Tichys Einblick
Abgesang

Der Schulz-Komplex – wenn Sternchen verglühen

Der Vorsitzende der SPD hat ein Problem. Eigentlich hat er nicht nur ein Problem, sondern mindestens zwei. Oder noch mehr. Oder vielleicht doch nur eins. Aber ein ganz großes.

© John MacDougall/AFP/Getty Images

Die Verhandlungen zwischen CDU, SPD und CSU sind in der Schlussrunde. Und der Vorsitzende der SPD hat ein Problem. Wobei – eigentlich hat er nicht nur ein Problem. Er hat mindestens zwei. Oder noch mehr. Oder vielleicht doch nur eines. Aber das ist ein ganz großes.

Das Kanzlerkandidaten-Dilemma

Noch vor einem Jahr feierte seine SPD den Heimkehrer aus den Gefilden der Europäischen Union wie einen Messias. Heute wirkt jene Zeit zu Beginn des Jahres 2017 wie aus einer anderen Welt.

Kamelle, Kamelle, Kamelle
Angela Merkel und ihre GroKo: Deutschlands teuerste Kanzlerin
Erinnern wir uns: Die SPD stand damals vor der Situation, sich entscheiden zu müssen, wohin ihre Reise in der zunehmend schrumpfenden, großen Koalition gehen werde. Traditionell schickte die SPD als zweitgrößte Partei der Republik mit klarem Regierungsanspruch einen ihrer Spitzenleute als sogenannten Kanzlerkandidaten ins Rennen. Dass dieses in seinem Kern bereits ein Verfassungsverstoß ist, spielt seit eh weder für die Sozialdemokraten noch für die Union eine Rolle. Denn – um dieses noch einmal in Erinnerung zu rufen: Das Grundgesetz der Bundesrepublik sieht einen „Kanzlerkandidaten“ nicht vor. Das Volk wählt Abgeordnete, die anschließend, ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich, zur Wahl des Regierungschefs antreten. Mit der Präsentation eines Kanzlerkandidaten allerdings wird diese freie Entscheidung der gewählten Volksvertreter maßgeblich präjudiziert. Denn würden diese es nach der Wahl wagen, sich für jemand anderen als den von ihrer Partei Präsentierten zu entscheiden, müssten sie Parteiaussagen abschließend zur Fake-Veranstaltung verkommen lassen.

Da nun aber die Unsitte der Kanzlerkandidaten-Präsentation in der Parteienrepublik Deutschland zum Normalfall geworden ist, hätte die SPD, so sie darauf verzichtete, jeglichem Regierungsanspruch symbolisch eine Absage erteilt. Wie wollte die Partei trotz der demoskopischen Unmöglichkeit, den Regierungschef zu stellen, dann aber noch ernst genommen werden?

Sigmar Gabriel, zu diesem Zeitpunkt SPD-Chef ohne öffentlichkeitswirksame Fortune, fand eine für ihn perfekte Lösung. Bereits 2016 war er entschlossen gewesen, sich nicht länger zum Punchingball einer dahin siechenden SPD machen zu lassen. Doch als SPD-Vorsitzender stand er trotz exorbitant hoher Unbeliebtheitsgrade in der Pflicht, den Opfergang für seine Partei zu gehen.

Gabriel, der Vizekanzler als Kanzlerkandidat der SPD? Das Ergebnis war absehbar – und es hätte das politische Ende des Lehrers aus Goslar bedeutet. Das erwartbare, schlechte Abschneiden seiner Partei wäre ihm auf die Schultern gelegt worden – Gabriel hätte nicht nur den Parteivorsitz niederlegen, sondern auch aus jeder denkbaren Regierungsbildung ausscheiden müssen. Doch wie kaum ein anderer hat Gabriel die Mechanismen der deutschen Politik verinnerlicht. Und so schickte er als erstes seinen langjährigen Weggefährten Frank-Walter Steinmeier in den wohlverdienten Vorruhestand, indem er ihn mit Unterstützung der beiden Parteichefs der Koalitionspartner im Handstreich zum Bundespräsidenten machte.

Die Beliebtheit des Außenministers

Aus irgendwelchen, vermutlich tiefenpsychologischen Gründen gibt es in der Bundesrepublik zwei öffentliche Ämter, die fast schon automatisch mit einem hohen öffentlichen Ansehen verknüpft sind. Das eine dieser Ämter ist jenes Besagte des Bundespräsidenten. Als eine Art Ersatzkaiser muss man schon über die politische Unfähigkeit eine Christian Wulf verfügen, um diesen Amtsbonus zu verspielen. Steinmeier war fähiger. Das hatte er bereits früher bewiesen – und insofern gab das neue Amt seiner gefühlten Seriosität einen weiteren Boost zum Schweben über den politischen Wassern der Spree.

IM BANN DES WÄHRUNGSKRIEGS
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Das andere Amt ist das des Bundesaußenministers. Lediglich der sprunghaft wirkende Guido Westerwelle vermochte daraus keinen Bonus zu ziehen. Doch abgesehen von dieser Ausnahme konnten sich die deutschen Außenminister immer in der Sonne des bürgerlichen Wohlwollens sonnen – so griff sich Gabriel nun dieses Amt. Und siehe da – nur ein Jahr später ist aus dem Aschenputtel der Beliebtheit eine strahlende Prinzessin geworden. Heute, zu Beginn des Jahres 2018, steht der einst so unbeliebte Gabriel ganz oben in der Beliebtheitsskala des Volkes.
Ein Stern, der seinen Namen trägt …

Um dieses zu erreichen, musste Gabriel jedoch sicherstellen, seinen erwarteten Außenamtsbonus nicht durch eine hoffnungslose Kanzlerkandidatur zerstören zu lassen. Da nun kam der Buchhändler aus Würselen wie ein Göttergeschenk. Martin Schulz, selbsternannter Mister Europa, zum Helden geworden durch seine Replik auf den „Capo“-Vergleich eines irrlichternden, italienischen Spitzenpolitikers, lebte in der Hybris, einer der bedeutendsten Politiker des Planeten zu sein. Leider aber hatte es bei seinem Versuch, Chef der Europäischen Kommission zu werden, für seine eurosozialistische Internationale nicht gereicht – Kumpel Jean-Claude Juncker aus dem Steuerparadies Luxemburg hatte die Nase vorn gehabt und Martin durfte noch ein wenig den Parlamentspräsidenten geben. Doch da war Abschied angesagt – und Schulz wollte noch nicht auf das politische Altenteil. Als selbsterkannte politische Wunderwaffe schien ihm jedes Amt gerade angemessen.

Gabriel hatte den Selbstdarsteller auf der Straßburger Bühne immer fest im Blick. So tat er das Einzige, was ihm selbst noch den Verbleib im Politischen ermöglichen konnte: Er präsentierte im Alleingang den EU-Mann als Kanzlerkandidaten seiner SPD und legte ihm das ungeliebte Amt des SPD-Dompteurs als Morgengabe obendrauf.

Gabriel war seine Malus-Faktoren los und konnte sich darauf konzentrieren, den AA-Bonus einzusammeln. Schulz wiederum sah sich als der kommende Mann der SPD – die nach Erlösung lechzende Parteibasis erkannte in ihm den Messias und wählte ihn vor lauter Begeisterung zum Mister Hundertprozent an die Parteispitze. Nun wiederum Kanzlerkandidatenjob inklusive.

Leider nur war das Volk schlauer als Schulz und seine SPD. Statt den parteiinternen Schub nutzen zu können, wurde seine Partei in drei Landtagswahlen abgewählt. Besonders schmerzend: Der fulminante Absturz einer früheren Hoffnungsträgerin namens Hannelore Kraft in des Schulzens Landesverband Nordrhein-Westfalen. Er machte den Stern aus dem Schulz-Universum zum Kometen, der am politischen Himmel der deutschen Republik zu verglühen begann.

Ab dafür und Wunden lecken

Die Bundestagswahl brachte das absehbare Resultat. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat wurde mit nur noch knapp 20 Prozent Zustimmung zum Kanzlerkandidaten-Hanswurst. So startete er in Panik seine private Aktion des „Rette sich, wer kann!“

Den politischen Tod vor Augen arbeitete er ab sofort am Selbstmord. Selbstverständlich: Als Schulz noch am Wahlabend für seine Partei verkündete, ohne Wenn und Aber in die Opposition zu gehen, tat er das einzig Richtige. Seine SPD war aus der Regierungsverantwortung abgewählt worden. Daran gab es nichts zu deuteln. Und sie wollte in die Opposition, um sich von den in der Regierungswurstelei geschlagenen Wunden zu erholen.

Damit schienen nun die Weichen unweigerlich gestellt. Weshalb Schulz nun auch noch seine unmissverständliche Wahlkampfankündigung wiederholen konnte, niemals als Minister in ein Merkel-geführtes Kabinett einzusteigen.

Kein Reggae im Spreebogen

Also alles gut? Mitnichten. Denn die Verhandlungen zwischen Union, regierungswilligen Grünen und wankelmütigen Liberalen scheiterten an der FDP und ihrem ständig überdreht wirkenden Chef Christian Lindner. So stand nun plötzlich die Oppositionspartei SPD nur noch im Hemd da. Da war es hilfreich, dass die amtierenden SPD-Minister des Schulzens Regierungsausstieg nie so wirklich ernst genommen hatten. Denn hätten sie dieses, so hätten sie unmittelbar nach der Ausstiegserklärung ihre Regierungsämter durch Rücktritt zur Verfügung stellen müssen. Ein Problem wäre das nicht geworden – üblicherweise hätten dann die amtierenden Unionsminister die nun führungslosen Ministerien geschäftsführend unter ihre Fittiche genommen.

Alles vermischt in der prallen Pelle
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Doch die SPD-Minister waren pfiffig gewesen – und hatten klammheimlich darauf gesetzt, dass es mit Jamaikas bekifften Reggae-Rhythmen an den kühlen Gestaden der Spree am Ende doch nichts werde. Sollte eine neue Mehrheit entstehen – nun, dann würde man sich eben abwählen lassen. Bis dahin – abwarten. Also straften sie ihren Parteichef Lügen und blieben erst einmal geschäftsführend im Amt. Der Bundes-Frankwalter gab ihnen den entsprechenden Auftrag – und lauerte auf die nächste Chance. Kaum war diese Dank Lindner-Ausstieg in Griffweite, schlug Steinmeier zu. Europas wichtigstes Land ohne mehrheitsfähige Regierung? Undenkbar. So lange neuwählen, bis es irgendwie klappt? Unsinnig und den Wähler, vor allem aber den Parteien nicht zumutbar.

Und da war ja noch die SPD. Also begann nun die Aktion Schulz-Weichkneten. Der Bundespräsident appellierte an die staatspolitische Verantwortung der Sozialdemokratie, sein Hannoveraner Freund Gabriel stichelte hier und da und kratzte weiter am Star-Image des Heimkehrers. Andrea Nahles, einst Verräterin an ihrem Chef Franz Müntefering, hatte sich längst an Gabriels Seite gestellt und sich schon einmal das Amt des Fraktionsvorsitzenden im neuen Bundestag gesichert. Schulz war damit vorerst einen gesichtswahrender Fluchtweg versperrt. Doch der wurde nun nötig.

Sternenflackern am Sondierungshimmel

Schulz blieb nichts anderes übrig, als in die Sondierungsgespräche mit den Unionsparteien zu gehen. Und damit nun zum ersten Mal wortbrüchig zu werden. Denn das kategorische „Wir gehen in die Opposition“ entpuppte sich als Falschaussage. Seine Parteibasis nahm ihm dieses vermutlich noch übler als die Bürgermehrheit, die sich ohnehin daran gewöhnt hat, Politikerworte nicht zu ernst zu nehmen.

So sind wir nun bei des Schulzens zweitem Problem. Das heißt: Kein Regierungsamt unter Merkel. Denn diese Zusage hatte er unanzweifelbar und voll innerster Überzeugung gemacht.

Meinungsmache
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Würde Schulz nun auch seine zweite, unmissverständliche Aussage der Lüge strafen? Denn eines ist klar: Geht Schulz nicht in eine mögliche Merkel-Regierung, wird er sich als regierungsinterne, außerparlamentarische Opposition zu einem von ihm verhandelten Regierungsprogramm der Lächerlichkeit preisgeben. Die Schwergewichte der Partei werden dann weiterhin Gabriel und Nahles sein – flankiert von jenem saarländischen Demagogen, der bereits in der vergangenen Legislaturperiode die Gewaltenteilung abgeschafft hatte. Nicht-Regierungs-Schulz ohne Fraktionsvorsitz als Kanzlerkandidat in Wartestellung? Nicht vorstellbar. Die Schau werden ihm andere stehlen – und bis es zu Neuwahlen kommt, sei es in zwei Jahren beim Merkel-Rückzug oder erst in vier Jahren regulär: Schulz wird längst ersetzt sein durch ein anderes Gesicht, dem nicht das Stigma des wortbrüchigen Verlierers anhaftet. Bereits in Stellung gebracht hat sich dafür Nahles – doch auch über die könnten die Zeitläufe noch erbarmungslos hinwegziehen.

All das bedeutet: Will Schulz politisch irgendwie überleben, dann muss er in die Merkel-Regierung. Doppeltes Umfaller-Image inklusive. Und das Problem, Gabriel aus dem Chefsessel im Auswärtigen Amt schubsen zu müssen, was jenem nicht gefallen wird. Bliebe noch ein neues Europa-Ministerium – sozusagen ein Schulz-Trostpreis. Im Erfinden neuer, bedeutsamer Posten zwecks Unterbringung ver/ausgedienter Parteisoldaten hat die SPD lange Erfahrung. Ob das allerdings funktionieren würde, wenn Deutschland künftig mit Two-and-a-half-Außenministern arbeitet (Merkel als Oberboss, Gabriel als Co-Chef, Schulz als außenpolitisch EU-innenministeriell Zuständiger) – vermutlich eher nicht. Und die medienwirksame Strahlkraft eines Macron wird der verglühende Komet ohnehin niemals erreichen. Welches Ressort aber sonst sollte sich der Aachener abgreifen, ohne es als unter seiner Würde stehend zu begreifen?

Wenn das Schwanzhaar mit dem Hund wedelt …

Vielleicht aber auch kommt es gar nicht so weit. Denn Schulz hat noch ein drittes Problem. Es heißt Mitgliederabstimmung. Auch hierbei handelt es sich um ein verfassungswidriges Geschenk des Sigmar Gabriel, der nun außenamtlich zurückgelehnt im Hintergrund in sich hinein schmunzelt. Gabriel hatte einstmals, um sich aus der persönlichen Verantwortung zu ziehen, das ohnehin schon von den Parteiführungen gekaperte Recht auf Regierungsbildung an seine Parteibasis delegiert. Damals, bei der Merkel-Gabriel-GroKo, war das noch gut gegangen. Die durch nichts vom Bürger legitimierten SPD-Mitglieder hatten das schon damals ungeliebte Bündnis mehrheitlich abgenickt.

Nach dem Diesel jetzt auch Benziner unter Beschuss
Da es aber fast ein Ding der Unmöglichkeit ist, einmal verschenkte Privilegien wieder einzufangen – die sozialpolitischen Geschenkgeber wissen dieses, hätten aber auch wissen können, dass die daraus resultierende Dankbarkeit immer nur ein Strohfeuer ist – wird nun wieder die Basis das letzte Wort haben. Dort aber arbeitet seit einiger Zeit nicht nur ein eloquenter Juso-Chef an Opposition und eigener Karriere – auch erklärte GroKo-Gegner aus allen möglichen Lagern hatten die Chance erkannt, Wählerwillen zu konterkarieren, indem man kurzfristig in die SPD eintritt. In ihrer Not setzte die SPD-Führung noch eine Stichtagsregelung durch – doch da man Recht nicht rückwirkend erfinden kann, war der Mitgliederschub längst geschehen.

Sollte die von unten befeuerte Basis nun die mit viel Schaueffekt verhandelte Koalitionseinigung kippen, ist Schulz unmittelbar tot. Schluss, Aus, Fini mit dem politischen Überflieger. Nickt die Basis den Vertrag mit großen Bauchschmerzen ab, ist Schulz erst einmal nur halbtot.

Geht er nicht in die Regierung, wird die Partei demnächst einen neuen Vorsitzenden wählen. Nahles vielleicht – ätschi-bätschi, Herr Schulz.

Geht er in die Regierung, hat er den Krieg mit Gabriel. Denn der will noch nicht aufs Altenteil und hat Schulz nun bereits mehrmals erfolgreich vor die Öffnung des geladenen Kanonenrohrs geschoben. Gabriels Parteibrigaden werden deshalb weiter feuern und Schulz an seine Zusage als „Ehrenwort“ gemahnen. Wobei – Politik und Ehre – da war doch mal was in jenem kühlen Schleswig-Holstein, wo ja noch jemand lauert, dem es auf einen toten Mann aus Aachen nicht ankommt, solange nur er endlich selbst dort ankommt, wo er sich schon immer sah: Ganz weit oben.

Gewogen und für zu leicht befunden

Noch glüht der als Supernova kurz aufgeflackerte Stern ein wenig. Nun aber steht er als Komet kurz vor dem Eintritt in die Atmosphäre des politischen Berlin. Freuen wir uns auf ein paar Sternschnuppen, bevor es ans abschließende Verglühen geht.

Und um die Sache an dieser Stelle nun noch rund zu machen – der Leser ahnt es bereits: Eigentlich hat und hatte Schulz nur ein Problem. Das heißt Sigmar Gabriel. Denn der Pfiffikus aus dem Harzvorland hat kontinuierlich und überaus trickreich darauf hingearbeitet, dass der einzige, der ihm ernsthaft gefährlich werden konnte, heute dort steht, wo er steht. Schulz hat es in seiner naiven Selbstüberschätzung als europäischer Politiker von Welt nie begriffen, über welche Bande die sozialdemokratische Bande aus Niedersachsen spielt. Insofern ist das bevorstehende Endglühen dann auch durchaus verdient: Gewogen und für zu leicht befunden. In den Ränkespielen der Politik ist dieses zumeist tödlich.

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