Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass der amtierende Bundeskanzler sein Gedächtnis in Sachen CumEx-Gespräche deshalb verloren hat, weil er bewusst zugunsten der betroffenen Bank interveniert habe. Doch es könnte auch ganz anders sein. Das zumindest erläutert im Gespräch mit TE ein erfahrener Betriebsprüfer. Er meint, dass der Binnenaufbau und der Geschäftsablauf in der Verwaltung die Einziehung der Forderung in Höhe von 47 Millionen Euro verhindert habe.
Die Annahme, dass Olaf Scholz als damaliger Bürgermeister in den Vorgang in irgendeiner Weise involviert ist, unterstellt er zwar ebenfalls. „Aber“, so der Beamte, der aus Gründen des Disziplinarrechts nicht namentlich genannt werden möchte, „eine ausdrückliche Anordnung des Bürgermeisters halte ich für unwahrscheinlich, weil sie überhaupt nicht nötig war.“
Das, was der Beamte stattdessen vermutet, macht die Causa Scholz allerdings kein bisschen besser. Ganz im Gegenteil spricht es für das klassische Sprichwort von den Kleinen, die man hängt, und den Großen, die man laufen lässt.
Der Betriebsprüfer ist das kleinste Licht in der Kette
„Die Betriebsprüfer“, so unser Gesprächspartner, „stehen unter einem immensen Druck. Denn tatsächlich geht es nicht darum, die Korrektheit der Steuererklärung zu prüfen, sondern Mehrergebnisse für den Fiskus herauszuwirtschaften.“ Die Frage, ob ein Betriebsprüfer befördert werde, hänge maßgeblich davon ab, dass seine Ergebnisse keinesfalls unter dem Durchschnitt dessen liegen, was im Mittel von allen Prüfern des Finanzamts eingebracht wird. „Will der Prüfer auf der Karriereleiter nach oben steigen und damit mehr Geld mit nachhause bringen, so muss er Steuerschulden feststellen. Das kann sogar dazu führen, dass Steuerschulden erfunden werden.“
Müsste aber nicht in solchen Fällen sofort der Betroffene gegen den Bescheid vorgehen? „Normalerweise ja. Der Punkt aber ist, dass Verfahren vor dem Finanzgericht viel Geld kosten können. Deshalb überlegt es sich ein mittelständisches Unternehmen häufig zweimal, ob sich der Widerspruch rechnet. Das hängt von der nachgeforderten Summe ab.“
Ein erfahrener Prüfer entwickle ein Gespür dafür, wie hoch die Nachforderung sein dürfe, um problemlos durchgewunken zu werden. Zudem bestehe nicht selten die Möglichkeit, sich zwischen Finanzamt und Steuernachzahler zu einigen. „Da lässt der Staat dann ein wenig nach und der Zahlungspflichtige überweist ohne Widerspruch. Das Geld fließt problemlos in das Staatssäckel.“
Die Entscheidung liegt in der Hierarchie
Über den konkreten Umgang mit der Forderung entscheidet jedoch nicht der Betriebsprüfer. Spätestens nach Abschluss der Prüfung legt er seinem Vorgesetzten einen vorläufigen Bericht vor, in dem die Forderung entsprechend dargelegt wird.
Und: „Mit solchen Forderungshöhen liegt man dann bei mittelständischen Unternehmen nicht schlecht. Beträge im mittleren fünfstelligen Bereich, bei denen noch ein wenig heruntergehandelt werden kann, lohnen zumeist für beide Seiten nicht das Einlegen eines Rechtsmittels, weil die möglichen Kosten in keinem Verhältnis zum strittigen Betrag stehen. Also wird gedealt, gezahlt und der Prüfer ob seiner guten Arbeit gelobt.“
Zu hohe Forderungen sind für den Fiskus problematisch
Deutlich problematischer allerdings werde es, wenn die Forderungen in den sechsstelligen Bereich und höher gehen. So sei ihm unter anderem ein Fall bekannt, in dem eine Gruppe von Freiberuflern nebenbei gewerblich tätig gewesen sind. Daraus sei eine Forderung in Höhe von fast einer Million Euro bei mehreren Einzelbetroffenen entstanden, deren jeweiliger Gewinn zudem schwer zuzuweisen gewesen sei. „In diesem Fall hat der Vorgesetzte den Prüfer auf genau diese Problematik hingewiesen. Es sei, so die Befürchtung, damit zu rechnen, dass die Betroffenen den Rechtsweg beschreiten. Er, der Prüfer, müsse dann vorm Finanzgericht in jedem einzelnen Fall den Nachweis führen, dass die Forderung zurecht bestehe. Gelinge das in nur einem Fall nicht, dann könnte das gesamte Verfahren in sich zusammenbrechen.“
In einer solchen Situation die Folge: Der Fiskus muss nicht nur auf die ermittelte Summe verzichten, sondern zudem noch sämtliche Kosten des Verfahrens, einschließlich der gegnerischen Anwälte, übernehmen. Wenn dann die Angelegenheit noch öffentlich in den Medien debattiert worden sei, käme nicht nur der Spott hinzu, sondern auch der Vorwurf, arme Steuerpflichtige zu quälen und Steuergelder für unzulässige Forderungen zu verschwenden. „Es war klar: Der Vorgesetzte scheute dieses Risiko und der Betriebsprüfer ahnte, vor Gericht von den gegnerischen Anwälten zerpflückt zu werden. Also wurde der Bericht abgeheftet und die Steuersünder blieben unbehelligt.“
Das Risiko der Causa Scholz
Von einer vergleichbaren Situation geht unser Gesprächspartner auch in der Causa Scholz aus. „47 Millionen Euro Forderung sind alles andere als ein Pappenstiehl. Da wird der Vorgesetzte kräftig ins Schwitzen gekommen sein.“ In solchen Fällen sei es die allererste Frage, wie sicher der Anspruch sei und ob es bereits Präzedenzfälle gäbe. „Für derartige Prüfungen müssen die Hausjuristen eingeschaltet werden.“
In der CumEx-Angelegenheit sei es naheliegend, dass der Warburg-Vorstand das Gespräch mit dem Ersten Bürgermeister gesucht habe, um einerseits auf die langjährige, gute Zusammenarbeit zu verweisen und darauf, dass man doch auch künftig als Arbeitgeber und Steuerzahler von Bedeutung sei. Gleichzeitig werde der Bankvorstand die Situation aus seiner Sicht geschildert haben, ohne auf den Hinweis zu verzichten, dass man sich bereits Rat von renommierten Anwälten eingeholt habe und angesichts der Höhe der Forderung nicht umhinkommen werde, die Rechtsmittel bis zur letzten Instanz auszuschöpfen.
„Hier nun wäre es naheliegend, dass der Bürgermeister umgehend Kontakt mit seinem Finanzminister aufnimmt. Der wiederum nimmt dann Kontakt mit der zuständigen Abteilung auf und lässt sich den Fall vortragen.“
Im Mittelpunkt der nun folgenden Beratungen stehe weniger die Forderungshöhe, sondern die Frage nach den Erfolgsaussichten. „Ist die Forderung nicht absolut sicher zu belegen und zu erheben, und das wird bei CumEx mangels konkreter Erkenntnis seinerzeit nicht der Fall gewesen sein, dann steht automatisch die Frage im Raum, wie hoch die Verfahrenskosten im Falle einer Niederlage in letzter Instanz werden könnten.“ Bei Forderungen in derartiger Millionenhöhe kommen dabei schnell Kosten zusammen, die selbst in mehrfache Millionenhöhe steigen.
Im Zweifel gegen das Risiko
„Haben nun also Vorgesetzte und Juristen Zweifel daran, dass die Durchsetzung der Forderung absolut unproblematisch ist, werden sie entscheiden, von der Forderungserhebung abzusehen. Denn der durch den Steuerpflichtigen verursachte Schaden liegt ja in der Vergangenheit und ist insofern im Haushalt bereits verbucht. Eine künftige Niederlage im Verfahren aber würde eine nicht geplante Lücke in den Haushalt reißen – und sie würde an die Verantwortlichen die Frage stellen lassen, warum sie ein solches, offenbar doch absehbares Risiko zulasten des Haushalts zugelassen haben.“ Zudem stehe dann schnell die Frage im Raum, wieso überhaupt eine Forderung in solcher Höhe habe entstehen können? Also werde die Kompetenz der Finanzbehörde und des dort verantwortlichen Politikers insgesamt öffentlich angezweifelt. „Im Ergebnis erfolgt dann der vertrauliche Hinweis an die Fachabteilung, die Angelegenheit ruhen zu lassen und auf Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten.“
Vielleicht, so unser Betriebsprüfer, gebe es einen Rüffel, um die Öffentlichkeit zu befriedigen. „Intern aber wissen alle, was da gelaufen ist – und warum es so gelaufen ist.“
Ist Scholz damit aus dem Schneider?
Ist nun aber damit der Bürgermeister aus dem Schneider? „Korruption oder bewusste Vorteilsgewährung liegt tatsächlich nicht vor. Er wird stillschweigend einer Empfehlung aus dem Haus des Finanzsenators gefolgt sein. In der Annahme, damit den besten von mehreren schlechten Wegen gegangen zu sein.“
Wenn das aber so ist und keine persönliche Schuld festzumachen ist – warum dann das Lavieren vor Untersuchungsausschuss und Öffentlichkeit? Warum sagt Scholz nicht: Ich bin damals dem Ergebnis einer umfassenden Prüfung des Vorgangs durch die Finanzbehörde gefolgt – und er ist raus?
Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft
Warum aber hat dann die Bank die fünfstelligen Spenden an die SPD ausgekehrt – und möglicherweise dem Johannes Kahrs sogar so viel zugesteckt, dass er in einem Schließfach deutlich über 200.000 Euro horten konnte?
Dazu stellt der Finanzbeamte fest, dass die Kahrs-200.000 überhaupt erst einmal in ihrer Herkunft nachzuweisen wären. Und selbst dann, wenn sie der Bank als Handout zugewiesen werden könnten, handele es sich dabei noch lange nicht um Bestechungsgeld. Denn eine solche habe de jure nicht stattgefunden, weil sie überhaupt nicht nötig war.
„Ansonsten sind diese Summen angesichts der 47 Millionen doch aus der Portokasse zu bezahlen. Da gilt dann: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Ganz ohne Bestechung und Korruption.“
Und dann folgt noch mit sarkastischem Unterton eine Empfehlung: „Wenn Sie den Staat besch… wollen, dann müssen Sie das richtig tun. Dann muss die strittige Summe einen Umfang haben, der das Kostenrisiko im Rechtsstreit derart hoch werden lässt, dass der Staat sich seine Forderung nicht leisten kann. Denn dann wird er lieber darauf verzichten und darauf vertrauen, dass alle Beteiligten darüber Stillschweigen bewahren und der normale Steuerzahler nicht bemerkt, wie mit seinem Geld umgegangen wird.“