Um eines vorweg zu schicken: Chemie ist nicht mein Ding. Insofern will ich hier nicht darüber urteilen, ob die Entscheidung zum Einsatz des Pflanzengiftes Glyphosat richtig oder falsch ist. Ich kann das schlicht nicht sachgerecht beurteilen – auch wenn mir mein Bauchgefühl sagt, dass es nicht gesund sein kann, tonnenweise Gifte zu produzieren, die sämtliche Vegetation auf einen Schlag vernichten, und ich mich seit geraumer Zeit frage, weshalb wir vor fünfzig Jahren bei einer Reisegeschwindigkeit von vielleicht 80 Stundenkilometern alle 300 Kilometer die Windschutzscheibe mit einem harten Schwamm von Insektenleichen reinigen mussten, und ich heute 800 Kilometer mit Reisegeschwindigkeit 130 km/h fahren kann, ohne in der Sicht irgendwie behindert zu sein.
Da nun aber Bauchgefühl im Zweifel kein objektiver Richter ist, lass ich die EU-Entscheidung inhaltlich außen vor. Viel spannender hingegen ist der Alleingang, den Landwirtschaftsminister Christian Schmidt von der bayerischen CSU hingelegt hat. Denn er begründet sein EU-Votum damit, dass dieses seine Ressortverantwortung gewesen sei – mit anderen Worten: Er allein (und im Zweifel seine ministeriellen Mitarbeiter und Berater aus den Lobbygruppen) habe hier eine Entscheidung getroffen, ohne das Umweltressort oder das Kanzleramt zu fragen und fragen zu müssen.
„Skandal, Skandal“, rufen die Berufenen
Unterstellt, das sei so – wogegen auch nicht spricht, dass diese Entscheidung offenbar bereits seit Monaten im Ministerium vorbereitet worden ist. Diese derzeit von einigen zum Skandal im Skandal hochgefahrene Vorbereitung belegt letztlich nur, dass man sich in den zuständigen Stellen umfassend mit der Glyphosat-Problematik beschäftigt hat.
Trotzdem ist das Geschrei derzeit groß.
- Die Ministerin für Umwelt, gestellt von der offiziell aus der Regierungsverantwortung ausgeschiedenen SPD, fühlt sich hintergangen, spricht von „Vertrauensbruch“.
- Linkspopulist Ralph Stegner poltert: „Das war eine ziemliche Unverfrorenheit, weil es den Gepflogenheiten der geschäftsführenden Bundesregierung von CDU/CSU und SPD widerspricht.“
- Seeheimer-Lautsprecher Johannes Kahrs macht den Kim Jong Un, droht damit, dass die Union Schmidts Alleingang teuer wird bezahlen müssen.
- Angela, die Alternativlose, lässt aus dem Kanzleramt eine „Rüge“ erteilen.
- Die Linksoppositionellen fordern gar, dass Merkel den Schmidt nun als Minister vor die Tür setzen müsse.
Nichts ist mehr „wie üblich“
Das klingt bei allen Wogen, die derzeit die Spree zum Kampfgewässer machen, nach „business as usual“. Genau da aber liegt das Problem. Denn “as usual“ ist nicht mehr.
Üblicherweise hat der Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz. Er wird vom Parlament mit absoluter Mehrheit gewählt und vom Bundespräsidenten in sein Amt berufen. Gleichzeitig bestimmt er im Alleingang seine Minister, die dann ebenfalls vom Bundespräsidenten ihre Ernennungsurkunde erhalten. In der nun gebildeten Regierung hat der Kanzler das Sagen: Kommt es darauf an, kann er den Ministern Weisungen erteilen, sie rügen und sogar ihre Entlassung veranlassen.
Steht der Kanzler einer Koalitionsregierung vor, so kann es sein, dass seine diesbezüglichen Kompetenzen eingeschränkt sind. So ist es zumeist der Fall, dass die Ernennung und Entlassung von Ministern maßgeblich von demjenigen Koalitionspartner bestimmt wird, dem das entsprechende Ressort zugeteilt wurde. Hieße im konkreten Falle: Schmeißt Merkel Schmidt raus, könnte das die CSU üblicherweise als Bruch der Koalitionsvereinbarung betrachten.
Wobei: Kann Merkel überhaupt einen Minister rausschmeißen? Gemäß Artikel 64 GG obliegt die Entlassung eines Ministers – was der Logik der Amtseinsetzung entspricht – beim Bundespräsidenten. Der übliche Weg wäre also, dass der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten mitteilt, dass er einen Minister seines Amtes enthoben sehen möchte. Üblicherweise folgt der Präsident dieser Bitte – und wird gleichzeitig einen Ersatzminister an dessen Stelle einsetzen.
Was darf ein entlassenes Kabinett?
Nun hat sich jedoch nach den Wahlen im September etwas Entscheidendes getan. Faktisch ist Merkel nebst Kabinett abgewählt, die SPD laut der Ansage ihres Vorsitzenden aus der Regierungsverantwortung ausgeschieden.
Am 24. Oktober hatte Frank-Walter Steinmeier daher allen Bundesministern des Kabinetts Merkel einschließlich selbiger ihre Entlassungsurkunden überreicht – und sie gleichzeitig gebeten, bis zur Bildung einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt zu bleiben.
Damit ist folgendes festzustellen:
- Merkels Rüge ist juristisch wie politisch völliger Unsinn. Da sie ebenso wie der Minister entlassen ist, ist ihre Weisungskompetenz aufgehoben. Diese liegt nunmehr ausschließlich beim Bundespräsidenten als einzigem Herrn des Verfahrens: Steinmeier und nicht Merkel hat das Recht, einen irregehenden Minister zu rügen. Merkel ist in dieser Hinsicht aus dem Geschäft, ihre Rüge nichts anderes als Amtsanmaßung.
- Barbara Hendricks irrt, wenn sie von „Vertrauensbruch“ spricht. Denn spätestens mit der Erklärung der SPD, aus der Regierungskoalition mit der Union auszusteigen, gibt es keine vertraglich einzufordernde Vertrauensbasis mehr. Diese wäre erst über mögliche neue Koalitionsvereinbarungen zu schaffen.
- Ralph Stegner hat überhaupt noch nichts begriffen. Es gibt schlicht keine „Gepflogenheiten der geschäftsführenden Bundesregierung“, gegen welche Schmidt hätte verstoßen haben können. Diese Bundesregierung ist de facto gar keine. Sie hat weder ein Mandat des Wählers noch ein Mandat des gewählten Parlaments. Sie hat keine Koalitionsvereinbarung, auf deren Grundlagen sie agieren könnte. Sie, diese „Geschäftsführende Bundesregierung“ ist verfassungsrechtlich nichts anderes als eine Truppe vom Bundespräsidenten bestellter Akteure, die so lange die „Geschäfte führen“ sollen in den Ressorts, denen sie bis zur Entlassung als Minister vorstanden, bis das Parlament eine neue, handlungsfähige Regierung berufen hat. Konkret bedeutet dieses: Jeder geschäftsführende Minister ist ausschließlich nur noch sich selbst und dem Präsidenten gegenüber verantwortlich. Schmidt scheint der einzige zu sein, der das begriffen – und in der vermutlich zutreffenden Erwartung, dem nächsten Kabinett ohnehin nicht mehr anzugehören, einfach mal selbst Alleinherrscher gespielt hat. Wollte ihn jemand danach posthum hindern, so könnte dieses ausschließlich Steinmeier sein. Wobei auch hier die Frage nach dem „Wie“ gestattet ist. Denn: Entlassen hat er den Landwirtschaftsminister ja bereits. Steinmeier könnte also bestenfalls seine Bitte zurücknehmen, das Amt weiterzuführen. Aber hätte das irgendwelche Konsequenzen – beispielsweise dann, wenn Schmidt sich bockig stellt und meint, er wolle doch lieber der ersten Bitte des Präsidenten entsprechen?
- Völlig auf dem falschen Trip bewegt sich die Linksopposition. Offenbar haben die Kommunisten nicht begriffen, dass Merkel trotz gegenläufigen Verhaltens nicht die Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Bundesrepublik ist. Denn – siehe oben – sie ist längst entlassen und hat keine Richtlinienkompetenz mehr. Nicht anders geht es – siehe ebenfalls oben – dem gewünscht zu Entlassenden. Es liegt, liebe Linke, nun einmal in der Natur der Sache, dass jemand, der bereits entlassen ist, nicht noch einmal entlassen werden kann. Nicht einmal durch den Bundespräsidenten.
- Lediglich der SPD-Rechte Kahrs hat die Tragweite vollumfänglich erkannt. Er betrachtet Schmidts Alleingang als Politikum, leitet daraus im Sinne kleiner Diktatoren eine Kollektivhaftung ab, und droht nun einem um eine Koalition bettelnden Ex-Partner nicht mehr nur mit noch mehr Liebesentzug, sondern auch noch mit der Verpflichtung zur Selbstaufgabe. Das hat beste Rosenkriegsqualitäten.
Mängel im System
Unabhängig vom schwarzroten Kabale und Liebe, welches dem Bürger derzeit geboten wird, offenbart die Causa Schmidt allerdings auch einige Mängel im System, die offenbar bislang nicht bedacht wurden.
Einmal abgesehen davon, dass die Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene durchaus hinterfragt werden dürfen, da das EU-Parlament hier einmal mehr nichts zu sagen hatte und der Glyphosat-Einsatz vom Gutdünken eines einsamen Herrn mit Amtierungsrang abhing, kann offenbar ein geschäftsführender Minister ohne reguläres Amt schalten und walten, wie er mag. Hendricks könnte also jetzt auf die Schnelle noch ein allgemeines, vorläufiges Verbrennungsmotor- und Kohlekraftwerksverbot erlassen, der Justizminister die Strafverfolgung und vorläufige Festsetzung unbotmäßiger Kritiker anordnen oder der Innenminister aus den Reihen der Bundespolizei eine neue Ordnungsmacht aufstellen, die als Prätorianergarde regierungsgeschäftsführungssichernde Aufgaben übernimmt.
Alle Entscheidungen, die nicht gesetzgebenden Charakter haben und deshalb durch das Parlament beschlossen werden müssen, könnten derzeit von den jeweiligen Ministern nach eigenem Gutdünken getroffen werden – und nicht einmal der Bundespräsident wäre in der Lage, das zu stoppen. Denn er hat ja die Herrschaften gebeten, ihre Geschäfte „bis auf Weiteres“ fortzuführen. Wie sie das tun – nun, darüber entscheiden sie nunmehr ausschließlich selbst.
Grundrenovierung ist angesagt – oder besser doch nicht
Was lehrt uns das?
- Die meisten Politiker haben offensichtlich überhaupt nicht verstanden, was in der Verfassung steht. Okay – das ist aber wohl auch keine Voraussetzung, um sich wählen zu lassen.
- Unser Grundgesetz als Verfassung ist zwar an vielen Stellen gut, aber nicht bis zu Ende gedacht. Das gilt nicht nur für das Wahlrecht, sondern auch für den Machtwechsel. Insofern wäre eine Grundrenovierung nach siebzig Jahren vielleicht angesagt. Allerdings steht zu befürchten, dass dabei dann die verfassungswidrigen Vorstellungen der Noch-Integrationsbeauftragten im geschäftsführenden Ministerrang zum Tragen kämen und aus dem Land der Deutschen ein Land der Einwanderer gemacht würde. Insofern sollten wir vielleicht doch besser mit den Unzulänglichkeiten leben – auch wenn dann noch fünf Jahre länger Glyphosat auf unsere Äcker gesprüht wird.
- Ich wiederhole mich: Wir leben in unterhaltsamen Zeiten, in denen Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler voll auf ihre Kosten kommen. Die Kaste der Herrschenden produziert in der aktuellen Ausnahmesituation zahlreiche Absurditäten, an denen sich ab sofort Generationen von angehenden Doktoren abarbeiten können. Vorausgesetzt selbstverständlich, diese sind dazu gebachelort geistig in der Lage – was angesichts der grassierenden Bildungsmisere durchaus angezweifelt werden darf. Aber das steht auf einem anderen Blatt.