Mecklenburg-Vorpommern hat gewählt. Und die Wähler haben mit ihrer Entscheidung die Republik kräftig durcheinander geschüttelt. Vor allem aber haben sie gezeigt – ein „Weiter so“ wird nicht mehr funktionieren .
Doch schauen wir einmal genau hin, wie sich die Situation im nordöstlichsten Bundesland tatsächlich darstellt. Denn dort gibt es durchaus einige bemerkenswerte Entwicklungen.
SPD stabil auf niedrigem Niveau
Blicken wir zuerst auf die SPD. Die konnte in realen Zahlen ihre Zustimmung seit 2006 ungefähr halten. Die auf die Sozialdemokraten entfallenden Stimmen schwankten seitdem zwischen 242.000 und 247.000. Erwin Sellering, der seit 2008 Ministerpräsident des Landes ist und dem große Beliebtheit nebst Amtsbonus zugewiesen wurde, konnte davon nicht wirklich profitieren. Offensichtlich ist es ihm lediglich gelungen, den anhaltenden, bundesweiten Abwärtstrend seiner Partei aufzufangen.
Schauen wir nun auf die Jahre 1998 und 2002, dann ist die Entwicklung seit 2006 für die SPD erschreckend. 1998 konnten die Sozialdemokraten noch 371.885 Wähler an sich binden. 2002 waren es sogar 394.118 Wähler – und damit exakt 147.725 mehr als 2016. In Prozenten ausgedrückt hat die SPD 2016 gegenüber 2002 einen Rückgang um 37,5 % zu verkraften. Innerhalb von eineinhalb Jahrzehnten hat jeder dritte Wähler der SPD den Rücken gekehrt.
Spannend übrigens bei der SPD: Ihre Direktkandidaten waren nicht so relativ erfolgreich wie die Landespartei. Von den 36 Wahlkreisen konnten nur 26 durch die Direktkandidaten gewonnen werden. Auch in Wahlkreisen, in denen die SPD mit der Landesstimme vorn lag, konnten sich Konkurrenten von CDU oder AfD durchsetzen – ein sicheres Zeichen dafür, dass das SPD-Endergebnis maßgeblich der Person des Spitzenkandidaten Sellering und nicht der programmatischen Ausrichtung der Partei zu verdanken ist.
CDU im Rückwärtsgang
Ähnlich wie der SPD ergeht es der CDU. Sie liegt seit 2011 stabil zwischen 153.000 und 157.000 Stimmen. Bei der Union hatte der kontinuierliche Abschwung bereits nach 1994 begonnen. Damals war die CDU noch auf 386.206 Stimmen gekommen – ein Niedergang um 233.097 Stimmen beziehungsweise 60,4 %.
Wenn nun die CDU dennoch in sieben Wahlkreisen das Direktmandat holen konnte, dann ist dieses ein unverkennbares Zeichen dafür, dass der Spitzenkandidat auf der Landesliste keine Zugkraft entfalten konnte. Für die CDU im Landtag wäre es insofern an der Zeit, sich nach einer neuen Führung umzuschauen. Und dabei einen Blick auf jene Regionen zu werfen, in denen marktwirtschaftliche Politik dem ehemals armen Land einen besonderen Aufschwung beschert hat. Denn die Direktmandate sind fast sämtlichst in den Ruganer Wahlkreisen gewonnen worden – dort, wo der Tourismus Geld in die Taschen der Leistungswilligen lenkt.
PdL im Spagat
Was für SPD und CDU gilt, trifft ähnlich auch für die SED-Nachfolger zu. 1998 hatten die Kommunisten noch eine Zustimmung von 264.299 Wahlberechtigten. 2016 ist diese auf nur noch 106.259 Stimmen gesunken. Das ist ein Niedergang von 158.040 Stimmen oder 59,8 %.
Da ist es nachvollziehbar, dass die Urenkel Walter Ulbrichts auch keine Direktmandate mehr erringen konnten. Selbst der Versuch, zu der AfD abwandernde Linkswähler durch inhaltliche Annäherung zu binden, verfing nicht. Und der offizielle Erklärungsversuch, man habe „soziale Themen“ angesichts der Bundespolitik „nicht platzieren“ können, ist auch nichts anderes als Balsam für die geschundene, linke Seele.
Die Grünen und die Demokratie
In besonderem Maße bemerkenswert ist die Entwicklung der Grünen. Sie, eine klassische Großstadtpartei der Träumer von einer besseren Welt, die an den Bedürfnissen der naturnahen Landbevölkerung schon immer um Meilen vorbeigelaufen sind, haben im Nordosten traditionell Schwierigkeiten. Trotzdem haben sie bei den Landtagswahlen 2016 mit 38.834 Stimmen in realen Zahlen das zweitbeste Ergebnis ihrer M/V-Geschichte geholt. Nur bei den vorangegangenen Wahlen lagen sie mit 59.004 Stimmen deutlich besser.
Wenn die Grünen nun dennoch den Einzug in den Landtag verfehlt haben, dann ist dieses nicht Folge einer „Demokratiekrise“, welche die grüne Spitzenfrau Silke Gajek glaubte feststellen zu müssen – sondern ganz im Gegenteil eine Folge davon, dass die Demokratie sich langsam wieder von ihrer Krise zu erholen scheint.
Die Nichtwählerschaft und die NPD
Warum das so ist, das hat der PdL-Verlierer Helmut Holter vermutlich eher ungewollt angedeutet, als er feststellte: „Das politische Koordinatensystem in Deutschland ist durcheinander gekommen. Die Wähler haben wegen der Großen Koalition keine Orientierung mehr.“
Selbstverständlich – ganz so, wie Holter das vermutlich meinte, ist es nicht. Aber seine Aussage deutet in eine korrekte Richtung dann, wenn man sein „Durcheinandergekommen“ wie Gajeks „Demokratiekrise“ durch deren Brille betrachtet. Denn plötzlich gerät das sorgsam aufgebaute, linkstotalitäre Strickmuster bundesdeutscher Gedankenmacher durcheinander.
Bleiben wir erst einmal bei den reinen Fakten. Mit dem Niedergang der drei ursprünglich dominierenden Parteien SPD, CDU und PDS/PdL entstand seit der Jahrtausendwende noch keine neue politische Bewegung. Ein wenig profitierten davon die Grünen und 2006 auch einmalig die FDP – die eigentlichen Gewinner aber waren die bekennend radikalen Nationaldemokraten. Noch bis 1998 war die NPD in M/V faktisch bedeutungslos. 1994 hatte sie es gerade einmal auf 1.429 Stimmen gebracht. Dann konnte sie sich 1998 auf 11.531 Stimmen deutlich steigern – um 2002 wieder auf 7.718 Stimmen zurück zu fallen.
Ihren scheinbaren Siegeszug konnte die NPD zu den Wahlen 2006 starten. Sie errang quasi aus dem Stand 59.845 Stimmen und überflügelte damit die Grünen deutlich. Fünf Jahre später sank die Zustimmung zwar, doch konnte die NPD immer noch 40.642 Wähler an sich binden. Bei den aktuellen Landtagswahlen hat sich ihre Zustimmung auf 24.365 Stimmen gegenüber 2006 praktisch halbiert.
Die Demokratiekrise begann um die Jahrtausendwende
Blicken wir auf die beschriebenen Entwicklungen, dann wird die Feststellung unabweisbar: Die von Gajek konstatierte „Demokratiekrise“ begann um das Jahr 2000. Denn seit damals verabschiedeten sich die Bürger scharenweise von den damals etablierten Parteien und gingen zur weit überwiegenden Zahl in die Wahlverweigerung. In M/V führte dieses dazu, dass auf dem Höhepunkt der Demokratiekrise im Jahr 2011 mit einem Anteil von 50,4 % jeder zweite Wahlberechtigte der Demokratie den Rücken gekehrt hatte. 2016 mochten sich über 20 % dieser Aussteiger dazu durchringen, sich doch wieder an den Wahlen zu beteiligen.
Insofern ist nüchtern festzustellen: Nicht die AfD ist die Demokratiekrise – sie ist vielmehr gegenwärtig das Instrument, das diese Krise überwinden hilft, indem sie dafür sorgt, deutlich mehr Wähler als früher an die Urne zurück zu holen.
Und – ich schrieb es bereits am Wahlabend und konnte die Aufschreie förmlich hören: Die AfD wirkt nicht nur für die Demokratie – sie wirkt auch gegen rechts, und sogar gegen links. Denn der deutliche Einbruch bei den beiden radikalen Parteien NPD und PdL ist ebenfalls maßgeblich eine Folge des Auftretens der AfD.
Ist die AfD die Volkspartei der Zukunft?
Ist nun deshalb, wie Frauke Petry sich freute, die AfD bereits „die Volkspartei der Zukunft“? Sicherlich nicht – jedenfalls noch nicht. Denn derzeit ist überhaupt noch nicht abzusehen, in welche Richtung sich diese Partei entwickeln wird. Der innerparteiliche Streit zwischen den „Atlantikern“ um Meuthen und Junge und den russlandnahen „Internationalisten“ um Höcke und Gauland ist noch lange nicht entschieden. Angesichts der in vielen Segmenten offen kollektivistischen Ansätze des AfD-Parteiprogramms ist derzeit noch nicht einmal absehbar, ob diese Alternative am Ende eine rechte oder doch eher eine linke Partei sein wird.
Programmatisch wie personell ist diese AfD immer noch erst am Werden – und ihre künftige Rolle wird maßgeblich davon abhängen, was sie wird und ob sie als liberal-konservative Alternative zur Union im Westen der Republik punkten kann oder als links-kollektivistische Gruppe vorrangig die Wähler in den neuen Bundesländern an sich bindet. Insofern ist die Petry-Aussage zur Volkspartei ebenso inhaltsleere Propaganda wie Gajeks „Demokratiekrise“ wegen grünem Ausscheiden politischer Unsinn ist.
Nicht die „Flüchtlingskrise“ ist die Ursache
Trotzdem und gerade deshalb noch einmal ein Blick zurück. Denn wenn die Krise der Demokratie faktisch bereits seit Beginn des Jahrhunderts begonnen hat, dann ist auch – anders als heute gern behauptet – die sogenannte „Flüchtlingskrise“ nicht Ursache, sondern nur Katalysator. Der massenhafte Zustrom illegaler Einwanderer hat lediglich das ohnehin schon gärende Fass zum Überlaufen gebracht. Nicht mehr.
Die eigentlich Krise der deutschen Demokratie aber hat ihre Wurzeln offensichtlich schon in der Zeit des Basta-Kanzlers Gerhard Schröder – und sie gewann an Dynamik, seitdem in der Union die sozialistisch sozialisierte Angela Merkel die westdeutsch geprägten Christdemokraten Stück für Stück ausschaltete und sich mit willfährigen Mitläufern umgab.
Der Riss in der Union
Damit nun erklärt sich auch der tiefe Riss, der heute zwischen den beiden Unionsschwestern besteht. Denn in die CSU konnte Merkels DDRisierung nicht greifen – dort blieben die klassischen Unionspolitiker an den Schalthebeln und konnten nur noch fassungslos auf die Entwicklung der Schwesterpartei schauen.
Einher ging die Demokratiekrise mit der Etablierung eines heute uneingeschränkt wirkenden Meinungsdiktats in Medien und öffentlichem Denken. Dieses allerdings ist durch den Siegeszug der AfD nun ebenfalls gefährdet – und genau diese Pervertierung von Demokratie durch das Diktat scheinpolitischer – weil weltanschaulicher Correctness – sieht nicht nur Gajek gefährdet, wenn sie von einer durch die M/V-Wahl zu konstatierenden „Demokratiekrise“ faselt.
Das Linkskartell ist auf dem Rückzug
Es mag dem Linkskartell nicht gefallen – aber die AfD ist derzeit der Hebel, der frische Luft in die Republik bringt. Nicht deshalb, weil ihre Inhalte oder ihre Personalangebote begrüßenswert wären – nein, einfach deshalb, weil sie die Republik zwingen, sich wieder mit Themen jenseits des linksmedialen Meinungsgebots zu beschäftigen. Eines der besten Beispiele dafür ist die unvermutet aufgebrochene, aber mehr als überfällige Debatte über die Rolle des Islams und der Muslime in Deutschland. Es ist eine Debatte, in der Personen wie Aiman Mazyek und mit ihm die türkisch-gesteuerte DITIB ihre Felle wegschwimmen sehen – weshalb sie immer unkontrollierter um sich schlagen. Wenn nun mitgeteilt wird, dass das Rotgrün regierte NRW die Zusammenarbeit mit der DITIB beendet, dann ist auch das letztlich eine Folge des Erstarkens der AfD – und ein Schritt hin zur Überwindung der seit über zehn Jahren andauernden Demokratiekrise.
Die politische Evolution ist erbarmungslos
Italien hatte es einst gezeigt: In der Politik funktioniert es wie in der Evolution. Wer sich den sich ändernden Umweltbedingungen nicht anpasst, der stirbt aus und seine ökologische Nische wird von anderen besetzt. Im Moment zeigt sich hier die AfD am erfolgreichsten. Aber sie wird es nicht allein bleiben. Vor allem, weil sie im Moment eben immer noch vorrangig ein Ventil des Unmuts ist.
Aktuelle Zahlen zeigen: Zwei Drittel der AfD-Wähler in M/V wünschen sich beispielsweise eine bundesweite CSU. Ebenso wie ein Drittel der verbliebenen Unionswähler. Mit diesem Potential hätte es eine Küsten-CSU aus dem Stand auf 160.000 Wähler bringen können – mehr als die CDU heute hat. Insofern hätte es die CSU in der Hand, ihren Teil zur Überwindung der Demokratiekrise zu leisten. Tut sie es nicht, werden es andere tun. Vielleicht, indem sie Merkel in die Rente schicken – oder indem weitere neue Parteien entstehen, die das in über fünfzig Jahren aufgebaute Linkskartell überwinden werden.
Insofern gilt: Wie auch immer man zur AfD und ihrem Personalangebot stehen mag – ein Verdienst ist ihr nicht mehr zu nehmen. Sie hat die Tür einer in linken Mehltau gehüllten Republik aufgerissen und der Luftstrom einer Rückkehr zu demokratischen Tugenden scheint die Räume zu füllen. Das allerdings bedeutet auch, dass all jene, die sich so wunderbar in der linksgestrickten Republik eingerichtet hatten, langsam zur Panik neigen werden. Nicht nur die Parteien – vor allem die NGOs und deren außer-organisierte Parteigänger der Antifa werden zu neuen Höchstleistungen ansetzen. Denn sie haben sich in dieser Republik perfekt eingerichtet – und gehören als durch nichts legitimierte Meinungsdiktatoren schon lange auf die Liste jener, die im politischen Betrieb nur dann etwas zu suchen haben, wenn sie sich den Spielregeln demokratischer Debatte stellen. So wie ohnehin die Deutschen einen offenen Meinungsaustausch, einen freien Disput über die Zukunft der Gesellschaft allem Anschein nach erst einmal wieder neu lernen müssen.
Insofern dürfen wir auf die weitere Entwicklung in Deutschland überaus gespannt sein. Ich wiederhole mich: Wir leben in interessanten Zeiten.