Tichys Einblick
Showgeschäft Wahltheater

Das Possenspiel Kanzlerkandidaten

Wahlkampfzeiten sind unterhaltsame Zeiten. Vor allem dann, wenn Menschen für ein Amt in die Arena steigen, über das zu entscheiden der vorgebliche Entscheider nicht die geringste Entscheidungsbefugnis hat. Aber warum haben alle den Kanzlerkandidatenanspruch der Grünen hingenommen?

Guido Westerwelle (1961-2016) als Kanzlerkandidat der FDP auf einem Parteitag am 08.09.2002 in Berlin

IMAGO / Uta Wagner

Der Erste, der das Possenspiel der Kanzlerkandidaten entlarvte, war das politische Naturtalent Guido Westerwelle. Als es im Jahr 2002 um die Wahlen zum Deutschen Bundestag ging, ließ sich der FDP-Vorsitzende von seinen Delegierten mit fast hundert Prozent Zustimmung zum Kanzlerkandidaten küren. Der damalige Beschluss lautete: „Als Partei für das ganze Volk treten wir mit unserem eigenen Kanzlerkandidaten an. Die FDP will die Bundestagswahl mit Guido Westerwelle zu einem Erfolg für Deutschland machen.“

Medien und Konkurrenz staunten – und konnten sich vor Spott kaum halten. Franz Müntefering, damals Generalsekretär der SPD, höhnte von „Guido I.“ als Karnevalsprinzen, meinte: „Bei uns wird er mit Schuhgröße 18 auf der Reservebank sitzen.“ 

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Selbstverständlich wusste Westerwelle, dass seine FDP keine Chance hatte, künftig den Kanzler zu stellen. Das machten damals die „Großen“ unter sich aus – jene Parteien, die noch mit einigem Recht von sich behaupten konnten, Volksparteien zu sein. Und doch hatten Westerwelle und seine FDP selbstverständlich das Recht, ihren Spitzenkandidaten als „Kanzlerkandidaten“ zu präsentieren. Denn faktisch gibt es ein solches Amt nicht – auch nicht für die Union oder die FDP.
Das Grundgesetz kennt keinen Kanzlerkandidaten

Das Grundgesetz ist unmissverständlich. Die Bürger wählen Abgeordnete und Parteilisten. Die einen direkt, die anderen als Parteien und damit als jene, deren Stimmenanteile über die jeweiligen Fraktionsstärken im künftigen Bundestag bestimmen. Die dort hinein gewählten Abgeordneten dann bestimmen mit einfacher Mehrheit, wer künftig als Bundeskanzler das Land regieren soll. So zumindest die grundgesetzliche Theorie.

In der Praxis allerdings sah das längst anders aus: Die zum Parteienstaat mutierte Demokratie kungelte die Besetzung der wichtigsten Staatsämter längst hinter verschlossenen Türen aus. Der Abgeordnete hatte sich ergeben in seine Rolle als Stimmvieh gefügt für das, was die Parteioberen im Widerspruch zum Grundgesetz an personalpolitischen Ergebnissen präsentierten. So lag es nun auch auf der Hand, bereits vor der Wahl zu erklären, welcher Politiker der beiden großen Konkurrenten nach der Wahl den Hut aufhaben solle – vorausgesetzt, entweder die Wähler statteten seine Partei mit einer entsprechenden absoluten Mehrheit aus, oder es sollte seiner Partei gelingen, einen Partner mit ins Regierungsboot zu holen, der dem gewünschten Kanzlerkandidaten beim Rudern ins Amt unter die Arme griff.

Was den Kandidatenanspruch (nicht) begründet

Westerwelle also machte seinerzeit Kanzlerkandidat. Lächerlich: Der Chefposten würde unter Union und SPD ausgemacht werden. Also galt der FDP-Vorstoß als unsinniger Gag, als Teil eines „Spaßwahlkampfes“.

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Rund zwanzig Jahre später haben sich die Vorzeichen geändert. Längst ist nicht mehr ausgemacht, dass das Kanzleramt an Union oder SPD geht. Ganz im Gegenteil: Als die SPD ihren als Parteivorsitzbewerber abgewatschten Olaf Scholz präsentierte, dümpelte dessen Partei in den Umfragen bei 15 Prozent herum. Doch auch ein Unionskandidat hätte zu jenem Zeitpunkt kaum mehr als 30 Prozent hinter seiner Partei sammeln können – gleichwohl wurde weder bei Scholz noch bei der Union jemals bezweifelt, dass ihre Parteien ein „Recht“ hatten, dem staunenden Volk einen Kanzlerkandidaten zu präsentieren.

Infolge der Klimapropaganda und der darauf basierenden Sonntags-Prognosen meinten nun auch die Grünen, in dieses Rennen der Fiktionen einsteigen zu müssen. Die Partei des grünen Matriarchats setzte auf Annalena Baerbock – und erstaunlicherweise lachte niemand mehr. Ganz im Gegenteil: Die Verbündeten in den Medien hypten sie auf allen Kanälen – und plötzlich schien es fast, als könnte die Dame mit dem ominösen Lebenslauf und den staatlich finanzierten Subventionen aus Partei und Parteistiftung tatsächlich über den Wassern schweben und in die Berliner Waschmaschine einziehen.

Die Duellanten im Triell

Selbstverständlich auch hier: Eine absolute Kanzlermehrheit der grünen Systemüberwinder waberte irgendwo in Wolkenkuckucksheim. Aber das galt mittlerweile auch für Union und SPD. Gefühlt waren alle drei irgendwie chancengleich – und wer konnte im Frühjahr schon ahnen, dass die Union mit Armin Laschet einen Kandidaten präsentiert, der bei aller Menschelei das Kanzlerformat vermissen lässt. Und Olaf Scholz? Der emotionsgehemmte Technokrat aus Osnabrück schien als langjähriger Vizekanzler und Merkel-Adlatus, belastet mit einer Partei, deren Protagonisten offen in die linksradikale Ecke streben, und zahlreichen Finanzskandalen ebenfalls chancenlos.

So wurde nun medial beschlossen, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen von drei Bewerbern gebe. The Show must go on – und das Schauspiel, das dem Volk präsentiert wurde, hieß von nun an Triell. Dabei war auch dieses bereits aus der Zeit gefallen, als es dann die Fernsehkanäle verstopfte. Denn die grüne Annalena Baerbock hatte sich längst um alle Chancen geplappert und die Prognosen zugunsten ihrer Partei in den Absturz getrieben. Dass ihr CDU-Bewerber Laschet dabei folgen sollte, bleibt unbedeutend, da dessen Umfragewerte trotz allem immer noch deutlich vor denen Baerbocks lagen.

Also wurde nun getriellt – wobei es doch mehr Duelle waren, die ganz traditionell zwischen Union und SPD ausgefochten wurden. Baerbock gab dabei das weibliche Element – und das war es dann.

Die kleinen Parteien – also jene, die in Anerkenntnis der bundesdeutschen Wahlwirklichkeit auf die Präsentation eigener Kanzlerkandidaten verzichtet hatten – blieben außen vor und durften unter sich am Katzentisch um die Ränge kämpfen. Ein erbärmliches Schauspiel für die Demokratie vor allem dann, wenn die sich triellierenden Kandidaten über jene Katzentischler herfielen, ohne dass die sich aufgrund erzwungener Abwesenheit hätten wehren können.

Das politische Unvermögen der Katzentischler

Gleichzeitig aber ist das Schauspiel, welches uns derzeit präsentiert wird, auch ein Schauspiel des politischen Unvermögens. Des Unvermögens bei jenen, die nun am Katzentisch sitzen.

Noch einmal: Der Zweikampf zwischen Union und SPD hat Tradition. Und ein wenig konnte man diesen Fight ja auch mit dem Abschneiden bei den letzten Wahlen begründen. Die Union hatte 2017 immerhin noch 32,9 Prozent eingefahren und damit ihren Führungsanspruch begründet. Der entgleiste Schulz-Zug hatte es mit 20,5 Prozent noch auf Platz 2 geschafft.

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Wie aber begründeten die Grünen ihren Kanzlerkandidaten? Wie begründen die Medien, Baerbock in die Trielle zu laden? Die Grünen waren 2017 mit 8,9 Prozent abgeschmiert und nur auf Platz Sechs gelandet. Allein das hätte in der Westerwelle-Tradition mehr als Grund genug sein müssen, über diese Anmaßung mit Hohn und Spott herzufallen. Doch mitnichten. Denn zumindest gefühlt und mehr noch gewünscht war Baerbock zumindest für die grünen Supporter in den Medien fast schon Merkel-Nachfolger. Klimahype und wohlstandsverwahrlostes Großstadt-Milieu schienen es möglich zu machen.

Also wurde die Dame mit den fragwürdigen Studienabschlüssen medial hochgefahren, durfte sogar noch an den Triellen teilnehmen, als ihr eigener Dilettantismus jede Chance dafür, die Grünen zur stärksten Kraft bei den Bundestagswahlen zu machen, irreparabel an die Wand gefahren hatte. Vorgebliche Begründung: Irgendwie gefühlt und prognostiziert hätten die Grünen ja vielleicht oder auch nicht eine Chance haben können, doch noch ganz oben mitspielen zu dürfen. Also bemühten sich nicht nur die offiziell um Objektivität bemühten, bürger-zwangsfinanzierten Medien des öffentlichen Rechts widerspruchslos darum, die längst aus dem Rennen Geschiedene als Dritte im Bunde zu präsentieren. Plappernd wie immer durfte sie gleichsam den Puffer machen zwischen Laschet und Scholz, von denen der eine verzweifelt auf Angriff schaltete, während der andere stocksteif ins Schwimmen kam ob der Missetaten des unsauberen Finanzgebarens, die irgendwie seiner jeweiligen Zuständigkeit zuzuordnen waren.

Warum nicht sechs Kanzlerkandidaten?

Die Medien präsentierten den Wählern ein Schauspiel – und sie offenbarten dabei ungewollt die Laienschauspielqualitäten der Herrschaften vom Katzentisch. Wobei – daran darf kein Zweifel bestehen – sie an diesem völlig zu Recht sitzen. Denn sie hätten es ja anders haben können.

Eine grüne Frontfrau darf unkritisiert und unbelächelt am Tisch der beiden Großen mitmischen? Ich sagte es bereits: 2017 war ihre systemüberwindende Plaudertruppe gerade einmal auf Platz 6 gelandet. Wenn nun eine solche Partei einen Kanzlerkandidaten präsentiert – warum haben sich das die Ränge Drei bis Fünf widerspruchlos gefallen lassen?

Allen voran die AfD. Sie ist Oppositionsführer im Bundestag, vertritt 12,6 Prozent der Wähler des Jahres 2017. Dann die FDP. Sie kam auf Rang 4 und hatte 10,7 Prozent der Wähler hinter sich. Selbst die Kommunisten von der SED-PdL konnten mehr Kanzlerkandidatenanspruch geltend machen als die Grünen. Sie waren mit 9,2 Prozent immer noch knapp vor den Grünen gelandet.

Warum also haben nicht auch diese Parteien Kanzlerkandidaten präsentiert? Sie hätten dafür mehr Argumente gehabt als die Grünen. Doch kampflos haben sie das Feld der Dame aus Brandenburg überlassen, sich selbst verzwergt, indem sie den grünen Anspruch akzeptiert hatten, ohne einen eigenen anzumelden. Selbstverständlich: Es wird keinen blauen, gelben oder dunkelroten Kanzler geben. Aber es wird auch keinen grünen geben.

Propagandistischer Popanz des Dilettantismus

Die Trielle sind so nichts anderes als propagandistischer Popanz – und ein Dokument des politischen Dilettantismus der etwas kleineren Parteien. Sie haben sich selbst an den Katzentisch expediert. Und den rotgrünen Medienpropagandisten mit ihrem Verzicht sogar noch die Argumente geliefert, eine chancenlose Grüne in den Olymp der Kandidatenschauen zu holen.

Ärgerlich ist das nicht nur für Christian Lindner, der ohne Spott und Hohn in die Fußstapfen seines großen Vorbilds hätte treten können. Ärgerlich vor allem ist das für die AfD. Denn allein die Vorstellung, wie sich die Medien-Supporter hätten winden müssen, um die Teilnahme eines AfD-Kanzlerkandidaten an den aufgeblähten Duellen zu verhindern, wäre ein politisches Schauspiel der Extraklasse gewesen.

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Die abgeschmackten Kandidatenduelle sind ein Relikt der Vergangenheit – und selbst ein Lindner könnte argumentieren, dass bei der richtigen Stimmenverteilung eine gestärkte FDP vielleicht ja doch mit der richtigen Taktik bei zwei sich streitenden Größeren eine kleine Chance auf das Kanzleramt hätte haben können. Und selbst wenn nicht – wer will einer Partei verbieten, einen solchen Anspruch vor der Wahl geltend zu machen?

AfD, FDP und Kommunisten sind in diesem Falle an ihrer eigenen Ehrlichkeit gescheitert. Anders als die Grünen hatten sie nicht die Chuzpe, einfach mal so zu tun als ob. Selbstverständlich: Die AfD wird nach der Bundestagswahl nicht die geringste Chance auf das Kanzleramt haben. Gleiches gilt für die SED-PdL und ebenso für die FDP. Aber allein der freiwillige Verzicht darauf, mit Baerbock und Co. am Tisch der Großen zu dinieren, ist nicht anders denn als politische Dummheit zu bezeichnen.

Und so finden sich die Katzentischler dort letztlich zurecht – weil sie sich als unfähig erwiesen haben, das linksgrünmediale Showgeschäft des Wahltheaters durch entsprechenden Getriebesand ein wenig ins Stottern zu bringen.

Um wieviel spannender auch wäre das TV-Format der X-elle geworden, hätten dort nicht nur drei Vertreter der Einheitsparteien gestanden. Aber diese Chance ist vertan, weil es dann eben doch an politisch-kommunikativen Sachverstand mangelt. Schade drum. Der Demokratie hätte es nur nützen können.

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