gezielter Währungsmanipulation gemacht hatte, mit dem Corona-Virus den Griff zur Weltherrschaft vorzubereiten. Andere gehen davon aus, dass der ebenfalls zum Großkapitalisten gewordene Entwickler eines weithin genutzten Programms zum Betrieb von Computern die Chance nutzen wolle, um den Menschen per Zwangsimpfung Nanopartikel in den Körper zu spritzen, welcher ihrerseits das Individuum fernsteuern lassen.

Noch andere vertreten die Auffassung, dass ohnehin ständig über Strahlung ein permanenter, steuernder Angriff auf das Gehirn erfolge, welcher wiederum nur durch das Aufsetzen einer Kopfbedeckung aus Aluminium zu verhindern sei. Kurz: Neben jenen, die wir gemeinhin als normale, besorgte Bürger bezeichnen, finden sich auch jene wenigen ein, denen die breite Masse des Volkes gern den Titel „Spinner“ anheftet. Außerdem – was wiederum von den Herrschenden als besonders besorgniserregend wahrgenommen wurde – sollen sich auch sogenannte „Rechte“ im Sinne der politischen Gesäßgeographie nicht nur unter die Demonstranten gemischt haben, sondern sogar den Versuch unternehmen, diese in ihrem Sinne zu „instrumentalisieren“.

Die faschistische Sprache der Herrschaft

Tatsächlich fällt es der politischen Führung des Staates schwer, den von ihr unerwünschten Protest einzuordnen. So betonte Regierungssprecher Steffen Seibert zwar pflichtschuldig, weil andernfalls verfassungswidrig, dass selbstverständlich jeder Bürger das Recht habe, seinem Protest Laut und Gestalt zu geben – dennoch machte er am 11. Mai auch deutlich, wo für ihn – und damit für die Frau Bundeskanzler – das Erträgliche endet: „Wer abstruse Behauptungen; hasserfüllte Stereotype; Theorien, die entweder auf einen Sündenbock hinauslaufen oder auf eine Art Weltbösewicht, der alle Fäden in der Hand halten soll – wer das verbreitet, der will sein verschwörungstheoretisches Süppchen kochen, mit dem er offensichtlich bei anderen Gelegenheiten nicht so recht zum Zuge gekommen ist. Wer sowas verbreitet, der will unser Land spalten und die Menschen gegeneinander aufbringen.“

„Wir konnten es nicht wissen!“
Corona: Bedingungslos ahnungslos – die Geschichte eines politischen Totalversagens
Da war es nun spätestens in der Welt, dieses Wort von der „Verschwörungstheorie“, verbunden mit dem mittlerweile schon klassischen „Spalter“-Vorwurf, der immer dann in Erscheinung tritt, wenn jemand eine den politischen Führern missliebige Position vertritt. Der genau deshalb auch der Mottenkiste faschistischer Kampfbegriffe entstammt; anti-pluralistisch, damit wiederum antidemokratisch und in seiner Konsequenz verfassungswidrig ist, da er davon ausgeht, dass der Volkskörper eine meinungs-homogene Masse zu sein hat, die außer einer von oben (oder von sonstwo auch immer) verordneten Einheitsmeinung keine andere, etwa gar abweichende Auffassung dulden darf. Der eben auch einer vor allem deutschen Tradition zu entstammen scheint, die in der jüngeren Geschichte regelmäßig selbst behauptete „Abweichler“ als Sündenböcke missbrauchte; sie erst verbal zu vernichten suchte, dann selektierte und inhaftierte, am Ende vielleicht sogar eliminierte.

Abweichlertum von der Auffassung der Herrschenden ist für dieses Deutschland immer wieder eine üble Sünde gewesen, der es mit allen denkbaren Mitteln zu begegnen galt – und sei es, dass die Mächtigen selbst zu Verschwörungstheorien griffen, um abweichende Meinungen zu unterbinden. Merkel und ihr Kollegium der Nicht-Abweichler stehen insofern in manifester, deutscher Tradition – und es will bemerkenswert, wenn nicht sogar fehlinterpretierbar erscheinen, wenn ausgerechnet die Protagonistin der alternativlosen Einheitsmeinung im Zusammenhang mit den Einschränkungen der Bürgerrechte diesen Satz formuliert: „Denn dieses Virus ist und bleibt eine demokratische Zumutung.“

Unabhängig davon ist die hier dargelegte, regierungsamtliche Definition von Verschwörungstheorie durchaus auch in grundsätzlicher Hinsicht bemerkenswert. Zumindest dann, wenn wir sie nicht auf jene Personenkreise beschränken, die anlässlich einer Corona-Demonstration (neudeutsch auch: „Hygiene-Demo“) antreten. Wir werden darauf zurückkommen.

Die Verschwörungstheorie

Eine Verschwörungstheorie ist trotz des regierungsamtlichen Definitionsversuchs etwas, das nicht so ohne weiteres zu definieren ist. Gemeinhin wird darunter ein partiell auf Tatsachen basierendes Gedankenmodell verstanden, welches auf Grundlage gedanklich entwickelter Hypothesen bestimmte wahrgenommene, angenommene oder gedachte oder gefühlte Tatbestände erklären soll. Die „Verschwörung“ basiert dabei auf der Annahme, dass irgendwelche, für den normalen Menschen nicht fassbare Existenzen im Hintergrund gezielt auf das in der Theorie behauptete Ziel – zum Beispiel die Weltherrschaft – hinwirken.

Insoweit, als der Verschwörungstheorie zumeist Hypothesen als unbeweisbare Unterstellungen, oftmals auch Thesen, die zumindest einen Teilrealbezug aufweisen, zu Grunde liegen, sind eben diese Verschwörungsannahmen völlig korrekt als „Theorien“ zu bezeichnen. Nur am Rande soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass überaus erfolgreiche Geschäftszweige sehr gut von der Vermarktung von Verschwörungstheorien leben. Nein, nicht von den Esoteriker-Märkten ist hier die Rede, sondern von der Trivial-Literatur und der Film-Industrie. So definiert sich beispielsweise der anhaltende Erfolg der überaus erfolgreichen „James Bond – 007“-Reihe weitestgehend über dort zu Grunde gelegte, verschwörungstheoretische Vorstellungen mit partiellem Realbezug ebenso, wie dieses zahllose Katastrophen- und Nachzukunftsepen tun.

Die Queerfront der Verschwörungstheoretiker

Dennoch und weil die Herrschenden sich offensichtlich außerstande sehen, zwischen unpolitisch-esoterischen Verschwörungstheoretikern und Verschwörungstheoretikern aus den Kreisen der politisch „Rechten“ und der politisch „Linken“ sowie einfach nur besorgten Bürgern zu unterscheiden, schlug sich am 11. Mai der Sprecher des Bundeskanzleramts in die Bresche der pauschalen Diffamierung jeglicher Verschwörungstheoretiker – unmittelbar nach ihm startete folgerichtig der öffentlich-politmediale Versuch, den wissenschaftlichen Aspekt, der einer Theorie vorgeblich zuzuschreiben ist, von dem Verschwörungs-Wasauchimmer zu trennen.

Plötzlich tauchte im Sinne des Framing – der Besetzung von Begriffen und Diffamierung des Unerwünschten durch abwertende Begriffszuweisung – statt des Begriffs „Verschwörungstheorie“ der Begriff „Verschwörungsmythos“ auf. Wiederum angebliche Wissenschaftler, die sich der Erforschung eben solcher theoretischen Mythen oder mythischen Theorien hingeben und im Zuge ihrer Tätigkeit zumeist das Phänomen und dessen Entstehen erklären sollende Thesen entwickeln, unternahmen den Versuch, aus dem von der Wissenschaft als ernsthaft beanspruchten Begriff der Theorie die Verschwörungs-Überlegung auf die Ebene des Mythos herabzusetzen.

Der Verschwörungsmythos

Die eingeschworene Gemeinde jener, die in jeder Kritik auf die staatlich vorgegebene Politik eine Verschwörung rechtsextremer Personenkreise wittern, folgte dem Umetikettierungsansinnen gern und zumeist kritiklos. Jedoch nicht ohne jeden Verstolperer. So würfelten beispielsweise im Morgenmagazin der ARD Moderatoren und Reporter bei einem Bericht über das dort erkannte Verschwörungs-Unwesen die framenden Begriffe „Verschwörungsmythos“, „Verschwörungserzählung“ und „Verschwörungsideologie“ unkontrolliert durcheinander, dabei verkennend, dass bezieltes Framing im Sinne der Diffamierung von Begriffen nur dann erfolgreich ist, wenn ein bestimmter Zielbegriff einheitlich eingesetzt wird.

Macht ohne Volk
„Wohin treibt die Bundesrepublik?"
Doch halten wir der MoMa-Redaktion zugute, dass sie immerhin bemüht gewesen ist, den höchstamtlichen Ukas der zielgerichteten Herabwürdigung des zum Unwort erklärten Begriffs „Verschwörungstheorie“ im Sinne der allgemeingültigen, alternativlosen Einheitsmeinung zu erfüllen. Da wird es entschuldbar, dass das intellektuelle Niveau der Beteiligten noch nicht in der Lage ist, die manchmal nur graduellen Unterschiede zwischen Mythos, Erzählung und Ideologie artenrein voneinander zu trennen – Hauptsache, aus der positiv im Sinne scheinbarer Glaubwürdigkeit interpretierbaren Theorie wird etwas, dessen Glaubwürdigkeit allein schon durch den verwendeten Begriff über den Rand des Glaubwürdigen verschoben wird.

Eines zumindest hoffen die Framer so zu erreichen: Sobald aus der „Theorie“ ein „Mythos“ wird, verlässt die Verschwörung die Ebene des Realen und zieht sich zurück in die Transzendenz des Irrealen. Aus einem Etwas, dem scheinbar reale Feststellungen und Tatsachen zu Grunde liegen, wird nun etwas, dem es an jeglichem Realbezug mangelt. Der Theoretiker, der den geistigen Intellekt der Wissenschaftlichkeit in Anspruch zu nehmen meint, wird so zum Träumer; zu einem Phantasten am Rande er Zurechnungsfähigkeit – am besten gleich zu dem, was gemeinhin als „Spinner“ abqualifiziert wird.

„Spinner“ bedeutet unseriös – weshalb Seibert bei seiner verschwörungstheoretischen Definition dem angesprochenen Bürger neben der unausgesprochenen Empfehlung, sich von Spinnern und also von „Corona-Demonstrationen“ fernzuhalten, auch eine konkrete Handlungsempfehlung mit auf den Weg gab. Jeder könne sich aus vertrauenswürdigen Quellen informieren, meinte der Sprecher Merkels. Wobei nun wiederum das Problem im Raum steht, vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Denn auch diese Auswahl fällt umso schwerer, wenn beispielsweise einer von der ARD als „Faktenfinder“ gelobten Lobbyistentruppe per Oberstem Gericht auferlegt wird, auf politisch wertende Zusatzbeurteilungen zu Medienprodukten der Konkurrenz zu verzichten und sie bei Zuwiderhandlung mit hohen Geldstrafen, alternativ Haft zu belegen ist.

Um die Unterscheidung zwischen seriösen und unseriösen Quellen dennoch im Sinne der regierungsamtlichen Definition zu erleichtern, erfolgt das Erkennen des Seriösen aus Sicht der Regierenden notwendig darüber, dass das dort Verbreitete kritiklos in Übereinstimmung mit der alternativlosen Auffassung der Regierung steht, wohingegen das Erkennen des Unseriösen notwendig über die Kritik an eben dieser regierungsamtlichen Auffassung ermöglicht wird. Womit nun wiederum beispielsweise Medien, die über ein internes Behördenpapier berichten, welches nicht der Auffassung der politischen Leitung des Hauses folgt, notwendig unseriös sind. So einfach ist die Welt, wenn in faschistischer Manier jegliche Kritik an obrigkeitsstaatlichem Handeln zum spalterischen Angriff auf die meinungsidentische Einheit des Volksköpers wird.

Jahrtausende alte Verschwörungsmythen stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes

Wenden wir uns dennoch und abschließend noch einmal der in sich hübschen Definition der/s Verschwörungstheorie/mythos/erzählung/ideologie zu, die der Regierungssprecher in seiner Darlegung zum Besten gegeben hat. Demnach zeichnen sich Verschwörungstheorien, die „unser Land spalten und die Menschen gegeneinander aufbringen wollen“, durch „abstruse Behauptungen“, „hasserfüllte Stereotype“ und „Theorien, die entweder auf einen Sündenbock hinauslaufen oder auf eine Art Weltbösewicht, der alle Fäden in der Hand hält,“ aus.

Nun, wir dürfen in dialektischer Logik davon ausgehen, dass im Sinne der seibertschen Definition auch Theorien, die auf eine Art Weltgutwicht, der alle Fäden in der Hand hält, hinauslaufen, in die Rubrik der Verschwörungstheorie fallen. Denn „gut“ und „böse“ sind als kulturspezifisches Ergebnis einer auf den jeweiligen Beurteilungskriterien dieser Kultur beruhenden, ethischen Betrachtung keine deterministischen Konstanten, sondern Kulturvariable.

Prima Klima
Linke Ideologie geht vor Verfassung
Nicht nur, weil das so ist, wäre der Bundesregierung infolge der seibertschen Definition nun dringend anzuraten, jenen Artikel 140 des Grundgesetzes abzuschaffen. Denn dort werden jahrtausendealte Verschwörungstheorien unter den staatlichen Schutz gestellt, die „abstruse Behauptungen“ von irgendwelchen unerkennbaren Überwesen, phantastischen Heerscharen und unbeweisbaren Ewigkeitsparadiesen in den Raum stellen; die zumindest partiell durch „hasserfüllte Stereotype“ auffallen, wenn sie pauschal durch sie als solche behauptete „Ungläubige“ und Andersgläubige als Quelle allen Übels diffamieren und deren Vernichtung propagieren; die auf „einen Sündenbock hinauslaufen“, den sie in unterschiedlichen Varianten als „Satan“ bezeichnen; die von einem Weltgutwicht ausgehen, der alle Fäden in der Hand hält, und der gleichwohl auch schnell zum Weltbösewicht werden kann, wenn der jeweilige Betrachter selbst einer Verschwörungstheorie anhängt, die die Weltgutwichtfunktion des Besagten im Auftrage des konkurrierenden, eigenen Weltgutwichts grundsätzlich ablehnt.

Alle als monotheistisch und als Religion bezeichneten Welterklärungstheorien haben als Verschwörungstheorien begonnen; als unbeweisbare Erklärungsmodelle des scheinbar Unerklärlichen, deren existentielle Notwendigkeit sich aus der behaupteten Verschwörung gegen sie gerichteter, mehr oder weniger unfassbarer Kräfte ergibt. Bei sachlicher Betrachtung haben sie diesen verschwörungstheoretischen Ansatz auch niemals verlassen, stehen doch jene abstrusen Behauptungen, hasserfüllten Stereotypen und Sündenböcke wie Fäden-haltende Mächte bis heute in ihren schriftlichen Manifestationen und bilden daher auch heute noch das Fundament der jeweiligen Verschwörungstheorie – oder sollten wir vielleicht doch besser von Verschwörungsmythos sprechen, weil das dem behaupteten religiösen Ansatz des Übernatürlichen in der Sache dann doch deutlich näher kommt als der Versuch des wissenschaftlichen Anstrichs einer Theorie?

Wenn der Kampf gegen die Verschwörungstheorie selbst zur Verschwörungstheorie wird

Sei es drum: Die Kulturgeschichte der Menschheit ist eine ewige Geschichte der Verschwörungstheorien. Ein wenig Licht in das Geflecht der dunklen und hellen Mächte, die irgendwie und unerkennbar von irgendwo die Geschicke der Menschen lenken, kam erst mit der westeuropäischen Aufklärung, dem sapere aude eines Immanuel Kant, in die menschliche Kultur. Dieses sapere aude aber wird lästig, wenn es im „postfaktischen Zeitalter“ einer Angela Merkel deren antidemokratische Alternativlosigkeit entlarvt, welche sich auch in Sätzen des kaum versteckten Absolutismus findet wie diesem: „Ich bin sehr einverstanden, dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit arbeitet. Das heißt aber auch, dass mir als Bundeskanzlerin und der ganzen Bundesregierung schon wichtig ist, dass wir in grundsätzlichen Fragen übereinstimmen.“

L’Etat, c’est moi, sagte der Sonnenkönig. Ihr könnt machen, was ihr wollt, solange es das ist, was ich will, dass ihr es macht, sagt die Sonnenkanzlerin. Wer dem nicht folgt, wird zum Spalter, hinter dem irgendwelche bösen Mächte stehen, welche für den einer von Staats wegen verordneten Einheitsmeinung frönenden Volkskörper schädlich sind.

Kritik am Bundesverfassungsgericht
Deutschlands Abschied vom Verfassungspatriotismus
Was, wenn nicht selbst eine Verschwörungstheorie ist es, wenn unverschworene Kritiker mit Verschwörungsesoterikern in einen Topf geworden und letztere in Bausch und Bogen zu geistig verwirrten Abweichlern gestempelt, diese dann wiederum als unterwanderungs- und übernehmungswillige „Rechte“ zwangskategorisiert werden?

Worüber beschwert sich eine Frau, die nicht von der Macht lassen kann, wenn sie selbst die Kraft und die Macht der Vernunft in ein vergangenes Zeitalter verbannt und stattdessen den Weg antritt vorwärts zurück in die Epoche der gesellschaftsdominanten Verschwörungsmythen, in der, von der normativen Kraft des Faktischen befreit, über das Richtig und das Falsch nicht die wissenschaftliche Erkenntnis entscheidet, sondern die unbeweisbare Annahme des moralisch-ethischen Gut und Böse?

Dieser postdemokratische deutsche Staat der dritten Dekade nach dem Beitritt der Länder der ehemaligen DDR zur BRD wandelt sich selbst zur verschwörungstheoretischen Republik.

Er bedarf der ständigen Präsenz des unsichtbaren Schattens einer vor nunmehr 75 Jahren verstorbenen Person, um deren unsichtbaren Fäden und Bünden der Verschwörung alle Unbill der Gegenwart und des eigenen Versagens zuschreiben zu können.

Er definiert seine Zukunft über unbewiesene Theorien, die nicht selten selbst auf verschwörungstheoretischen Vorstellungen vom moralischen Gut und Böse statt auf dem Axiom der Vernunft der Unterscheidung des Wahren und des Unwahren basieren.

Er bedarf der Verschwörungstheorien nicht zuletzt auch deshalb, um seine eigenen Verschwörungstheorien als Nicht-solche erkennen zu lassen.

Es ist der totale Staat, der im Sinne des deutschen Denkers Carl Schmitt alle Weisheit, alle Erkenntnis, und damit all das, was er als Wahrheit behauptet, für sich beansprucht.

Es ist der totale Staat, der unweigerlich in die faschistische Diktatur führt, weil er jegliche Abweichung von der regierungsamtlich verordneten „Wahrheit“ als Spaltertum verurteilt, welches, weil es „die Menschen gegeneinander aufbringt“, letztlich der apokalyptische Bote eines drohenden Armageddon ist, den es mit allen, wirklich allen Mitteln zu vernichten gilt.

Es ist der totale Staat, der sich die Ideale der Demokratie und der pluralistischen Meinungsvielfalt und Gewaltenteilung nur noch als Negligé überwirft, um seinen faschistisch-totalitären Anspruch der allein glücklich machenden Einheitsmeinung zu camouflieren.

Anzeige
Die mobile Version verlassen