Tichys Einblick
Es geht um deutlich mehr

Bachmut: Krieg ist immer auch ein Krieg um Symbole

Bei der Schlacht um Bachmut geht es längst nicht um die zerstörte Stadt. Es geht um den Machtkampf zwischen Wagner-Söldnern und russischem Militär, um Prestige und Reputation Putins, um die Moral auf beiden Seiten – nicht zuletzt um strategische Überlegungen, wie das Gemetzel zu einem stabilen Ende gebracht werden kann.

Zerstörte Gebäude in Bachmut

IMAGO / SNA

Im Britisch-Deutschen Krieg von 1939 bis 1945 war es der Untergang der „HMS Hood“, der den Niedergang der Inseleuropäer als Weltseemacht einleitete. Churchill wusste recht gut, weshalb er alle Kräfte daran setzte, nun die „Bismarck“ auf den Boden des Atlantiks zu schicken: Es galt, die Symbolkraft der „Hood“ durch die Symbolkraft des seinerzeit weltgrößten Schlachtschiffs abzufangen. So konnte der britische Premier zwar nicht den Zerfall des Empires aufhalten, jedoch zumindest den kontinentalen Konkurrenten auf Abstand halten. Deutschlands Seemachtfantasien gingen ebenso schnell unter, wie sie aufgetaucht waren.

Im Deutsch-Sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945 waren es die russischen Metropolen Leningrad und Stalingrad, die zu Symbolen des Widerstands und der Kriegswende wurden. Hitler wusste, warum er seine Soldaten in den Trümmern der Stadt an der Wolga verheizte: Verliert die Wehrmacht die Stadt, die den Namen des Gegners führt, läge nicht nur der Triumph auf der Seite Moskaus – es wäre auch das unübersehbare Symbol für das Ende der deutschen Großmachtambitionen. Und genau so sollte es kommen.

Die Symbolkraft Bachmuts

In der Ukraine entwickelt sich gegenwärtig Bachmut zu einem solchen Symbol. Strategisch ist die Stadt kaum von Bedeutung. Sollte Russland sie einnehmen, so ist die Front im Donbas an dieser Stelle um ein paar unbedeutende Kilometer weiter nach Westen verschoben. Der von manchen Beobachtern beschworene, freie Zugang zu den Weiten der Ukraine um die Stadt Kramatorsk ist eine Schimäre. Längst hat die ukrainische Armee weitere Verteidigungslinien ausgebaut, die einem russischen Vorstoß in die Tiefe des Raums ein schnelles Ende bereiten würden.

Doch um militärische Belange, um Strategie und Taktik geht es bei Bachmut schon lange nicht mehr. Der russische Warlord Prigoschin, der mit seiner „Wagner“-Privatarmee dem russischen Militär zunehmend unangenehm im Magen liegt, feiert hier seit geraumer Zeit minimale Geländegewinne als großartige Siege seiner Söldnertruppe aus Gefängnisinsassen und Abenteurern. Die Erfolgsmeldungen richten sich mehr gegen Prigoschins Konkurrenten, die Militärführer Schoigu und Gerassimow als gegen den ukrainischen Gegner. Für seinen Prestigegewinn verheizt der ehemalige Vertraute Putins seine Söldner. Und nicht nur die. Laut westlichen Diensten sollen mehrere hundert russische Rekruten am Tag ihr Leben lassen, um die Stadt zu besetzen. Ausgerüstet mit veralteten Gewehren und Feldspaten aus dem 19. Jahrhundert sollen sie, so die Berichte, im Nahkampf Mann gegen Mann Haus um Haus erobern. Zudem sollen mehr als hundert Granaten täglich auf die Trümmer der kleinen Industriestadt und die Stellungen der Ukrainer regnen, womit der Blutzoll der Verteidiger ebenso in rational kaum noch nachvollziehbare Größenordnungen steigt.

Ohnehin – das, was am Ende der Schlacht von Bachmut übrig sein wird, ähnelt jenen anderen ukrainischen Städten, die die Russen im wahrsten Sinne des Wortes ausradiert haben. Eine verseuchte Trümmerlandschaft ohne jeden echten Wert.

Putin braucht einen Sieg auf dem Feld

Doch Kremlherrscher Putin kann nicht aufgeben und Kiews Selenskyj will nicht aufgeben. Beide Positionen scheinen in der Außensicht unsinnig – und doch sind beide Positionen, wenn auch nicht identisch, so doch aus ihrer inneren Logik heraus nachvollziehbar.

Putin braucht eine Erfolgsmeldung. Nach den Überraschungserfolgen des ersten Vorstoßes im Februar und März 2022 befindet sich seine Armee faktisch in einem Rückzugsgefecht. Die besetzten Gebiete um Kiew, die Region östlich von Charkiw, zuletzt das Westufer des Dnipro mit der Provinzmetropole Cherson – Russlands Image der Unbesiegbarkeit ist mehr als angeschlagen.

Durch die hektische und unüberlegte Zwangsannexion ukrainischer Provinzen im Spätsommer des vergangenen Jahres geht es für Putin zudem um seinen Zugriff auf „russische Erde“, die ihm niemals gehört hat, deren weiterer Verlust jedoch ihm, dem gefühlt größten russischen Feldherrn seit Stalin, persönlich anzulasten wäre. Das militärisch wenig bedeutende Bachmut ist das Symbol für Putins Erfolg oder Misserfolg. Dafür dürfen die Rekruten bluten und sich, folgt man Berichten aus russischen Soldatenkreisen, mit dem MG der eigenen Führung im Rücken für Putins Illusion einer großrussischen Weltmacht opfern.

Putin auf dem Schlachtfeld demütigen

Das weiß auch Selenskyj. Scheitert Putin in Bachmut, so ist das aus Selenskyjs Sicht ein weiterer Nagel am Sarg des russischen Despoten. Sollte Putin hingegen die Besetzung der Trümmer feiern können, so hätte der Russe erstmals seit langem wieder etwas, das er seinem Volk als Sieg verkünden könnte. Deshalb müssen auch die ukrainischen Soldaten bluten: Nichts soll es geben, was Putin auch nur den Hauch einer Siegesbotschaft schenken könnte.

Selenskyj denkt allerdings noch einen Schritt weiter. Für ihn ist es ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg der ukrainischen Selbstbehauptung, den russischen Despoten aus dem Amt zu jagen. Er persönlich kann das nicht tun – aber er will Fakten schaffen, die es vielleicht andere tun lassen.
Das Image des großen, unfehlbaren Imperators Wladimir Putin ist ohnehin bereits angeschlagen. Verliert er die Schlacht um Bachmut, so Selenskyjs Kalkül, könnten sich die Widerstände innerhalb der russischen Armee gegen den unnötigen Opfergang in der Ukraine derart verstärken, dass eine Palastrevolution den Weg frei macht zu ernsthaften Verhandlungen. Putin ist aus ukrainischer Sicht das größte Hindernis für einen Frieden. Zwar mag ein möglicher Nachfolger nicht weniger bellizistisch veranlagt sein – doch allein die Hoffnung, dass breite Kreise in Militär und Geheimdiensten die Sinnlosigkeit der „Spezialoperation“ begreifen, lässt in Kiew an eine bessere Voraussetzung ohne als mit Putin glauben.

Selenskyj setzt auf innerrussische Zermürbungserscheinungen

Für Selenskyj gibt es jedoch noch weitere Gründe, Bachmut zu halten. Die Moral der eigenen Landsleute, die durch den erfolgreichen Widerstand in Bachmut weiter gestärkt würde, ist dabei nur der geringste Vorteil.

Stimmen die besagten Berichte, dann ist der Blutzoll der Russen deutlich höher als jener der Ukrainer. Kiew setzt darauf, dass wie einst beim Afghanistan-Abenteuer die Zahl der heimkehrenden Särge in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Niedergang Russlands innerhalb des russischen Reichs einen Grad an Unmut erreicht, der die Führung im Kreml zum Einlenken zwingt.

Wenn Bachmut für Russlands Rekruten die behauptete Knochenmühle ist, dann werden sich die Witwen und Waisen jener Männer, die für Putins Abenteuer aus ihrem zivilen Leben gerissen wurden, nicht auf Dauer ruhig halten lassen. Für Kiew bedeutet das: Solange in Bachmut Hundertschaften russischer Soldaten verbluten, ist Bachmut strategisch wichtig. Und das auch deshalb, weil die Provinzstadt im Westen des Donbas russische Kräfte bindet, die die dortige Militärführung anderorts dringend benötigt.

Die Vorbereitung einer ukrainischen Frühjahrsoffensive

Bereits seit geraumer Zeit steht die Erwartung einer ukrainischen Frühjahrsoffensive im Raum. Kiews Militärführung betreibt dabei sehr gezielt Verwirrspiele, spricht mal vom Großraum Charkiw im Nordosten des Landes, dann vom geplanten Durchbruch im Südosten nach Mariupol oder Melitopol im russisch besetzten Landkorridor zur Krim. Auch die Rückeroberung der Krim im Süden oder ein weiterer Vorstoß aus Cherson an der Südwestfront werden regelmäßig als unmittelbares Ziel behauptet – kurzum: Die ukrainische Militärführung will die Russen dazu bringen, ihre Militärkräfte möglichst breit über die gesamte Front im Osten und Süden zu verteilen. Das bringt zum einen den Vorteil, dass ein befürchteter, neuer Vorstoß aus dem Vasallenstaat Belarus unterbleibt, weil Russland damit abschließend logistisch überfordert wäre. Und es bringt zudem den Vorteil, dass Russlands Einheiten derart breit über die Front gestreut sind, dass sie einem effektiven Vorstoß der Ukraine kaum etwas entgegenzusetzen hätten.

Beispielsweise unterstellt, der strategisch sinnvolle Vorstoß auf Melitopol sei das eigentliche, nächste Ziel der Ukrainer, dann kann es nur hilfreich sein, möglichst viele russische Einheiten bei Bachmut zu binden. Sollte ein solcher Vorstoß gelingen, könnte sogar das Trümmerfeld Bachmut ohne weitere Konsequenzen von der Ukraine geräumt werden: Der Prestigeverlust Russlands, seinen durchgehenden Landkorridor verloren zu haben, würde eine vorübergehende Einnahme Bachmuts durch die russische Armee bedeutungslos werden lassen.

Vorstellbar ist darüber hinaus auch, dass die Ukraine einen Vorstoß ins Herz der russischen Landnahmeambitionen plant. Donezk als Hochburg der russischen Verwaltung auf ukrainischem Boden und Herz der russischen Separatisten liegt nur wenige Kilometer vom Frontverlauf entfernt. Zwar ist die seit 2014 russisch besetzte Stadt zur Festung ausgebaut, doch ein ukrainischer Vorstoß über Makiivka könnte um Donzezk jenen Kessel erzeugen, den die Russen gegenwärtig um Bachmut anstreben. Das Kalkül der ukrainischen Militärführung könnte darauf setzen, dass dort stationierte, russische Einheiten durch die Knochenmühle Bachmut bereits derart moralisch am Boden liegen, dass sie bei einem unerwarteten, ukrainischen Vorstoß panisch die Flucht ergreifen. Sollte Donezk zurück an die Ukraine fallen, könnte die daraus entstehende Symbolkraft Putin tatsächlich das Rückgrat brechen.

Es geht um deutlich mehr als um Bachmut

Was immer also auch in den Generalsstäben gedacht und geplant werden mag: Bei der Schlacht um Bachmut geht es schon lange nicht mehr um diese völlig zerstörte Stadt. Es geht um den Machtkampf zwischen Wagner-Söldnern und russischem Militär, um Prestige und Reputation Putins, um die Moral im Land des Aggressors und im Land der Angegriffenen – und nicht zuletzt um strategische Überlegungen, wie das Gemetzel zwischen Russen und Ukrainern zu einem stabilen Ende gebracht werden kann. Deshalb wiederholen sich gegenwärtig in der einst 75.000 Einwohner beherbergenden Stadt gleichzeitig die Grabenkämpfe auf den Feldern des Ersten Weltkriegs und des Straßenkampfs um Wolgograd, das damals Stalingrad hieß.

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