Wie kann so etwas bloß geschehen? Wenige Wochen vor der Bundestagswahl, zu einem Zeitpunkt, zu dem die rotgrünen Medien ein Weltuntergangszenario des „Dieselgates“ ebenso hochschreiben wie einen „Eierskandal“ von wahrlich apokalyptischen Ausmaßen, um so den dahinschmelzenden Grünen noch ein wenig Wahlhilfe auf den letzten Metern zu geben, wagt es in Niedersachsen eine Landtagsabgeordnete, die Fraktion zu wechseln.
Die bislang grüne Elke Twesten, über die Landesliste für den Wahlkreis Rotenburg (Wümme) auf halber Strecke zwischen Hamburg und Bremen in das Landesparlament eingezogen, kehrte der Partei von Katrin Göring-Eckardt, Cem Özdemir, Anton Hofreiter, Simone Peters und Claudia Roth den Rücken. Sie sei, so begründete die Finanzwirtin ihren Schritt, schon immer glühende Verfechterin von Schwarzgrün gewesen, mit der Politik des farblosen Stefan Weil ebenso wenig einverstanden wie mit dem dazu beitragenden Einfluss der Grünen. Als im Kern Bürgerliche habe sie schon immer mit den Zielen der CDU weitgehend einverstanden erklären können. Nun habe sie den notwendigen Schritt getan, sich von Rotgrün zu verabschieden und zur Union zu gehen. Dass ihre Partei sie nicht erneut für die eigentlich im kommenden Jahr anstehenden Landtagswahlen aufgestellt hatte, mag insofern in ihren Positionen begründet sein – und gleichzeitig ihren Schritt beflügelt haben.
Warum Neuwahlen bei Abgeordnetenwechsel?
Partei- und Fraktionswechsel sind in einer Demokratie nichts Ungewöhnliches – und auch nichts Verbotenes. Man mag zwar die Frage stellen, ob Wechsler „Verrat“ an ihren Wählern begehen – doch das muss der Politiker letztlich mit eben diesen ausmachen. Denn als gewählter Abgeordneter ist er zumindest auf dem Papier ausschließlich seinem Gewissen – und darüber dann vielleicht seinem Wähler – verantwortlich. Und wenn das eine oder das andere einen Parteiwechsel gebietet – wer wollte das hinterfragen? Abgeordnetenmandate sind eben keine Parteimandate – auch wenn die Grünen gerade einmal mehr dieser politischen Fehleinschätzung unterliegen und die „Rückgabe“ des Mandats an die grüne Fraktion fordern. Sorry, liebe Grüne – ja, Ihr habt schon immer Partei mit Staat und Mandat mit Parteiauftrag verwechselt – aber wenn Twesten jemandem das Mandat zurückzugeben hätte, dann wären das ausschließlich die Wähler. Nicht die Partei.
Ein politisches Erdbeben?
Doch die Folgen solcher Wechsel können manchmal politische Erdbeben veranlassen. Zumindest dann, wenn damit wie in Niedersachsen dem mit Ein-Stimmen-Mehrheit regierenden Ministerpräsidenten der Teppich unter den Füßen weggezogen wird. Und so schimpft der frühere Oberbürgermeister von Hannover, assistiert von dem ständig um „Anstand“ ringenden SPD-Vize Ralf Stegner, wie jener sprichwörtliche Rohrspatz, fantasiert irgend etwas von „Intrige“, der er „nicht weichen“ wolle, und hält es „für unabdingbar, dass der niedersächsische Landtag möglichst rasch die Selbstauflösung beschließt“.
Neuwahlen sind überflüssig
Denn gewählt haben die Niedersachsen vor vier Jahren eben nicht einen Ministerpräsidenten Weil, sondern Abgeordnete. Und deren Mehrheiten waren bis zum 4. August nun einmal so, dass dieser Weil, obgleich seine Partei deutlich weniger Stimmen erhalten hatte als der damals amtierende Unions-Premier David McAllister, mit der knappest möglichen Mehrheit in Ministerpräsidentensessel und VW-Aufsichtsrat sitzen darf.
In einer funktionierenden, parlamentarischen Demokratie hingegen wäre nach einem solchen, einsamen Fraktionswechsel der korrekte Gang der Dinge trotz des Mehrheitsverlustes ganz simpel:
- Entweder der nun über keine eigene Mehrheit verfügende Ministerpräsident erklärt seinen Rücktritt. Täte er dieses, wären die Abgeordneten gefordert, einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Erst dann, wenn dieses nicht gelänge – denn nun hätten plötzlich Union und FDP eine ähnlich knappe Mehrheit wie zuvor Rote und Grüne – wären die gewählten Abgeordneten gefordert, über die Selbstauflösung des Parlaments nachzudenken.
- Oder der amtierende Ministerpräsident bleibt ohne eigene Parlamentsmehrheit im Amt. Niemand könnte ihn daran hindern, solange er nicht eine Vertrauensfrage verlöre oder eine neue Mehrheit über ein konstruktives Misstrauensvotum ihn durch einen anderen ersetzt. Ob Letzteres wenige Monate vor den ohnehin anstehenden Neuwahlen Sinn machte, lassen wir einmal dahingestellt. Für Union und FDP wäre es allemal geschickter, den gescheiterten Weil noch ein paar Monate immer wieder an die Wand fahren zu lassen, um dann darauf zu setzen, bei den regulären Landtagswahlen im kommenden Frühjahr eine deutliche Mehrheit für Schwarzgelb einzufahren und den farblosen Weil nebst rotgrünem Spuk aufs politische Altenteil zu schicken.
Wahltaktik bestimmt das Handeln
Doch auch der Unions-Landeschef Bernd Althusmann hat die Regeln einer Parlamentarischen Demokratie nicht begriffen und erklärt daher unsisono mit dem Sozialdemokraten vorgezogene Neuwahlen für zweckmäßig.
Warum schert es nun weder den einen noch den anderen, wie das geregelte Vorgehen in einer verfassten, parlamentarischen Demokratie zu handhaben wäre?
Weil sie sich alle von der gänzlich überflüssigen, panischen Hektik einen persönlichen Nutzen versprechen.
- SPD-Weil hofft darauf, sein abgewirtschaftetes Regierungsamt über Verrats- und Intrigengeschrei doch noch retten zu können. Einmal mehr ist Ablenkung angesagt: Ein Landtagswahlkampf mit einem durch „hinterhältigen, intriganten Verrat“ gestürzten Chef schreit nach Mitleidsstimmen und drängt die eigentlichen Probleme des Flächenlandes in den Hintergrund.
- Der noch recht unbekannte CDU-Althusmann wiederum hofft, bei vorgezogenen Landtagswahlen am Tag der Bundestagswahl unter dem Segel Angela Merkels sicher in den Regierungshafen der hannoverschen Staatskanzlei gespült zu werden.
- Die Grünen – ebenfalls Meister des Gezeters – machen es ähnlich wie der Noch-MP: Nicht ihre gegen die Bürgermehrheit gerichtete Politik wird nun im Mittelpunkt eines Wahlkampfes stehen, sondern der „böse Verrat“ der Abtrünnigen, angeblich von der CDU „Abgeworbenen“. Auch hier geht es ausschließlich um Mitleids- und Erregungsstimmen, die die Partei vor dem unweigerlichen Weg in den Keller bewahren sollen.
Sich derzeit gelassen zurücklehnen und gegen die völlig überflüssige Selbstauflösung stimmen könnte derzeit dagegen die FDP. Bislang hielt sie sich mit Kommentaren zurück. Warten wir also ab, ob sie sich diese Gelassenheit bewahren kann, oder ob sie sich unter dem öffentlich-parteimedialen Gegacker dann nicht doch veranlasst sieht, sich der supergroßen Parteienkoalition jener anzuschließen, die das Parlamentarische System immer mehr mit einem Parteien-Selbstbedienungsladen verwechseln und schon längst vergessen haben, dass Wähler Abgeordnete und Abgeordnete Regierungen wählen, nicht aber Bürger bei den Wahlen Aktienpakte verteilen, die dann durch die Parteien nach eigenem Belieben und persönlichem Nutzen eingesetzt werden dürfen.