Tichys Einblick
Wahlrechtsreform

Der Bundestag schafft das Bürgerparlament ab – ehrlich sind nur die Grünen

Hart wie lange nicht mehr prallten die Vorwürfe im Bundestag aufeinander. Während die Oppositionsparteien CDU/CSU und Linke einen Angriff auf ihre parlamentarische Zukunft sahen, bekannten die Vertreter der Grünen ungeniert: Uns geht es darum, die Mehrheit der „Ampel“ zu sichern.

Plenarsaal während der Sitzung des Deutschen Bundestags am 17.03.2023 in Berlin

IMAGO / Christian Spicker

Die Debatte eröffnete der SPD-Abgeordnete Sebastian Hartmann aus NRW. Der Jurist ohne Staatsexamensabschluss vertrat die Darstellung der Antragsteller, wonach deren Antrag die „grundlegendste Reform des deutschen Wahlrechts“ darstelle, mit der „wir die eigene Reformfähigkeit beweisen“. Er machte kein Hehl daraus, dass es um die vorbehaltlose Durchsetzung jenes Verhältniswahlrechts gehe, bei dem die Parteien den Wahlbürgern vorgefertigte Parteilisten und Kandidatenreihenfolgen präsentieren, die je nach Wahlergebnis von oben nach unten abgearbeitet werde.

SPD-Hartmann: Erststimme ohne Relevanz

Hartmann bekannte offen, dass der Fortbestand von 299 Wahlkreisen ausschließlich als „Entscheidungsmöglichkeit der Bürger“ diene. Will sagen: Der Wähler soll ein wenig das Gefühl bekommen, noch irgendeinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages zu haben.

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Tatsächlich allerdings ist dieses Wahlkreisangebot nur noch Placebo: Die faktische Erhöhung des Bundestags von 598 Mitgliedern, wie im aktuellen Wahlrecht vorgesehen, auf 630 Abgeordnete diene dem Zweck, die Gefahr zu verringern, dass einzelne Wahlkreise bei der Besetzung des Bundestags unberücksichtigt bleiben. Mit anderen Worten: Die Anzahl von direkt vom Bürger gewählten Kandidaten, die durch das neue Wahlrecht gar nicht erst in den Bundestag einziehen, soll so ein wenig abgefedert werden und der Angriff auf die Bürgerdemokratie vertuscht werden.

Hinsichtlich der eigentlichen Stoßrichtung bekannte Hartmann offen: „Wir verhindern damit Verzerrungen zugunsten der CSU und schließen die Begünstigung privilegierter Gruppen aus!“

Unter „Verzerrungen“ versteht Hartmann die Tatsache, dass es der CSU als bayerische Regionalpartei regelmäßig gelingt, deutlich mehr Wahlkreise zu erobern, als ihr über das bundesweit angesetzte Verhältniswahlrecht zustehen. „Privilegiert“ wiederum ist die PdL, die im Bundestag als Fraktion „Die Linke“ vertreten ist, weil ihr eine sogenannte Grundmandatsklausel bei mindestens drei direkt eroberten Wahlkreisen den vollen Fraktionszugang auch dann ermöglicht, wenn die Partei bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringt.

Die Perfidie des RG2-Gesetzes liegt in eben der Regelung, dass künftig in den Wahlkreisen gewählte Abgeordnete nur noch dann in den Bundestag einziehen, wenn ihre Partei auf Bundesebene nach Verhältniswahlrecht mindestens fünf Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen erreicht. Dann dürfen so lange vom Bürger gewählte Abgeordnete auf ihr Mandat hoffen, bis die Verhältniswahlzuteilung aufgefüllt ist. Damit scheiden Regionalparteien, wie es die CSU in Bayern und die PdL in Mitteldeutschland ist, schnell aus dem Bundestag aus – auch dann, wenn sie über die Wahlkreise Mandate erobert haben. Für Hartmann ist das „eine Systementscheidung“ und die Verhöhnung des Wählers mit dem Begriff der „Entscheidungsmöglichkeit“ ist sehr bewusst gewählt. Die Erststimme, die dem Bürger die Möglichkeit geben soll, unmittelbaren Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages zu nehmen, wird zur Farce. Wer angeblich das Volk vertritt, bestimmt nunmehr ohne jede Einschränkung die Partei – und dort selbstverständlich die kleinen Kader, die sich bis an die Spitze hochgedient haben.

CSU-Dobrindt: Ein großes Schurkenstück

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Der bayerische Landesgruppenchef und Vize der Unionsfraktion, Alexander Dobrindt, bezeichnete – erstmals Solidarität mit den Kommunisten empfindend – als zweiter Debattenredner das Gesetzesvorhaben als „Akt der Respektlosigkeit gegenüber Wählerinnen und Wählern, gegenüber der Opposition und gegenüber der Demokratie selbst“. Es handele sich um eine „Wahlrechtsmanipulation“. An die Antragsfraktionen gerichtet stellte Dobrindt fest: „Sie schaffen ein Wahlrecht, bei dem gewählte Abgeordnete nicht mehr in das Parlament einziehen. Wahlkreise werden nicht gewonnen, sie werden weggenommen!“

Selbstverständlich weiß Dobrindt, dass der Vorstoß von SPD, Grünen und FDP sich gezielt gegen die CSU richtet, die 2021 mit ihrem bayerischen Ergebnis gerade noch auf bundesweit 5,2 Prozent gekommen war. Ein nur geringfügiges, weiteres Abschmelzen würde den gegenwärtig 45 gewählten Christsozialen künftig den Umzug nach Berlin versperren.

Bedauerlicherweise kam Dobrindt nicht umhin, nach einer bis dahin scharf und argumentativ geführten Rede noch die übliche Abgrenzung zur AfD vorzunehmen. Dobrindt bezeichnete die Konkurrenz in der Opposition als „geistigen Urheber dieses Wahlrechts. Überall in Europa versuchen rechte Parteien, den Parlamentarismus von innen heraus zu zerstören“.

An die Antragsteller gerichtet, schloss er: „Das, was Sie heute hier beschließen wollen, ist ein großes Schurkenstück!“

Grüne-Hasselmann: Ungewohnt ehrlich

Den dritten Beitrag lieferte Britta Hasselmann von der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen. Sie machte ähnlich wie Hartmann deutlich, dass die Möglichkeit der Bürgerbeteiligung über nur noch der Tarnung zur Durchsetzung des die Parteilisten präferierenden Verhältniswahlrechts ist. Nur dieses Verhältniswahlrecht sei „fair und verfassungsgemäß“, meinte sie.

Dann allerdings brach bei der Fraktionsvorsitzenden ungewohnte Ehrlichkeit durch. Mit Blick auf die CSU meinte sie, dass sie deren „regionale Sonderstellung seit Jahren respektiere“. Doch es könne nicht sein, dass die CSU als Regionalpartei dem Deutschen Bundestag diktiere, wie das Wahlrecht auszusehen habe. Durch die nun abgeschaffte Grundmandatsklausel werde „die Mehrheit der Ampel gefährdet“, bekannte die Grüne offen. „Wir verringern den Bundestag um 100 Abgeordnete“, lobte sie sich selbst. Dass diese Verringerung durch das Wegdampfen zweier Oppositionsfraktionen erfolgen soll, gab sie offen zu.

Afd-Glaser: Ampel hat bei uns abgeschrieben

Abrecht Glaser von der AfD ging zuerst auf die von Links bis FDP geplante Herabsetzung des Wahlalters ein, die jedoch nicht mehr auf der Tagesordnung stand. Er sprach von der „Infantilisierung des Parlaments“ und mit Blick auf ebenfalls bestehende Bestrebungen, die Wahlfreiheit des Bürgers durch paritätisch zu besetzende Parteilisten abzuschaffen, davon, dass „niemand das Recht hat, die Heterogenität der vielfältigen Bevölkerung durch Quoteln“ anzugreifen. Derartige Vorhaben seien verfassungswidrig.

Glaser unterstrich, dass der RG2-Antrag „zu fast 100 Prozent“ einem Vorschlag entspreche, den ursprünglich die AfD eingebracht habe. Allerdings habe die AfD die bestehende Parlamentsgröße mit 598 Mandaten festschreiben wollen und sich für die Verankerung einer „offenen Listenwahl“ eingesetzt. Letzteres war von den Mehrheitsparteien schon deshalb abgelehnt worden, weil der Wähler damit die Chance bekommen hätte, zumindest in die Reihenfolge der parteihierarchisch aufgebauten Listen einzugreifen – ein Risiko, welches die vom Karrieremandat finanziell und mental abhängigen Parteisoldaten selbstverständlich nicht eingehen können.

Für die Erhöhung auf künftig 630 Mandate sah Glaser den Grund bei der SPD. Die Sozialdemokraten hätten beim AfD-Vorschlag 38 Abgeordnetenmandate verloren. Durch die Erhöhung der Abgeordnetenzahl auf 630 könne sie nun ihren Verlust halbieren. Zur Abstimmung allerdings kündigte Glaser trotz der deutlichen Kritik lediglich eine Enthaltung seiner Fraktion an.

FDP-Kulisch: Kein Anspruch auf ein gewonnenes Mandat

Konstantin Kulisch von den früher irgendwann einmal Liberalen unterstrich die Legende von der „Fähigkeit zur Selbstkorrektur“ des Parlaments. Für den Vertreter einer Partei, die bislang so gut wie nie ein Direktmandat erringen konnte, sei „die Bemessung nach dem Ergebnis der Zweitstimmen der zentrale Punkt“. In den Bundestag dürften nur so viele Abgeordnete einziehen, wie den Parteien nach Zweitstimmen zustünden. „Es gibt keinen Anspruch auf Einzug aus dem Wahlkreis“, behauptete der vorgeblich bürgerliche, „freie Demokrat“ seine Verachtung des Bürgerwillens und unterstrich, dass die Wahl eines Direktkandidaten an das Bundesergebnis seiner Partei gekoppelt sein müsse.

Aus seiner Sicht sei die nun abgeschaffte Grundmandatsklausel eine „politische Entscheidung“ gewesen. Demnach ist auch deren Wegfall unverkennbar eine solche.

Fraktionsloser Farle beklagt das Ende der Einzelbewerbung

Den zutreffenden Finger in eine Wunde, um die die Parteikarrieristen sorgsam einen Bogen gemacht hatten, legte nun der fraktionslose Abgeordnete Robert Farle. Er warf den Antragsstellern vor, es gehe ihnen ihrerseits ausschließlich „um die dauerhafte Zementierung ihrer Wahlverzerrung“. Auch künftig müssten Einzelbewerber die Möglichkeit haben, in den Bundestag einzuziehen. Das allerdings verunmöglicht die Pseudo-Reform grundlegend, denn kein Einzelbewerber wird in seinem Wahlkreis so viele Stimmen holen können, dass er damit bundesweit über fünf Prozent kommt. Die angebliche Reform lässt nur noch Parteivertreter zu – und das ist auch gewollt, weil die durch die außerparlamentarische Partei-Nomenklatura fremdbestimmt werden können.

Die Formulierung im Antrag; „Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 41, 399, 416 f. [1976]) können weiterhin auch parteiunabhängige Kandidaten in Wahlkreisen antreten. Das Wahlvorschlagsrecht ist auch künftig nicht bei den Parteien monopolisiert“, ist eine Verhöhnung nicht nur der Einzelbewerber und der Wähler, sondern auch des Verfassungsgerichts

Pdl-Korte: „größter Anschlag auf die Demokratie“

Jan Korte von der Linksfraktion, der dem Bundestag nach dem neuen Wahlrecht nicht angehören würde, startete emotionsgeladen mit der Feststellung, dass diese Wahlrechtsänderung „der größte Anschlag (ist), den es auf die Grundpfeiler (der Demokratie) jemals gegeben hat“. Die Regierungsparteien hätten den bisher bestehenden Konsens aufgekündigt und ein Wahlrecht „hingerotzt“, das zwei Oppositionsparteien „eliminieren“ soll.

Unabhängig davon, wie er inhaltlich zur CSU stehe, sei das eine in Bayern tief verwurzelte Partei, die man nicht aus dem Bundestag ausschließen dürfe. Ähnliches gelte für die SED-Neuauflage PdL in den neuen Bundesländern: „Sie überlassen der AfD bewusst den Osten“, warf Korte den Regierungsparteien vor. Das Verhalten der drei Parteien sei „an Schäbigkeit nicht zu überbieten“, unterstrich er und endete mit dem Satz: „Ich wünsche Ihnen alles politisch Schlechte! Wir sehen uns vor dem Bundeverfassungsgericht!“

Wer schreit, hat unrecht

In der zweiten Runde gab es kaum weitere Argumente – wie die Debatte ohnehin unverkennbar von allen Parteivertretern aus deren jeweiligen, individuellen Betroffenheitslagen und Zukunftsängsten bestimmt war. Bemerkenswert allerding dennoch der Auftritt von Katja Mast, SPD, deren Redebetrag durchgängig in kreischender, überaus erregter Tonlage vorgetragen wurde. Als ihr themenfernes Herumreiten vor allem auf der Frauenquote zu erheblichen Protesten und Zwischenrufen führte, empfahl sie den Störern, sich doch des Instruments der parlamentarischen Zwischenfrage zu bedienen. Als diese dann jedoch dieser Empfehlung folgen wollten, ließ die Abgeordnete solche Fragen nicht zu. Ihre parlamentarischen Qualitäten stellte Mast zudem unter Beweis, als nach deren Redeschluss der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner die Möglichkeit der Intervention versuchte. Statt zu antworten, machte Mast auf den kleinen Korsen beim Gallier Asterix: Mit bockig verschränkten Armen saß sie da, sagte kein Wort und schien tatsächlich solange die Luft anhalten zu wollen, bis Brandner sich wieder hingesetzt hatte. Der hatte sich zuvor allerdings auch genüßlich mit einem anderen Satz Masts beschäftigt. Die hatte nämlich in ihrer schrillen Dauertonlage herausgeschrien: „Lautstärke ist immer von eigenen, parteipolitischen Interessen geleitet“. Wie wahr, mochte man angesichts ihres Auftritts feststellen. Brandner fiel dazu ein: „Wer schreit der lügt – der Mist von Mast.“ 

Halbmast über dem Reichstag

Till Steffen, einstmals grüner Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg, betonte ein weiteres Mal die eigentliche Stoßrichtung des Antrags. Den kollektivistisch-sozialistischen Parteien ist nicht nur die Mandate beanspruchende, linke Konkurrenz ein Dorn im Auge, worauf eine überaus erregte, direkt gewählte Abgeordnete Gesine Lötzsch von der PdL mit den Worten „es geht darum, die linke Konkurrenz auszuschalten“ hinwies. Die großen Transformatoren können auch nichts mit Regionalparteien anfangen, die eine Bevölkerung vertreten, deren Vorstellungen dem neomarxistischen Systemumbau im Wege stehen könnten.

Nach gut zwei Stunden ungewohnt harter und dennoch vernebelnder Debatte unternahm Unions-Fraktionschef Friedrich Merz noch den überflüssigen Versuch, die Abstimmung um zwei Wochen zu verschieben, prallte jedoch an einem selbstgefällig grinsenden Rolf Mützenich von der SPD ab. Der meinte zutreffend, dass zwei weitere Wochen ergebnisloser Debatte auch nichts brächten.

So kam es dann zur namentlichen Abstimmung, bei der die Regierungsfraktionen erwartungsgemäß ihren Frontangriff auf die wenigen, noch verbliebenen Reste eines Bürgerparlaments vollzogen. Oben auf dem Reichstag wehten bereits die Fahnen auf Halbmast. Das sollte zwar ursprünglich der verstorbenen Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer gedenken, passte jedoch noch perfekter auf diese Sternstunde der Beerdigung der Bürgerdemokratie durch eine selbstgerechte, hemmungslos die eigenen Pfründe verteidigende Parteienoligarchie, der die Beteiligung der Bürger und deren parlamentarische Einmischung in die parlamentarische Zustimmungsmaschinerie nur noch ein Dorn im Auge ist.

Das, was einmal als bürgerlich-demokratisches Parlament geplant gewesen ist, wurde heute zur Exekutivmaschine  durch nichts legitimierter Parteivertreter transformiert. Die Bürger dürfen gespannt sein, ob das ebenfalls längst parteilich übernommene Bundesverfassungsgericht den nun anstehenden Anträgen von Union und PdL folgen und den Umbau des Parlaments stoppen – oder ihn der Einfachheit halber schnell durchwinken wird. 

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