Sagt Ihnen, liebe Leser, der Begriff „Dybbøl“ etwas? Nein? Gut, machen wir es etwas leichter. Wie wäre es mit „Düppel“? Auch nicht?
Versuchen wir es doch einmal mit Königgrätz. Keine Idee? Kennen Sie vielleicht unter seinem gegenwärtigen Namen Hradec Králové? Naja, wohl eher nicht.
Aber dann doch Weißenburg, Wörth oder Spichern? Nun, wenn Sie zufällig in Berlin wohnen sollten, haben sie den einen oder anderen Begriff vermutlich schon einmal als Straßennamen wahrgenommen. Obgleich es immer wieder Versuche gibt, diese Namen aus dem Straßenbild zu entfernen.
Versuchen wir es doch einmal mit Gettysburg. Haben Sie bestimmt schon gehört. Dann wissen Sie selbstverständlich, dass dort die größte Schlacht des sogenannten Amerikanischen Bürgerkriegs stattgefunden hat. Rund 6.000 Männer ließen dort in drei Tagen ihr Leben auf dem Feld. Weitere 27.000 wurden verwundet – und damals, im Juli des Jahres 1863, endete eine Verwundung ebenfalls häufig tödlich.
Von Düppel nach Spichern
Vielleicht hat Gettysburg Sie auf die Spur gebracht. So steht beispielsweise Düppel ebenfalls für eine vernichtende Schlacht. Sie fand nur ein Dreivierteljahr nach Gettysburg statt. Aber nicht auf dem amerikanischen Kontinent, sondern vor unserer Haustür – kurz hinter Flensburg bei dem verträumten Sundstädtchen Sonderburg. Als diese fünfwöchige Schlacht um eine dänische Befestigungsanlage endete, standen rund 6.000 Mann auf den Verlustlisten. Darunter befanden sich allerdings 3.500 dänische Gefangene, von denen die meisten nach Kriegsende zurück in ihre Heimat ziehen konnten.
Ähnlich verhält es sich mit Königgrätz. Dort, beim Flecken Sadowa, fand 1866 ebenfalls eine Schlacht statt, die mehr noch als Düppel an die Ausmaße der Kämpfe in den zu diesem Zeitpunkt gerade mit Gewalt und unendlichem Leid wieder Vereinigten Staaten von Amerika erinnert. Rund 400.000 Soldaten standen sich bei Königgrätz gegenüber: Preußen und seine norddeutschen Verbündeten auf der einen Seite, Österreicher und Sachsen auf der anderen. Schauen wir auf die damaligen Bestrebungen zur deutschen Einheit, so könnten wir diesen Kampf als die größte und verlustreichste Schlacht eines deutschen Bürgerkriegs bezeichnen. Tatsächlich allerdings war es mehr eine Schlacht der politischen Führungen um die Führung im künftigen deutschen Bundesstaat. Die Zahlen der Toten auf beiden Seiten wurden mit 7.587 gezählt. Mehr als in Gettysburg. Hinzu kamen 14.522 Verwundete und 7.686 Vermisste – letztere fast ausschließlich auf Seiten der Österreicher.
Wörth ist eine ebenfalls im 17. Jahrhundert von Frankreich annektierte Nachbargemeinde von Weißenburg. Dort kam es am 6. August 1870 zum erneuten Zusammentreffen der sich feindlich gegenüber stehenden Europäer. Fast 19.000 Tote und Verwundete wurden am Ende gezählt – und rund 6.000 Franzosen, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren.
Gleichen Tages kam es bei Spichern an der saarländisch-lothringischen Grenze ebenfalls zu heftigen Kämpfen, wenn auch mit deutlich kleineren Armeen als in Weißenburg und Wörth. Dennoch ließen 850 Deutsche und 320 Franzosen ihr Leben. 5.660 Soldaten waren verwundet, 2.100 Franzosen in deutsche Gefangenschaft geraten.
Nehmen wir die drei Tage von Weißenburg, Wörth und Spichern als eine Abwehrschlacht gegen die einen Angriffskrieg führenden Franzosen, so waren die Zahlen der Opfer mit rund 16.000 auf deutscher und 11.000 auf französischer Seite dramatischer als in Gettysburg und eine der größten Schlachten des 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent.
Wie Identität entsteht
Warum erzähle ich das? Nun, wir können anhand der Erinnerung an diese Schlachten auf exzellente Weise lernen, wie die Identität eines Volkes vernichtet wurde.
Die Schlacht von Gettysburg ebenso wie die Schlachten von Bull Run/Manassas, Shiloh, Harpers Ferry, Vicksburg, Fredericksburg und wie sie alle heißen, sind fester Bestandteil der US-amerikanischen Identität. Sie stehen dafür, wie die nordamerikanischen Europäer sich zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenseitig abschlachteten, wie sie unter der Propagandaformel der Sklavenbefreiung um Unabhängigkeit, Traditionen und wirtschaftliche Interessen fochten. Sie stehen dafür, wie am Ende der besser industrialisierte Norden der progressiven Yankee-Staaten über die traditionsbewussten, in weiten Teilen noch agrar-feudalistisch geprägten Staaten im Süden obsiegte und mit der Zwangsangliederung der nach Selbstverwaltung strebenden Sezessionsstaaten an die Union die Grundlage für das mächtigste Land des 20. Jahrhunderts schuf.
Wenn heute ein Bürger Deutschlands an die großen Kriege und Schlachten des vorletzten Jahrhunderts denkt, dann fallen ihm bestenfalls die Schlachten auf dem nordamerikanischen Kontinent ein. Jene Kämpfe aber, die mit ihrer gemeinsamen Verteidigung am Ende das demokratische Deutsche Reich schufen, sind aus den Gehirnen fortgewaschen. Aus preußischer Sicht gehörte übrigens auch Königgrätz dazu – aus süddeutscher Sicht allerdings weniger. Deren Sympathien hatten 1866 noch eher auf der Seite der Österreicher gelegen.
Für die Dänen ist ihre Niederlage bei den Düppeler Schanzen bis heute wesentliches Element ihrer eigenen Identität. Dort steht ein Nationalmuseum, das heute, ohne damit Feindschaften zwischen Deutschen und Dänen zu befördern, die Dramatik der damaligen Ereignisse schildert. Düppel gehört wie selbstverständlich zum nationalen Bewusstsein jedes Dänen.
Die Amerikaner gedenken annähernd ständig ihrer Kämpfe und ihrer Opfer in dem, was sie irreführend als „Civil War“ bezeichnen. In Memorials, Spielfilmen, Gedenkveranstaltungen. Die Dänen haben dem Kampf um die Düppeler Schanzen ein bemerkenswertes Filmwerk unter dem Titel „1864“ gewidmet.
Auch die Briten, die nicht nur im 19. Jahrhundert zahllose Kriege führten, haben eine ausgeprägte Erinnerungskultur. Ob der Todesritt der leichten Brigade bei Balaklawa, ob die Niederlage bei Isandhlwana oder der Last Stand bei Rorke’s Drift, ob die Vernichtung der sich zurückziehenden Briten am Chaiber-Pass oder der Tod Charles Gordons in Khartum ebenso wie die anschließende Strafexpedition des Lord Kitchener – all das ist im britischen Bewusstsein präsent und prägt die Identität der Inseleuropäer.
Eine Wurzel deutscher Identität
Und bei den Deutschen? Nichts. Dabei war das nicht immer so. Als nach 1871 die „deutschen Stämme“ zwischen Sund und Zugspitze zusammenwuchsen, waren vor allem die gemeinsam geschlagenen Schlachten im Elsass ein wesentlicher Kitt der gemeinsamen Identität. In Berlin wurde bis 1873 die Siegessäule errichtet. Auf ihrer Spitze thront die Siegesgöttin Victoria – im Volksmund „Goldelse“ genannt. Ringe aus den vergoldeten Rohren erbeuteter Kanonen zieren die Säule. Im Bewusstsein ihrer deutschen Identität gedachten die Deutschen der Kämpfe um ihre Einheit – und gleichzeitig der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich. Und so basierte – wie in den anderen Nationen jener Zeit – die deutsche Identität wie selbstverständlich eben auch auf jenen kriegerischen Ereignissen, an denen Bayern neben Preußen und Hanseaten neben Württembergern ihr künftiges Reich verteidigt hatten.
Selbstverständlich auch: Wie die anderen Hochkulturen der Zeit forderten die Deutschen ihren Anteil an der Welt. Da der größte Teil derselben bereits von Briten, Franzosen, Amerikanern und Russen besetzt war, blieben nur einige verstreute Niederlassungen, die irgendwie von den frühen Kolonialmächten übersehen oder von denen als unbedeutend betrachtet worden waren.
Wie Identität vernichtet wird
Wer heute einen Blick in den Geschichtsunterricht oder die öffentliche Debatte wirft, der wird feststellen: Jener Kitt, der vor 150 Jahren eine deutsche Nationalidentität schuf, findet so gut wie nicht mehr statt. Jene drei Kriege, die die erste deutsche Demokratie erst werden ließen, sind bestenfalls Randnotizen. Bedeutungslos – nein, sogar verabscheuungswürdig, denn es waren ja Kriege! Die Jahre zwischen der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 und dem Kriegsausbruch 1914 werden reduziert auf ein angeblich „miefiges“ Kaiserreich – welches zu keinem Zeitpunkt „miefig“ gewesen, sondern für seine Zeit höchst modern und liberal war; auf einen gefühlt totalitären Gottkaiser im Stile des Sonnenkönigs – was dieser ebenfalls als verfassungsmäßiger Präsident der unter dem Namen „Deutsches Reich“ geschaffenen Föderation deutscher Länder zu keinem Zeitpunkt gewesen ist; auf jenen angeblich so bösen Kolonialismus, der die Völker ausbeutete und knechtete. Alles das, was vor 1914 deutsch war, wird gezielt verdrängt, negativ dargestellt – am besten verdammt.
Selbstverständlich – die Opfer von Kriegen sind immer zu beklagen. Aber sie prägen auch die Erinnerung eines Volkes und gemahnen es, Krieg nicht aus pseudoreligiösen Gründen zu verdammen, sondern aus gesundem Pragmatismus zu vermeiden.
Selbstverständlich – auch deutsche Kolonialtruppen waren nicht nur von Mitmenschlichkeit geprägt. Ob Boxer in China oder Herero-Aufstand in Deutsch-Südwest: Im nachhinein hätte man vielleicht vieles anders und besser machen und statt zu töten den Ausgleich anstreben können. Aber die Zeit war nicht so, nirgendwo. Nicht in den französischen Kolonien, nicht in den englischen, nicht in den amerikanischen. Und auch das russische Kolonialreich ist nicht gewaltfrei entstanden. Auf der anderen Seite brachten die Europäer den Ländern rund um die Erde Modernität, Zivilisation und Medizin. Man mag sich trefflich darüber streiten, ob das alles sehr schlau war – so zerstörten sie damit auch das über Jahrtausende eingependelte, natürliche Gleichgewicht der Populationen der „Eingeborenen“ ohne dabei ihre zivilisatorischen Grundsätze des Rechts nachhaltig verankern zu können. Die aktuelle Völkerwanderung aus Afrika ist insofern letztlich hausgemacht. Im Schlechten wie im Gutgemeinten.
Identitätsvernichtung bis in die Gegenwart
Die Vernichtung der deutschen Identität macht mit dem Ende der ersten deutschen Demokratie nicht halt. Zwar haben wir eine rudimentäre Erinnerungskultur an jene gegenseitige Massenvernichtung der Europäer zwischen 1914 und 1918. Doch statt die Ursachen dieses Krieges sachgerecht zu benennen; statt den ökonomischen Niedergang der Weltführungsmacht England seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu bedenken; statt den Revanchismus Frankreichs und den Expansionismus Russlands zu berücksichtigen und die Konkurrenz zwischen den beiden in etwa gleichstarken, führenden Handelsnationen Deutschland und USA zu realisieren, reduzieren wir den Krieg regelmäßig auf Überfall und angeblich einseitige, deutsche Aggression – und auf voyeuristische Bilder von zerschmetterten Leibern und Landschaften.
Fast noch irrationaler ist der neudeutsche Umgang mit den Jahren zwischen 1933 und 1945. In Texten, Dokumentationen – in der „Erinnerungskultur“ – ist beständig nur von „Hitlerdeutschland“, „Nazireich“, „NS-Diktatur“ die Rede. Als 1945 die Deutsche Wehrmacht der Übermacht der Alliierten nicht mehr standhalten konnte, wurde Deutschland „befreit“!
Die Besatzer, die Sieger, die fast 1,2 Millionen deutsche Zivilisten und an die 5,2 Millionen deutsche Landser getötet hatten, waren 1945 keine Befreier. Sie waren die Sieger in einem Krieg, in dessen tatsächlichen Ablauf alle Seiten sich mit Unrecht überhäuft hatten. Es waren Sieger in einem selbstverantworteten Krieg, denen man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Zu „Befreiern“ wurden sie erst gemacht, weil es allemal besser war, sich als befreites Opfer denn als unterworfener Aggressor zu verstehen. Und sie wurden zumindest im Westen des vernichteten Deutschlands Befreier auch, weil sie über Marshallplan und Verzicht auf allzu drastische Entnazifizierung die Deutschen an die anglikanische Kultur der Yankees gewöhnten.
Die Verbrecher waren nicht „Nazis“ – es waren die Deutschen
Es waren eben nicht „die Nazis“, die Millionen Mitbürger ermordeten, nur weil diese Menschen Vorfahren jüdischen Glaubens hatten oder selbst dieser Religionsgemeinschaft angehörten. Es waren Deutsche, die diese Verbrechen begangen oder nicht verhinderten. Es war das deutsche Volk, weil es in seinem Namen geschah. Dazu zu stehen, auch wenn man als Nachgeborener keine persönliche Schuld daran trägt, ist Teil einer deutschen Identität. So zu tun, als habe das alles mit einem nichts zu tun, das alles seien nur die „teuflischen Faschisten“ gewesen, mag zwar eine wohlfeile Ausrede sein – doch sie zeugt von Feigheit, dem kindlichen Wunsch nach ewiger Unschuld und dem armseligen Versuch, sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen.
Gleiches gilt für die Tradition der deutschen Soldaten. Spätestens seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon zieht sich durch das deutsche Heer eine Linie der Tradition. Es war immer ein Heer des Volkes, aufgestellt in den Staaten des Bundes, gemeinsam gegen einen gemeinsamen Feind kämpfend. Auch wenn die Eidesformel 1934 pervertiert und auf die unmittelbare Unterstellung unter Hitler geleistet wurde, kämpften deutsche Soldaten selbst in der zweiten heißen Phase des 75-jährigen Krieges der Europäer nicht für den Diktator, sondern für ihre Familien und für ihr Vaterland. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass Wehrmachtsangehörige Kriegsverbrechen begangen haben – wie sehr der Krieg den Menschen ihre Menschlichkeit nehmen kann, ist nicht erst seit My Lai bekannt. Es ist ein ewiges Phänomen, dass in allen kriegführenden Armeen dieser Welt die niedersten Instinkte über den dünne Kruste der Zivilisation siegen können – und diese immer wieder obsiegen lässt.
Das, was unter Heldentaten verstanden wird, gehört deshalb ebenso zur Identität eines Volkes wie die Verbrechen, die in seinem Namen und durch Mitglieder seines Volkes begangen wurden. Beides prägt den Volkscharakter und kann, wenn es im Guten wie im Bösen objektiv im Bewusstsein verankert ist, dazu beitragen, die Wiederholung des Bösen zu vermeiden. Doch was jene, die sich gegen das Böse der eigenen Vergangenheit dadurch zu wehren suchen, indem sie die historische Identität negieren, übersehen: Wer die Komplexität seiner historischen Identität verleugnet, um den eigenen Bezug zum Negativen dieser Identität zu vernichten, der verleugnet zwangsläufig am Ende auch das Positive. Wer darüber hinaus das Negative seiner Identität zum eigentlichen Kerngehalt der dann nicht mehr eigenen Geschichte stilisiert, vernichtet seine Identität in Gänze.
Das deutsche Identitätsproblem
Genau dieses ist das Problem der Deutschen. Teils in der Scham vor der Ungeheuerlichkeit der in ihrem Namen begangenen Verbrechen; teils in der ersatzweise aufgezwungen Fremdidentität – wozu es eben auch gehört, über die Schlachten und Kämpfe in den USA mehr zu wissen als über die entsprechenden Vorgänge der eigenen Vergangenheit – haben „die Deutschen“ ihre Identität vernichtet. Sie haben das Positive ihrer Geschichte, die Größe, die sie sich durch die Leistungen des Geistes und der Tat über Jahrhunderte erworben haben, in ihrem Bewusstsein zerstört, indem sie sich ausschließlich auf die Wahrnehmung des Negativen konzentrierten.
Dabei sind die wirklich Großen der deutschen Geschichte – ob Goethe oder Kant, Beethoven oder Mahler, Luther oder Arndt, Humboldt oder Nachtigal, Koch oder Freud und selbst Einstein oder von Braun – eben nur vorstellbar in der Komplexität ihrer deutschen Identität mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Wer seine deutsche Identität verleugnet, der verleugnet am Ende auch jene, die in der Tradition dieser Identität Großes geschaffen haben.
Vom Bildersturm über Leitkultur zum leeren Karton
Wer, wie die Universität Greifswald, seinen Namensgeber verleugnet, weil diesem im Denken seiner Zeit auch „böse“ Gedanken unterstellt werden; wer das Andenken an Helmut Schmidt dadurch desavouiert, indem er ein Bild des Mannes in Wehrmachtsuniform, der nicht für Hitler, sondern für sein Land gekämpft hat, in der Führungsakademie der Bundeswehr abhängen lässt – wer solche Akte des Bildersturms begeht, der vernichtet bewusst die deutsche Identität. Er vernichtet in dem verzweifelten Versuch der Rosinenpickerei; mit der Illusion, sich ausschließlich des Guten bedienen zu können, das Gute selbst. Und das auch deshalb, weil das Gute in der Geschichte eben nur als solches erkannt werden kann, wenn ihm das Böse entgegensteht.
Selbst einem Bundesminister, der über Leitkultur sprechen möchte, sei ins Stammbuch geschrieben: Wer über eine deutsche Leitkultur sprechen möchte, der muss wissen, dass mit dieser Leitkultur das Bewusstsein dieser in glorreicher wie leidvoller Vergangenheit gewachsenen Identität untrennbar verknüpft und deutlich mehr ist als ein bloßes Lippenbekenntnis zu kulturellen und zivilisatorischen Werten, die doch ohne diese Identität nicht denkbar sind.
Dabei gäbe es in genau dieser Tradition deutscher Identität nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart so vieles, worauf ein Deutscher mit jedem Recht stolz sein kann. Es ist nicht nur die ungeahnte Dynamik, mit der die Deutschen ihr zerstörtes Land wirtschaftlich wieder derart an die Weltspitze brachten, dass nun selbst die Amerikaner sich laut darüber beklagen. Es ist vor allem die in der Welt einmalige Aufarbeitung auch der negativen Seiten der eigenen Identität; es ist die Bereitschaft, aus der eigenen Sünde zu lernen und daraus Schlüsse zu ziehen. Es ist das Bekenntnis, die Irrwege der Vergangenheit gemeinsam mit den Gegnern von Gestern zu überwinden, um aus der Identität der Völker gemeinsam etwas noch Größeres zu schaffen – was jedoch nur möglich sein wird, wenn die Völker in diesem Größeren ihre Identität nicht verlieren, solange nicht das Größere durch sein positives Wirken selbst eine Strahlkraft entwickelt, die Grundlage einer neuen, gemeinsamen Identität werden kann.
Es ist richtig: Deutschland braucht kaum etwas dringender als eine öffentliche Debatte darüber, was Deutsch-Sein bedeutet. Deutschland braucht ein Bekenntnis zur Leitkultur. Diese Debatte und das Bekenntnis gehen jedoch in Leere, wenn sie den Versuch unternehmen, die Breite der Bedeutung deutschen Tuns auszublenden. Sie kann nur dann sinnvoll geführt werden, wenn die einseitige Verteufelung der gemeinsamen Geschichte endet und an ihre Stelle die Bereitschaft tritt, Positives neben Negativen als untrennbar mit der deutschen Identität zu begreifen und zu erfahren. Geschieht dieses nicht, wird am Ende nur ein Karton verbleiben, auf dem vielleicht noch Deutschland steht – dessen Inhalt jedoch mit Deutschland und der Identität der Deutschen nichts mehr zu hat. Und da wäre es dann schlicht ehrlicher, auf diesen Karton genau das zu schreiben, was darin tatsächlich zu finden wäre: Nichts!