Immer noch sind deutsche Soldaten im Kampf gegen den Islamischen Staat im türkischen Incirlik stationiert – auf einem Grundstück, das die Jungtürken im Zuge des Genozids gegen die Armenier entschädigungslos enteignet hatten. Wieder einmal untersagte der NATO-Partner Türkei bundesdeutschen Parlamentariern, ihre Soldaten in Incirlik zu besuchen.
Zu Besuch war derweil der türkische Präsidialdiktator Erdogan bei dem US-Präsidenten Donald Trump, um dort seine zahllosen Anliegen durchzusetzen. Während sich in Europa immer noch einige an die Hoffnung klammern, man könne die Türken irgendwie über Kuschelkurs und EU-Mitgliedschaft im NATO-Bündnis halten, laufen in den USA hinter den Kulissen längst Überlegungen, wie mit Erdogan zu verfahren, die Türkei als strategischer Partner zu ersetzen ist. Denn die Erkenntnis wächst: Mit dieser Türkei, die sich rasant in einen islamisch-autoritären Orientstaat wandelt, ist eine Zusammenarbeit auf vertrauensvoller Basis nicht mehr vorstellbar. Ganz im Gegenteil gibt es sogar Befürchtungen, der irrational auftretende Sultan könne die NATO-Soldaten als Geiseln nehmen oder sogar im Handstreich griechische Inseln besetzen – Angriffe auf NATO-Staaten, die nach den Statuten den kollektiven Verteidigungsfall auslösen müssten.
Der gordische Knoten
Gordios war der Sage nach ein Regionalherrscher in Kleinasien – dem Land, das nach dem Untergang der Hethiter erst persisch, dann griechisch, römisch und zur tatsächlichen Urheimat des Christentums als eigentlicher Ursprung der christlich geprägten, europäischen Kultur wurde. Dieser Gordios soll an seinem Streitwagen – militärische Hightech der späten Kupferzeit – einen unlösbaren Knoten gehabt haben, der dem Zeus geweiht und mit der Vorhersage verknüpft war, dass jener, der ihn lösen könne, Herrscher über ganz Asien – der heutigen Türkei – werde. Erst nach rund 500 Jahren kam mit dem Makedonen Alexander jemand in die nach ihrem Gründer benannte Stadt Gordion, dem dieses gelang – indem er sein Schwert zog und den unentknüpfbaren Knoten einfach zerschnitt.
Die Prophezeiung wurde wahr – Alexander und seine Armee junger, aggressiver Männer eroberten Zug um Zug die damals zur Hochkultur Persien gehörenden Städte und Gebiete. Ihr damaliges Vorgehen unterschied sich wenig vom Feldzug der Anhänger Mohammeds, die weitere 900 Jahre später aus den Wüsten Arabiens ansetzten, nicht nur das zwischenzeitlich wieder zur Weltmacht erstarkte Perserreich der Sassaniden zu vernichten – auch die christlich geprägten, griechisch-römischen Städte zwischen Atlantik und der damaligen Hauptstadt der christlichen Welt, dem byzantinischen Konstantinopel, fielen dem Sturm der ideologisch aufgeladenen, jungen Eroberer mit ihrer archaischen Tradition und einem erbarmungslosen Gott an ihrer Seite zum Opfer.
Der neue Knoten des Gordius
Vor einer ähnlichen Situation wie dereinst Alexander stehen heute die Staaten der europäischen Welt. Das bis 1453 abschließend zwangsislamisierte Kleinasien, heute in Anlehnung an die kleine Herrschaftselite jener islamischen Eroberer des 15. Jahrhunderts Türkei genannt, hat sich selbst und seine europäisch-amerikanischen Partner in einen scheinbar unlösbaren Knoten verwoben, gegen den der des Gordius wie jener am Ende dann doch schnell lösbare Kubik-Würfel erscheint. Die Partner von Noch und doch bald Einst stehen scheinbar hilflos davor – ein neuer Alexander ist weit und breit nicht in Sicht.
Die Komplexität dieses neuen Knotens in ihrem ganzen Umfang aufzuzeigen, würde einen Roman füllen. Und doch ist es unvermeidbar, einige der Kernelemente zusammenzufassen.
Putsch und Staatsstreich
Beginnen wir mit dem sogenannten Putsch, von dem zunehmend mehr Insider überzeugt sind, dass er letztlich nichts anderes war als eine Inszenierung des türkischen Geheimdienstes mit dem Ziel, das absehbare Scheitern Erdogans beim Versuch, die einstmals laizistische Türkei in einen islamisch-autoritären Staat zu wandeln, abzuwenden.
Der von Erdogan über den Ausnahmezustand herbeigeputschte Staatsstreich gab dem Diktator in spe die einmalige Chance, alle ihm missliebigen Kräfte in Verwaltung, Militär und aufgeklärtem Bürgertum final zu beseitigen. Nicht ohne Grund jubelte er, der „Putsch“ sei ein „Geschenk Allahs“ gewesen.
Die Verhaftungen sind nicht mehr zu zählen – der Verbleib der Opfer liegt weitgehend im Dunkeln. Weit über 100.000 Familien verloren mittlerweile durch Entfernung aus ihren Positionen ihre materielle Grundlage – einschließlich Renten- und Zukunftssicherung. Private Unternehmen wurden staatlich konfisziert – Erdogan braucht Geld, um seinen Staatsstreich finanzieren zu können, denn seine Handelsbilanz ist kläglich.
Eine Welt voller Terroristen
Um die Vernichtung der laizistisch gedachten Türkei des Kemal Atatürk zu vollenden, erklärt der paranoide Despot im Konzert mit seinen Lakaien wie dem Noch-Ministerpräsidenten Yildirim jeden zum „Terroristen“, der auch nur in den wagen Verdacht gerät, sich gegen Erdogan positionieren zu können. Erst waren es nur die Kurden der PKK, die nach ihrer bewiesenen Bereitschaft, mit der türkischen Regierung zu einer friedlichen und den Staat Türkei erhaltenden Lösung zu kommen, mittlerweile als Befreiungsbewegung begriffen werden müssen. Dann wurden die früheren Verbündeten gegen den Atatürk-Staat der vom mittlerweile in den USA lebenden „Prediger“ Fetullah Gülen gegründeten Bewegung ins Visier genommen. Unabhängig von persönlich nachweisbarer Schuld gilt der Türkei jeder als Terrorist, der vielleicht einmal eine der Schulen der Gülen-Bewegung besucht, von einer Gülen-Bank einen Kredit aufgenommen oder eine Spende zugunsten der seinerzeit noch vom türkischen Staat beförderten Sozialeinrichtungen der „Bildungsislamisten“ getätigt hat.
Freigeister, Medien und andere Kritiker fallen ebenfalls unter den Terrorismusvorwurf. Wer es irgendwann einmal gewagt haben sollte, sich für einen friedlichen Ausgleich mit der PKK auszusprechen, modert wie der Vorsitzende der HDP, Demirtas Selahatin, im osmanischen Verlies. Wer kurdische Texte übersetzte oder es gar riskierte, mit Vertretern der PKK zu sprechen, ebenso. Ebenfalls des Terrorismus und der „Volksverhetzung“ schuldig ist, wer den Massenmord an den Armeniern thematisiert.
Grundsätzlich unter Generalverdacht stehen schon immer die Führungskräfte des Militärs, so sie nicht gezielt von der AKP eingesetzt wurden. Erdogan nahm es in Kauf, die an Zahl zweitstärkste Landarmee der NATO zu enthaupten – und die Betroffenen, ihr Schicksal in den Kerkern der Staatsterroristen ahnend, nahmen, so sie sich außer Landes befanden, den Sturz in die Armut in Kauf und beantragten politisches Asyl in jenen Ländern, in denen sie als NATO-Offiziere stationiert waren.
Die Situation wird unerträglich
Allein diese Massenverfolgung auf staatlich behaupteten Verdacht schafft zwischen der Türkei und den Noch-Partnern eine unerträgliche Situation. Völlig zu Recht hat beispielsweise die Bundesrepublik den entsprechenden Asyl-Gesuchen der türkischen NATO-Offiziere stattgegeben. Höchste griechische Gerichte haben das Auslieferungsverlangen gegen geflohene türkische Soldaten nach einer pro-forma-Verurteilung wegen Luftraumverletzung mit einer für die Türkei vernichtenden Begründung zurückgewiesen. Die USA, die sich in ihrer Verfassung zu einer fast schon irrationalen Glaubensfreiheit bekennen, lehnten bereits unter Obama die Auslieferung Gülens ab – die türkische „Beweislage“ sei schlicht zu dünn gewesen.
Ohnehin – auch wenn es so scheinen will, als würden sich die tatsächlichen Hintergründe jenes angeblichen Putsches niemals klären lassen: Die NATO-Staaten wissen längst, was sich in jener „Putschnacht“ abgespielt hat. Denn die NATO verfügt über detaillierte Protokolle jeglicher Flugbewegung über türkischem Luftraum auch jener Nacht. Wer jedoch danach fragt, erfährt nur tiefstes Schweigen – allein das schon ein Beleg, dass Erdogans Erzählungen den Charakter der Märchen aus Tausendundeine Nacht haben. Denn könnte die NATO Erdogans Darstellungen stützen, hätte man diese Protokolle längst veröffentlichen und dem „Partner“ so den Rücken stärken können.
Invasionsszenarien gegen Partner
Dennoch präsentiert Erdogan seine Geschichten unverdrossen und unwidersprochen weiter. So, wie er einst davon ausging, dass der türkische EU-Beitritt ein Selbstgänger sei, weil der damalige US-Präsident diesen von den Europäern ultimativ eingefordert hatte, um das Land im westlichen Bündnis zu halten, so vertraut der Despot auch heute noch darauf, dass seine Diktatur vom Westen nicht nur toleriert, sondern weiter durchfinanziert wird. Doch seine Hybris beginnt, die Beziehungen überzustrapazieren.
Statt Kooperation setzt der Despot auf die Instrumente, mit denen er „seine“ Türkei unterworfen hat. Als Werkzeug göttlicher Fügung meint er, alles erreichen zu können – denn Allah will es, also wird es. Wo sich der Gegner nicht freiwillig diesem Willen unterwirft, greift Erdogan zur Gewalt. Und zur unverhohlenen, militärisch unterlegten Drohung.
So veröffentlichte das griechische Verteidigungsministerium am 16. Mai Berichte, wonach die türkische Luftwaffe am Vortag 141 (!) mal den griechischen Luftraum mit Hubschraubern und Kampfjets verletzt habe. Gleichzeitig drangen zwei türkische Kriegsschiffe in die griechischen Hoheitsgewässer um die Ägäisinsel Agathonisi ein. Für die Griechen handelt es sich bei diesen Manövern um den Probelauf einer Invasion –Erdogan selbst hatte bereits vor Monaten die griechischen Inseln vor den Küsten Phrygiens zu türkischem Staatsgebiet erklärt – und ausgerechnet der türkische EU-Minister Omer Celik bezeichnete nun im April gezielt jenes 20 Kilometer südlich von Samos gelegene Agathonisi als „türkische Insel“.
Nicht viel anders geht es dem NATO-Staat Bulgarien. Dessen Militärführung verfügt mittlerweile über konkrete Pläne der Landesverteidigung gegen die Türkei, falls Erdogan seine offen vorgetragenen Ansprüche auf die ehemals osmanischen Provinzen nicht mehr nur mit Worten, sondern mit Waffen einfordern sollte.
Die NATO, für die die Türkei bislang immer das südöstliche Bollwerk gegen Russland gewesen ist, zeigt sich orientierungslos. Sollte die Türkei tatsächlich eine Invasion gegen Griechenland oder Bulgarien beginnen – vor allem eine Übernahme der entmilitarisierten Ägäisinseln wäre im Handstreich zu realisieren – wäre der Verteidigungsfall gegeben. Die NATO müsste, bliebe sie konsequent, militärisch gegen den NATO-Staat Türkei vorgehen.
Deutschland bereitet Abzug und Krisenfall vor
Hinter den Kulissen werden solche Szenarien längst durchgespielt. Wenn derzeit nun auch durch die deutsche Politik der bis vor Kurzem vehement abgelehnte Abzug der deutschen Soldaten aus Incirlik propagandistisch vorbereitet wird, um im Ernstfall die Bevölkerung hinter sich zu haben, dann macht dieses mehr als deutlich: Die Bundesregierung – und mit ihr die europäische NATO-Führung – haben nach endlosem Zögern die Zeichen der Zeit erkannt und die Türkei verloren gegeben.
Flankiert wird der nicht mehr zu kittende Bruch durch die Psychospielchen, mit denen die Türkei versucht, vor allem Deutschland als EU-Führungsmacht unter Druck zu setzen. Erdogans Marionette Yildirim fordert offiziell eine Grundsatz-Entscheidung ein: Entweder, Deutschland ist für uns – oder gegen uns.
Bislang hatte die Bundesregierung immer noch versucht, mit Teilzugeständnissen die Türken zu befriedigen. Gegen die in Deutschland friedlich lebenden Anhänger der PKK wurden die geheimdienstlichen Aktivitäten im vergangenen Jahr deutlich verstärkt. Gezielt wurden Versuche unternommen, in gedachte Netzwerke einzudringen. Geheimdienstliche Methoden der Erkenntnisschöpfung gegen jene, denen PKK-Kontakte unterstellt werden, stehen schon lange auf der innenministeriellen Tagesordnung.
Doch die Türkei hat überzogen. Konnte die ständig wiederholte Drohung, die Tore der „Flüchtlinge“ zu fluten, angesichts der finanziellen Abhängigkeit der Türkei von europäischen Transferleistungen noch unter Propaganda abgebucht werden, geht es nunmehr ans Eingemachte. Bereits die auf deutschem Boden stattfindende Abstimmung über Erdogans Ermächtigungsgesetz stellte die Souveränität eines sich selbst als demokratisch bezeichnenden Staats dramatisch infrage. Sollte die Türkei darauf bestehen, über die Wiedereinführung des staatlich sanktionierten Mordes ebenfalls in Deutschland abstimmen zu lassen, wird sich die Bundesregierung nicht mehr mit Verweis auf Kommunalrecht aus der Affäre ziehen können. Deshalb hat sie bereits angekündigt, ein solches Referendum, in dem wieder einmal eine große Mehrheit für die antidemokratischen Pläne Erdogans zu erwarten wäre, zu unterbinden.
Die Geiselnahme deutscher Staatsbürger und türkisch-deutscher Doppelpassler durch die Sicherheitsorgane der Türkei strapaziert die deutsche Regierungsgeduld ebenso wie das wiederholte Besuchsverbot der Bundeswehr. Wobei letzteres tatsächlich eine Farce ist: Wollte die Bundesregierung den Besuch erzwingen, dann könnte sie dieses jederzeit tun. Kanzlermaschine als auch jedwedes NATO-Flugzeug könnten den Transfer der Abgeordneten übernehmen. Ersteres wird die Türkei nicht vom Himmel holen – und insbesondere US-Maschinen genießen überall auf NATO-Gebiet Überflugsrechte, ohne über ihren Inhalt Rechenschaft ablegen zu müssen. So stellt sich die Frage: Warum lässt sich Deutschland hier nun schon wiederholt vom Sultan vorführen? Kalkül, um den Abschied aus Incirlik gegenüber dem Volk begründen zu können? Einfach nur Feigheit vor dem feindlichen Verbündeten? Oder die Organisation einer Stimmungslage, die dem Volk selbst einen bewaffneten Konflikt mit der Türkei erklärbar machen soll, müssten tatsächlich die NATO-Partner Griechenland und Bulgarien gegen einen „irren Türken“ verteidigt oder als Geiseln festgesetzte NATO-Soldaten gewaltsam befreit werden müssen?
Dass es so weit kommen wird, ist derzeit noch nicht zwangsläufig. Doch überzogen hat die Türkei längst. Der ständige Vorwurf, „Terroristen“ zu unterstützen, der nun von Yildirim von den Kurden um die asylsuchenden Militärs ergänzt und vermutlich demnächst auf deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft erweitert werden wird, die von den steuerzahlerfinanzierten DITIB-Imamen als Gülenisten ausgespäht wurden, ist nichts anderes als ein totalitär-islamischer Generalangriff auf das Rechtssystem Europas. Knickt Deutschland ein und überstellt die angeblichen Putschisten an Erdogan, wäre das deutsche Rechtssystem abschließend am Ende. So langsam beginnt daher nun selbst die bislang dominante, pro-türkische Appeasementfront widerwillig ihren Einfluss zu verlieren.
Dabei ist es nicht nur Europa, das ansetzt, das Tischtuch zur Türkei zu zerschneiden. Auch in den USA reift die Erkenntnis, dass Erdogans Reich verloren ist. Und so geht es für die westliche Führungsmacht nicht nur darum, geostrategische Alternativen zu finden – der fragwürdige, noch engere Schulterschluss mit den Ibn Sa’ud ist bereits ein deutliches Zeichen – es muss auch sichergestellt werden, dass die enge Verzahnung der Türkei in der NATO derart unmerklich gelöst werden kann, dass ein möglicherweise zu Russland schwenkender Erdogan nicht allzuviel Schaden anrichten kann.
Kein US-Verrat an den Verbündeten
So endete der jüngste Besuch des Türken bei seinem US-Pendant für Erdogan im Desaster. Der ob seiner Unberechenbarkeit gern kritisierte US-Präsident, dem weltpolitische Zusammenhänge oftmals ein Buch mit sieben Siegeln zu sein scheinen, blieb offenbar der Linie seiner führenden Militärs im Konflikt mit dem Islamischen Staat treu. Keine Zugeständnisse der USA gegenüber Erdogans Verlangen, die Verbündeten der syrisch-kurdischen YPG zu verraten. An die gewünschte Überstellung des Fetullah Gülen war angesichts des US-Rechtssystems ohnehin nicht zu denken. Faktisch kehrt Erdogan aus Washington mit mehr als leeren Händen zurück.
Das wird den Muslimbruder aus Ankara kaum dazu bewegen, künftig rationaler vorzugehen. Doch wer nun meint, Trump vorwerfen zu müssen, er habe Erdogan in die Arme Putins getrieben, dokumentiert damit nur seine Ahnungslosigkeit. Die Alternative lautete schon lange: Aufgabe westlicher Grundsätze oder Verlust der Türkei.
Erdogan spielte seit geraumer Zeit auf mehr als nur einem Klavier. Doch jede Melodie hätte darauf hinauslaufen müssen, dass entweder Europa und die USA sich dem türkischen Willen in jeder Hinsicht unterwerfen – oder aber der Westen sich auf seine Werte und Traditionen besinnt und dem neuen Sultan seine Grenzen aufzeigt. Dieses auch auf die Gefahr hin, dass Erdogan den Anschluss an Russland sucht und dabei bestenfalls eine Zweckgemeinschaft von Putins Gnaden auf Zeit finden wird. Denn nicht nur, dass Putin einen Erdogan niemals als gleichwertigen Partner akzeptieren wird – die Russen haben mit der Türkei auch ein ganzes Archiv voller historischer Rechnungen offen, die bis in die islamische Zerstörung der christlichen Metropole Konstantinopel reichen, welches für die russische und die griechische Orthodoxie immer noch das eigentliche Rom ist.
Die kurdische Karte
So ist die befürchtete Invasion griechischer Inseln durch einen zwecks Ablenkung vom eigenen Versagen auf kurzfristige Erfolge angewiesenen Chefanatolier nicht nur in den griechischen Generalstäben als reale Möglichkeit erkannt. Auch in den strategischen Zirkeln der USA steht die Unberechenbarkeit des islamischen Sultans neuerlich auf der Tagesordnung. Sollte es nicht gelingen, Erdogan an die Kette zu legen und dieser seine irrationalen Träume eines osmanischen Großreichs mit militärischen Abenteuern umzusetzen suchen, könnten sich kurzfristig völlig neue Konstellationen ergeben. So könnte die derzeit noch offiziell als Terrororganisation gebannte PKK gegen eine in der Ägäis aggressive Türkei schnell zu einer innertürkischen Ostfront aufgerüstet werden. Auch die mittlerweile im Westen angekommenen, türkischen Ex-Militärs spielen bei den strategischen Überlegungen eine Rolle. Sie kennen die Militärstrukturen der Anatolier zu gut, als dass man im Ernstfall auf sie verzichten würde – in die NATO-Strukturen „embedded“ sind sie ohnehin. Und sie verfügen trotz Erdogan’scher Säuberung immer noch über in vielen Jahren gemeinsamer Tätigkeit gewachsene Kontakte in die türkischen Streitkräfte – beides die tatsächlichen Gründe, weshalb Erdogan ihrer um jeden Preis habhaft werden will und Deutschland einmal mehr als „Terrorhelfer“ beschimpfen lässt.
So spielt der türkislamische Diktatorpräsident derzeit nicht nur mit einem Streichholz im Pulvermagazin. Die ihn treibende Hybris der gottgewollten Aufgabe könnte am Ende das vollenden, was die westlichen Siegermächte bereits nach dem ersten Weltkrieg geplant hatten: Die Reduzierung des türkischen Staates auf Westanatolien bei Gründung eines unabhängigen Kurdenstaats im Osten. Was wiederum insbesondere für die USA ein absolut überzeugender Grund ist, das strategische Bündnis mit den syrischen Kurden nicht zu gefährden. Denn im Ernstfall könnte es geschehen, dass man in einem zum Flächenbrand werdenden Konflikt nicht mehr nur im Kampf gegen den syrisch-irakischen IS kampferprobte, regional erfahrene Hilfstruppen braucht. Und da Erdogan zumindest in einem fast Recht hat, ist Trumps Absage an den verlangten YPG-Verrat eben auch ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die USA alle Optionen offen halten: Zwar sind die syrischen Kurden nicht, wie von Erdogan behauptet, identisch mit der PKK. Doch schon bei der von Obama gegen den Willen Erdogans durchgesetzten, kurdischen Verteidigung der syrischen Grenzstadt Kobane war unverkennbar: Im Ernstfall werden die Kurden aus Rojava und die Kurden in der Türkei schnell an einem Strang ziehen können.
Am Durchschlagen des neuen Gordischen Knotens werden, falls unvermeidbar, insofern viele beteiligt sein müssen – und sie werden behutsam Stück um Stück in Stellung gebracht.