Tichys Einblick
Xi zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Chinas Akt auf dem Drahtseil

Der autokratische Herrscher der Kommunistischen Partei Chinas befindet sich in einer Zwickmühle, die eine Entscheidung zwischen den persönlichen Ängsten und dem Wohl seines Volkes erfordert und sie dennoch nicht zulässt.

IMAGO / Xinhua

Eigentlich müsste Chinas starker Mann, Xi Jinping, seinen Kollegen in Moskau auf den Mond wünschen. Eigentlich. Denn einerseits sähe er den Russen vermutlich am liebsten dort – oder noch weiter weg, wo er die Interessen der Volksrepublik China nicht mehr beeinträchtigen kann. Andererseits gibt es vor allem geostrategische Ambitionen und Ängste, die die Nähe der Pekinger Kommfuzionsten zu den Moskauer Nationalisten angeraten erscheinen lassen. Der autokratische Herrscher der Kommunistischen Partei Chinas befindet sich in einer Zwickmühle, die eine Entscheidung zwischen den persönlichen Ängsten und dem Wohl seines Volkes erfordert und sie dennoch nicht zulässt.

Deutlich wurde dieses einmal mehr zum ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf sein Nachbarland anlässlich einer Abstimmung über eine erneute Verurteilung der Invasion durch die UN. Während 141 Länder Russland zum sofortigen Rückzug aufforderten und an der Seite des Aggressors nur die üblichen sechs Verdächtigen Belarus, Eritrea, Mali, Nicaragua, Nordkorea und Syrien standen, enthielt sich die Volksrepublik. Um dann unmittelbar nach der Abstimmung in der Vollversammlung einen „Friedensplan“ vorzulegen, der allerdings keiner ist, sondern eher einem außenpolitischen Wünsch-Dir-Was entspricht.

Der rote Herrscher in der Verbotenen Stadt mag und kann sich nicht entscheiden: Will er an der Seite des Moskauer Despoten gegen die europäischen Demokratievorstellungen kämpfen, die beide gemeinsam als Ausdruck des US-Imperialismus verstehen – oder soll sein Reich zurückkehren zur friedlichen Koexistenz der Systeme, die aus dem am Boden liegenden Entwicklungsland des 20. Jahrhunderts eine führende Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts gemacht hatten?

Ideologisch sucht Xi Jinping den Schulterschluss mit dem Tyrannen im Kreml. Doch Wladimir Putin hat die volkschinesische Expansionsstrategie bereits jetzt erheblich gestört. Einen Weg aus dem Dilemma weist weder die Unterstützung des Moskauer Kriegsterrors gegen die Ukraine noch die Hinwendung zur Anti-Putin-Koalition. Denn in gewisser Weise liegt das Kind bereits im Brunnen – gestoßen durch einen Herrscher im fernen Moskau, dem die wichtigste Charaktereigenschaft eines Schülers des Kung-fu-tzu fehlt: die Fähigkeit, in langen Zeiträumen und über die eigene, persönliche Lebenszeit hinaus zu denken.

Die Angst der Despoten vor dem Volk

Was Xi mit seinem Amtskollegen an der Moskwa eint, ist die feste Überzeugung, dass Völker und Staaten nur dann erfolgreich sein können, wenn sie von starker Hand geführt werden. Eine Führungselite, konzentriert auf oder um die Person des Machthabers, muss das Ruder des Staates fest in der Hand halten, Widerstände und Abweichungen als eliten-, staats- und systemgefährdende Bestrebungen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrücken.

Was Xi mit seinem Amtskollegen weiterhin eint, ist das Denken in imperialen Einflusszonen, in denen unabhängige Nachbarstaaten keinen Platz, sondern sich dem Hegemon unterzuordnen haben. Dabei wird Chinas Schizophrenie mehr als deutlich. Aus Pekinger Sicht ist die Ukraine für Russland das, was für Peking Tibet ist: ein Territorium, in dem sich abtrünnige Halbbrüder als „Nationalisten“ dem großen Volkskollektiv zu entziehen suchten; reaktionär, faschistisch, spalterisch.

Dennoch unterstreicht Pekings „Friedensplan“ den Länderanspruch auf Souveränität. Ob der allerdings für die Ukraine ebenso gilt, wie er für Tibet nicht gilt, das lassen die Kommfuzionisten offen. Immerhin unterstreicht Peking seine strikte Ablehnung des Einsatzes von Kernwaffen – ein Signal, das bereits beim ersten deutlichen Wort aus Peking bei Putin angekommen zu sein scheint.

Nicht offen lassen die roten Mandarine die strikte Ablehnung der westlichen Sanktionen gegen den russischen Aggressor. Doch auch das hat nichts mit Solidarität oder Bruderhilfe unter Autokraten zu tun, sondern zeigt lediglich chinesische Ängste. Nicht nur die USA haben wiederholt deutlich gemacht, dass bereits die offene Unterstützung Putins durch die Volksrepublik zu ähnlichen Sanktionen führen kann.

Gefährliches Säbelrasseln um Taiwan

Sollte, was in den westlichen Denkstuben derzeit nicht ausgeschlossen wird, Xi den Ausweg aus seinen innenpolitischen Problemen ähnlich Putin im Überfall auf die unabhängige Republik China auf der Insel Taiwan suchen, könnten Wirtschaftssanktionen noch die geringste Konsequenz sein. Auch der militärische Schlagabtausch im pazifischen Großraum wird dann nicht mehr ausgeschlossen. Glaubt Xi, es mit der geballten Front von USA, Australien, Japan, Südkorea und Kanada aufnehmen zu können?

Auch wenn die sogenannte Volksbefreiungsarmee auf dem Papier zu den effektivsten Militärapparaten des Planeten gehört – das Versagen der mittlerweile mehr braunen als roten Armee Russlands beim geplanten Blitzkrieg in der Ukraine hat in Peking mehr noch als Zweifel an der eigenen Kraft Zweifel darüber aufkommen lassen, was von Putins Wunderwaffen- und Unbesiegbarkeitspropaganda tatsächlich zu halten ist.

Will der rote Xi das finale Kräftemessen mit den USA, so setzte er bislang auf eine russische Streitmacht, die an seiner Seite steht. Doch die verblutet derzeit auf den Äckern der Ukraine, beweist sich einmal mehr als barbarische Horde, die auf ihrem Weg der Brandschatzung und Vergewaltigung nur zu uneingeschränkter Zerstörung fähig ist.

Die Volksrepublik zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Peking zweifelt trotz der aus Moskau kopierten Kriegsschuldverschiebung in die Verantwortung einer angeblich aggressiv-expansionistischen USA am russischen Erfolg. Es sucht die Nähe zu Moskau, weil die Diktatoren ihre Angst vor dem freien Willen ihrer Völker eint. Weil sie in den USA den großen Welthegemon sehen, der ihren eigenen Hegemoniebestrebungen im Wege steht und sie mit seinem Liberalismus aus ihren Positionen zu verdrängen sucht. Deshalb gehen westliche Dienste mittlerweile davon aus, dass Peking Russland heimlich mit Kriegsmaterial beliefert. Von Drohnen ist die Rede – und obgleich Peking pflichtschuldig dementiert, wäre auch das nicht ansatzweise jene Unterstützung, auf die Putin hofft und auf die er angewiesen ist, um seine imperialistischen Großrusslandpläne noch irgendwie durchsetzen zu können.

Gleichzeitig ist Xis Enttäuschung und Verunsicherung über das Versagen Putins auch im nun vorgelegten Friedensplan unterschwellig zu spüren. Die Waffen sollen ruhen und den Weg für Verhandlungen freimachen. Dabei gilt nach wie vor: Wenn die gegenseitigen Mindestforderungen unvereinbar sind, bleiben Verhandlungen eine Farce.

Die „Global Times“, als internationales Medium der Kommunisten in Peking bester Gradmesser der jeweiligen Fieberkurve im Verhältnis zu Washington, zeigt zum Jahrestag des russischen Überfalls eine „Karikatur“, in der die Ukraine in einem großen Kochtopf köchelt, dessen Feuer von „Uncle Sam“ mit der Anlieferung von Kriegswaffen unterhalten wird. Nicht Russland sitzt auf der Anklagebank, sondern die USA.

Das ist die unreflektierte und historisch unzutreffende Übernahme der Putin’schen Agenda, die sich auch in die wirren Köpfe mancher deutscher Küchenphilosophen und Möchtegerndenker verirrt hatte: die Idee, dass weniger Menschen stürben, wenn sich die Ukraine dem russischen Imperialismus widerstandslos unterwerfe und sich selbst aufgebe. Es ist die Neuauflage einer Parole aus dem Kalten Krieg. Damals lautete sie „Lieber rot als tot“ und war für jeden aufgeklärten, an die Freiheit von Individuen und Völkern glaubenden Europäer schon damals so töricht, wie sie es auch heute ist.

Am liebsten auf beiden Schultern tragen

Gleichzeitig aber macht auch die Global Times deutlich, dass Peking am liebsten auf beiden Schultern tragen würde. Xis Überleben hängt maßgeblich davon ab, dass er sein Milliardenvolk bei der Stange halten kann. Zwar, so sagen Insider, ist der staatliche Überwachungsapparat mittlerweile derart präsent, dass revolutionäre Kleinfeuer jederzeit erfolgreich unterdrückt werden können. Doch auch das effektivste Orwell-System muss scheitern, wenn gleichzeitig vier- oder fünfhunderttausend Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren. So hoch schätzen Insider die Zahl jener Chinesen, die vom Industriearbeiter bis zum Internet-Einzelunternehmer direkt oder indirekt vom Export leben.

Da aber stehen nach wie vor die USA und die EU auf den ersten beiden Plätzen. Ohne diese Partner mit dem gefürchteten US-Gesellschaftssystem bricht die Ökonomie der Volkrepublik wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das wirtschaftlich marode Russland, das es unter Putin nicht nur nicht geschafft hat, sich von seinem Entwicklungslandniveau als Rohstoffexporteur zu lösen, sondern das nun auch noch seine jungen Eliten aus dem Land treibt, kann für China diese Märkte nicht ansatzweise ersetzen.

Hinzu kommt ein weiteres Dilemma der Pekinger Kommfuzionisten in ihrem Verhältnis zu den westeuropäisch geprägten Ländern. Schob Donald Trump der heimlichen Unterwanderung der USA durch China in seiner Präsidentschaft sehr zum Leidwesen der EU bereits kräftige Blöcke in den Weg, so haben infolge der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen auch die lange Zeit entschlummerten Führer Westeuropas verstanden, dass eine zu große Abhängigkeit von unberechenbaren Regimes überaus gefährlich ist. Die Debatte um den Teilkauf einer Terminalanlage im Hamburger Hafen durch die Staatsreederei Cosco hätte es ohne Russlands Ukraine-Überfall nicht gegeben. Doch nun stehen selbst im China-freundlichen Deutschland die Signale auf Hab-Acht, wenn volksrepublikanische Chinesen vor der Tür stehen und anklopfen, um sich als Investoren anzudienen.

Putin hat Chinas Interessen nachhaltig geschadet

Auch hier hat Putin mit seinem gescheiterten Blitzkrieg den Zielen Pekings heftig in die Suppe gespuckt. Und so laviert sich Xis Führung gegenwärtig durch die Weltgeschichte, indem einerseits die Globalanklage gegen den großen, imperialen Aggressor USA gefahren wird, während man es sich gleichzeitig mit den Europäern zwischen Neusee- und Island nicht völlig verderben will.

Hinzu kommt, dass auch für die Volksrepublik eine Ukraine, die den Überfall als souveräner Staat überleben sollte, ein wichtiger Handelspartner werden kann. Das gilt nicht nur für die im Reich der Mitte so dringend benötigten Grundnahrungsmittel – das gilt vor allem auch dann, wenn die durch Moskau deindustrialisierte Ukraine über einen panatlantischen Marshall-Plan zum Dynamo einer neuen Erfolgsgeschichte der liberalen Weltwirtschaft werden sollte. Ein vom Krieg zermürbtes, von kriegsindustrieller Produktion abhängiges Russland bleibt selbst für die Freunde im Geiste als ökonomischer Motor uninteressant. Russland ist für die Volksrepublik vor allem Lieferant von Energie- und Rohstoffen. In Sachen IT und Technologie haben die Chinesen ihre Nachbarn im Norden längst meilenweit abgehängt.

Ganz anders dagegen eine Ukraine, die zum Schaufenster westlicher Leistungsfähigkeit wird. Für Peking weit genug entfernt, als dass man von dort das Überschwappen europäischer Gesellschaftsvorstellungen befürchten müsste. Gleichzeitig aber dank globaler Vernetzung nah genug, um auch für die Volksrepublik zu einem noch bedeutenderen Handelspartner zu werden, als sie es jetzt schon ist.

Die Volkrepublik wird an einer Grundsatzentscheidung nicht vorbeikommen

So bewegt sich Peking derzeit wie ein Trapezkünstler auf dem Drahtseil. An den Enden der Balancestange zerren Kräfte, die die Pekinger Führung mal nach Moskau, mal über Washington nach Kiew ziehen. Dabei gilt für Xis Kommfuzionisten wie zu allen Zeiten: Was in den anderen Ländern geschieht, interessiert uns nicht, solange Pekings Interessen dadurch nicht negativ berührt werden. Und so wird sich die Kommunistische Partei Chinas auch weiterhin darauf konzentrieren, sich mit geringstmöglichem Schaden durch die aktuelle Situation zu lavieren.

Freundschaftsbekundungen Richtung Moskau, vielleicht auch der klammheimliche Versuch, den Genossen im Geiste an der Moskwa mit der einen oder anderen militärrelevanten Lieferung unter die Arme zu greifen. Gleichzeitig aber trotz Propagandafeuer die Drähte zu den überlebenswichtigen Handelspartnern im Westen nicht über Gebühr strapazieren. Das Ergebnis sind offizielle Enthaltungen bei wichtigen UN-Abstimmungen, die dem Westen mehr gefallen, als sie Putin gefallen können. Und eben solch sogenannte „Friedenspläne“, die im Ergebnis nichts anderes sind als ein wenig anti-amerikanisches Schaulaufen, verknüpft mit Allerweltsappellen ohne tatsächliche Relevanz. Peking zeigt so vor allem eines: Es möchte als Großmacht wahrgenommen und bei einer künftigen Friedensordnung nicht übergangen werden.

Die mittelfristige Unvereinbarkeit der Pekinger Hegemonial- und Alleinvertretungsansprüche sowie seine Ablehnung westlicher Gesellschaftsvorstellungen mit der emanzipatorischen Dynamik, die ein sich seiner eigenen Stellung bewusst werdendes Bürgertum dazu bringt, nach Überwindung von Untertanengeist und Fremdbestimmung zu rufen, wird dabei bis auf weiteres die Entwicklung im Reich der Mitte prägen.

Im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts leitete der marktwirtschaftliche Erfolg des Bürgertums die Überwindung der monarchischen Ordnungen ein. Im kriegszerstörten Südkorea sicherte der Übergang vom totalitären Führungsstaat zur liberalen Demokratie den wirtschaftlichen Erfolg und die gesellschaftliche Dynamik hin zu einer führenden Industrie- und Kulturnation.

Peking wird sich eher über kurz als über lang entscheiden müssen, ob es den Weg freiräumt für den südkoreanischen Weg – oder ob es dem Beispiel Putins folgt und die Möglichkeiten der eigenen Nation über den Weg der kontinuierlichen Selbstzerstörung der dynamischen Fähigkeiten des ihm überantworteten Volkes verhindert.

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