Die Expansion der Türkei auf friedlichem Wege eindämmen könnten aktuell nur die Europäer und die USA. Die Amerikaner jedoch haben seit Obama keinerlei Konzept mehr für eine Befriedung des Nahen Osten und sind sich im Umgang mit der Türkei mehr als uneins. So ließen sie den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in die von Kurden besiedelte Region Afrin ohne Reaktion geschehen. Auch den türkischen Versuch, sich im Norden der selbstverwalteten Region Rojava zulasten der Kurden einen 30 Kilometer breiten Landstreifen einzuverleiben, ließen die USA zumindest teilweise durchgehen und konzentrierten sich lediglich auf die Sicherung der Ölfelder im Nordosten Syriens. Keinerlei spürbare Reaktion war bislang auf die türkische Intervention in Libyen zu vermelden. Der Wahlkampfmodus ebenso wie eine künftige US-Administration unter Trump oder Biden lassen kaum erwarten, dass sich daran spürbar etwas ändern wird.
Deutlich entscheidender ist die Tatsache, dass bereits im Jahr 2018 über drei Millionen Türkeistämmige in der Bundesrepublik lebten. Zwar werden hierunter auch die Kurden gefasst, die der Politik Erdogans zumeist mehr als ablehnend gegenüberstehen – doch Erdogan hat bereits am 10. Februar 2008 bei seinem umjubelten Auftritt in der Köln-Arena verdeutlicht, welche Rolle er „seinen“ Türken im Vilayet Germanistan in der ihm eigenen Zynik zuweist: „Assimilation ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Ich verstehe sehr gut, dass ihr gegen die Assimilierung seid. Man kann von euch nicht erwarten, euch zu assimilieren … Die türkische Gemeinschaft und der türkische Mensch, wohin sie auch immer gehen mögen, bringen nur Liebe, Freundschaft, Ruhe und Geborgenheit mit sich. Hass und Feindschaft können niemals unsere Sache sein. Wir haben mit Streit und Auseinandersetzung nichts zu schaffen.“ Er unterstrich seine Vorstellung von den in Deutschland lebenden Türkei-stämmigen als Fünfte Kolonne des Kalifats am 27. Februar 2011 in Düsseldorf: „Man nennt euch Gastarbeiter, Ausländer oder Deutschtürken. Aber egal, wie euch alle nennen: Ihr seid meine Staatsbürger, ihr seid meine Leute, ihr seid meine Freunde, ihr seid meine Geschwister!“
Für Erdogan sind „seine“ Türken Teil der islamisch-osmanischen Landnahme Europas. Deshalb lehnt er jegliche, erfolgreiche Integration in Deutschland lebender Türken strikt ab. Wie hingegen er es mit nicht dem Staatsvolk angehörenden Bewohnern der Türkei zu halten gedenkt, erläuterte er am 16. März 2011 in einem Interview des britischen BBC: „Gegenwärtig leben 170.000 Armenier in unserem Land. Nur 70.000 sind türkische Staatsbürger, aber wir tolerieren die übrigen 100.000. Wenn nötig, kann es passieren, dass ich diesen 100.000 sagen muss, dass sie in ihr Land zurückgehen sollen, weil sie nicht meine Staatsbürger sind. Ich muss sie nicht in meinem Land behalten.“ Man stelle sich vor, ein deutscher Politiker ließe sich ähnlich zum Status der Türken in Deutschland ein – die Nazi-Anklagen würden bei Erdogan ebenso wie in der Berliner Haltungspolitik in schrillsten Tönen erklingen.
Unterwerfung fördert den EU-Zerfall
Doch die Bundesrepublik ist längst auf Linie gebracht. Die Bundesregierung, die sich in der Vergangenheit von Islam-Freunden und Anti-Israel-Propagandisten wie dem früheren CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz hat einlullen lassen, fürchtet einen Aufstand der in Deutschland lebenden, zahlreichen Erdogan-Getreuen. Einen Vorgeschmack darauf, was im Falle einer Türkei-kritischen Regierungspolitik zu erwarten ist, gaben jüngst in Wien aus Ankara gesteuerte türknationalistische Islamfaschisten, als sie eine Tagung kurdischer Frauen zu sprengen suchten. Und so werden Forderungen, wie sie derzeit aus Österreich zu hören sind mit dem Ziel, den längst überfälligen Abbruch der Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU endlich offiziell zu machen, auch weiterhin spätestens am deutschen Veto scheitern.
Putin steht in den Startlöchern
Da wiederum steht gegenwärtig nur noch einer in den Startlöchern: Der Russe Wladimir Putin. Russland hat mit seiner Intervention an der Seite des Syrers Assad bereits dafür Sorge getragen, dass der türkische Expansionismus nach Süden erste Grenzen erfahren musste. Mit einer brüchigen Vereinbarung gemeinsamer Kontrollen zwang er den Türken dazu, wesentliche Teile der von ihm kontrollierten Islamistenprovinz Idlib und seinen Vormarsch in Rojava aufgeben zu müssen. Das Geplänkel im UN-Sicherheitsrat, bei dem Russland in gemeinsamer Front mit China den deutschen Versuch verhinderte, die Nahrungsmittelversorgung der Islamistenprovinz – und nur um die ging es – weiterhin sicherzustellen, richtete sich gezielt gegen Erdogan. Der soll auf diesem Wege gezwungen werden, seine Besetzung der Region aufzugeben, wenn die dort versammelten Flüchtlinge und Muslimrebellen angesichts der Nahrungsmittelknappheit auf seine Staatsgrenzen zumarschieren.
Dann allerdings könnte es für Erdogans Kalifatsträume tatsächlich eng werden: Im Westen der Balkan, der nicht bereit ist, sich wieder mehrere Jahrhunderte von der islamischen Hohen Pforte drangsalieren zu lassen, im Süden Araber und Juden, die ihre frühere Kolonialmacht Türkei nicht erneut auf ihrem Boden sehen wollen, im Norden Russland und Armenien, welches immer noch hofft, die Schmach des Völkermordes rächen zu können, im Osten die Kurden, denen ein eigener Staat schon vor hundert Jahren versprochen worden war.
Auch Erdogan kann an sich selbst scheitern
Möglicherweise allerdings verpuffen des Erdogans Großmachtträume auch schneller, als gegenwärtig zu befürchten ist. Denn dem Möchtegern-Kalifen geht das Geld aus. Der Doppelkrieg in Syrien/Irak und Libyen ist teuer – und dank Corona sind jene, die diesen Krieg finanzieren sollten, bislang ausgeblieben. Das Betteln in Berlin der türkischen Vertreter, die sonst für Deutschland nur Spott übrig haben, endlich die Corona-Einreiseverbote für Billigtouristen aus Germanistan fallen zu lassen, sprechen für sich selbst. Es fehlen die Christeneuros aus den künftigen Kalifatsgemeinden der EU. Und insofern könnte Erdogans Provokation in Sachen Sophienkathedrale auch nur ein weiterer Erpressungsversuch sein: Schickt die EU genug Taler für seinen Krieg, könnte die Vergewaltigung des Kirchenbaus möglicherweise aufgehoben oder verschoben werden. Ob sich die EU jedoch ein weiteres Mal von dem Mann aus dem Kleinkriminellen-Milieu Istanbuls erpressen lassen wird, muss gegenwärtig dahingestellt bleiben.
Vorstellbar ist vielmehr, dass sich politische Kreise zwischen Athen und Moskau derselben Logik bedienen, mit der Erdogan die Rückeroberung ehemals osmanisch beherrschter Gebiete einfordert. Die Sophienkathedrale war tausend Jahre christlich – und nur 600 Jahre von Muslimen besetzt. Kleinasien, von türkislamischen Terroristen im 14. und 15. Jahrhundert nebst Zwangsislamisierung der Bewohner zu ihrer Kronkolonie gemacht, war bis dahin christliches Kernland. Der gegenwärtige Trend, jeglichen Kolonialismus als Todsünde sühnen zu lassen, darf insofern gern auch Anwendung auf die Türkei finden. Belege für den historischen Anspruch vor allem der Griechen auf das besetzte Land lassen sich an allen Ecken Kleinasiens finden. So wäre es ein leichtes, Erdogans Spieß einfach umzudrehen. Und sei es nur, um ihm endlich einmal seine propagandistischen und realpolitischen Grenzen unmissverständlich aufzuzeigen und damit zu beweisen, dass die EU mehr ist als ein Selbstbefriedigungsverein von Bürokraten, die sich mit den Geldern ihrer Bürger einen schönen Tag machen.