Ist vielleicht doch alles anders – und viel einfacher, als sich das Analytiker und Auguren bislang vorstellen konnten und wollten?
Ohne jeden Zweifel: Wladimir Putin kultiviert seine Anti-US/EU-Paranoia nicht erst seit wenigen Jahren. Seine tief empfundene Trauer über den Zusammenbruch des grußrussischen Sowjetimperiums formulierte er bereits 2005 – und sie ist authentisch. Der Präsident der Russischen Föderation, der sich zum Diktator entwickelte und als Massenmörder an seinen ukrainischen Nachbarn in die Geschichtsbücher Einzug halten wird, lebt in der Welt des Vorgestern. In einer Welt, in der das kommunistische Russland global mit Ländern wie im Puppentheater spielen konnte. In einer Welt, in der sich das flächengrößte Kolonialreich der Gegenwart auf Augenhöhe mit dem früheren Verbündeten und Erzfeind USA sah.
All das mag erklären, warum der im sowjetischen Leningrad aufgewachsene, schmächtige Geheimdienstoffizier beständig daran arbeitete, die demokratisch organisierten Staaten subversiv und virtuell zu unterminieren. Das mag erklären, warum ihn die NATO-Osterweiterung offenbar über jedes Maß erregte, obgleich sie niemals eine Gefahr für die territoriale Integrität und Souveränität Russlands darstellte, sondern lediglich Putins unübersehbaren Visionen von der Restauration des Sowjetimperiums geschuldet ist.
Unübersehbar auch, dass die Prozesse in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen, wie in der Ukraine, Bürgerproteste die sowjet-affinen Politiker der alten Garde vertrieben oder, wie in Weißrussland und Kasachstan, vertreiben wollten, von Putin als persönliche Bedrohung verstanden wurden. Er hatte als KGB-Offizier in der untergehenden DDR erlebt, wie Bürgerwut eine Diktatur zum Einsturz bringen konnte. Er hatte 2014 unvorbereitet erleben müssen, wie sich solches in Kiew wiederholte. Der Funke der Selbstbestimmung konnte, dessen war sich Putin zunehmend sicher, auch auf „sein“ Russland überspringen. Deswegen verfolgte er die Opposition, starben prominente Putin-Kritiker durch Mord und Giftanschlag. Putins Russland sollte niemals von dem, was er als westliche Dekadenz empfand, infiziert werden. Mehr noch aber sollte nichts sein sorgsam aufgebautes Imperium beschädigen können.
Keine rationale Erklärung für den Überfall auf die Ukraine
All das ist unverkennbar – all das erklärt, weshalb Putin die Russische Föderation politisch und kulturell zurück in die Ära des Stalinismus trieb. Aber es erklärt nicht, weshalb der zum Diktator mutierte Präsident nach langer und für jeden sichtbarer Vorbereitung am 24. Februar 2022 nicht nur zum Verbrecher am eigenen Volk wurde, sondern sich mit dem von ihm befohlenen Überfall auf die benachbarte Ukraine definitiv in die Reihe der großen Staatsterroristen begab.
Es gab keine ernsthaften Bestrebungen des Westens, seine Herrschaft im Kreml anzutasten. Vor allem die Europäer hatten sich längst mit ihm arrangiert, sich zudem über ihre Energie-Abhängigkeit in eine Lage gebracht, die jedweden Krieg gegen das Moskauer Regime zur Idiotie hätten werden lassen. Nord Stream 2, das Monat für Monat weitere Milliarden in Putins Entwicklungsland mit Großmachtanspruch spülen sollte, stand noch im Februar kurz vor der Inbetriebnahme: Trotz deutlicher Kritik war vor allem die FDP-gestützte SPD der Bundesregierung fest entschlossen, die Inbetriebnahme ihren Gang gehen zu lassen.
Doch schlagartig war Schluss. Der Überfall auf die Ukraine zwang die russophilen Sozialdemokraten zum radikalen Umdenken. Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete die „Zeitenwende“ – und es darf durchaus unterstellt werden, dass er dabei weniger die Nachrüstung der maroden Bundeswehr gemeint hat, sondern das Umdenken in seiner eigenen Partei in Sachen Russland.
Angetrieben vom grünen Koalitionspartner, bei dem die Pazifisten zu Bellizisten mutierten und mit einem Mal selbst ein Anton Hofreiter das Banner der knallharten Kriegsausstattung der Ukraine in die Hand nahm, brach die seit den späten Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts von den Sozialdemokraten gepflegte Illusion des kumpelhaft-sozialistischen Umgangs mit „den Russen“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Plötzlich waren Sanktionen angesagt, wie sie die Welt noch nicht erlebt hatte. Unter dem Druck der befreundeten Nationen und des eigenen Volks mussten die Bundeswehr-Zerstörer nun die Aufrüstung der Ukraine mittragen. Auch der zunehmende Widerstand gegen die Energieträgerimporte aus Putins Reich wird seine langfristige Wirkung entfalten – vor allem aber schafft Putin Fakten, die Russland noch lange nach seinem Ableben beschäftigen werden.
Der Lernprozess des Westens
Der Westen hat gelernt: Verträge mit Russland gelten nur, solange Russland dieses will. Die notwendige Folge: Es werden künftig keine Verträge mehr abgeschlossen werden, die über den Tageshorizont hinausreichen.
Der Westen hat gelernt: Wer sich von Lieferungen aus Russland abhängig macht, ist Russland auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Also wird der Abschied von russischen Energie-Importen ein dauerhafter werden.
Selbst ein vielleicht eines Tages demokratisches Nach-Putin-Russland wird lange daran zu arbeiten haben, das final zerstörte Vertrauen wieder aufzubauen. Wer künftig mit Russland zu tun hat, wird dieses mit feuerfesten Handschuhen und der Kohlenzange anfassen. Kaum einem anderen Land ist es in der Geschichte jemals gelungen, seine internationale Reputation innerhalb derart kurzer Zeit derart radikal zu vernichten.
Die Frage nach dem Nutzen
Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage: Ist der mögliche Nutzen, den Russland aus dem Überfall auf die Ukraine ziehen mag, dieses Opfer wirklich wert? Kann es sein, dass Putin, der doch mit der Übernahme der Krim und der defacto-Besetzung des Donbass längst schon die geopolitischen Fakten geschaffen hatte, um seine Dominanz über das Schwarze Meer und damit seinen Einfluss ins Mittelmeer zu sichern, tatsächlich einen Nutzen darin sieht, sich die altersschwachen und zunehmend zerbombten Industrieanlagen im noch nicht besetzten Osten der Ukraine zu sichern?
Gibt es für Putin einen faktischen Nutzen, sich für sein Russland, dessen schrumpfende Bevölkerung seit Jahren zu den weltgrößten Nahrungsmittelexporteuren gehört, nun auch noch die fruchtbare Schwarzerde der Ukraine einzuverleiben? Bedarf die Russische Föderation, die über leistungsfähige Häfen am Nordmeer, am Pazifik, an der Ostsee und am Schwarzen Meer verfügt, tatsächlich der Hafenanlagen von Odessa, um seinen Ex- und Import zukunftsfähig zu machen? Und wozu benötigt ein Land, das über Weltmetropolen wie Moskau und Sankt Petersburg verfügt, noch ein zerbombtes Kiew, um seine kulturelle Größe glänzen zu lassen?
Putins gescheitertes Bubenstück
Möglich, dass Putin tatsächlich von seinen Geheimdiensten und der Militärführung geblendet wurde, die ihm offensichtlich die Übernahme der Ukraine als Bubenstück in der Sandkiste versprachen. Schnell mit geballter, wenn auch militärisch eher überholter Macht hinein. Dort die durch die Rote Armee sozialistisch verbrüderte Armeeführung der Ukraine zum Sturz der demokratisch gewählten Selenskyj-Präsidentschaft animiert. Dann eine Marionettenregierung eingesetzt und die Ukraine schnellstmöglich durch ein fingiertes Referendum heim in den Schoß von Mütterchen Russland gebracht. Ziel: Die in der Ukraine herrschende West- und Demokratieorientierung ein für alle Mal ausschalten.
Das Bubenstück scheiterte auf ganzer Linie.
Das Ukrainische Militär kämpfte mit allem, über das es verfügte und zunehmend mehr zur Verfügung gestellt bekam, gegen den Invasor.
Das Ukrainische Volk, welches vorgeblich durch Moskau befreit werden sollte, stand nicht mit Winkelementen in Weiß-Blau-Rot am Straßenrand, sondern verweigerte jegliche Kooperation und organisierte den Graswurzelwiderstand.
Die glorreiche russische Armee, die bis heute nicht den Wert der inneren Führung begriffen hat, sondern den Soldaten bis zum Offizier als befehlsempfangende Kampfmaschine interpretiert, musste Verluste an Material und Personal hinnehmen, das alle Prognosen überschreiten. Selbst wenn die aktuell vom ukrainischen Militär genannten fast 20.000 gefallenen Russen propagandistisch geschönt sein mögen – selbst die Hälfte geht deutlich über das hinaus, was der bisherige Erfolg des russischen Überfalls Wert sein kann.
Wie Putin aus dem Desaster herauskäme
Was also treibt Putin, nach dem Desaster der ersten Wochen noch mehr Kräfte in die Ukraine zu schicken? Was treibt ihn, die ukrainische Bevölkerung, die doch angeblich einem „Brudervolk“ angehört, durch gezielte Angriffe auf Infrastruktur und Wohngebiete, aber auch durch Mord- und Vergewaltigungsexzesse der russischen Soldaten gezielt und ständig mehr zu terrorisieren?
Der Beobachter mag geneigt sein, sich Putin in eine aussichtslose Situation zu denken. Ein Mann, der seiner großrussischen Mission verpflichtet ist und nun aus Angst vor dem Gesichtsverlust oder auch des Verlustes der Macht nicht aufhören kann. Das könnte eine Erklärung sein – aber es ist am Ende dann doch keine, die dieses Verhalten erklären sinnvoll erklären kann.
Braucht Putin einen Sieg, dann müssten längst auf geheimen Kanälen Gespräche darüber laufen, was die Ukraine für ein Ende der Vernichtung ihres Landes zu zahlen bereit sein könnte. Die russische Rückzugslinie könnte lauten: Kiew akzeptiert die völkerrechtwidrige Annexion der Krim, tritt Donezk und Luhansk ab, gibt zudem den Landweg zwischen Russland und der Krim frei, um Russlands Dominanz am Schwarzen Meer auch künftig zu sichern.
Ohne Zweifel: Käme ein solches Angebot, müsste die Ukraine ablehnen. Sie täte es auch. Doch dann ginge das Geschacher los – und der Westen würde nun seinen Druck auf Kiew geltend machen, einer solchen Regelung zuzustimmen, um damit den Frieden für eine immer noch bestehende Ukraine zu retten.
Auch einer Scheinneutralität könnte Kiew zustimmen – wenn gleichzeitig die Westorientierung in Moskau akzeptiert würde. Selenskyj könnte zähneknirschend zustimmen – und er würde zustimmen, weil die westlichen Partner es von ihm verlangten.
Putin wiederum könnte auf diesem Wege gesichtswahrend aus der von ihm verursachten Situation herauskommen. Er könnte seinen Russen, denen er mit Märchenerzählungen von der existentiellen Bedrohung seines Reichs den Überfall als nationale Heldentat verkauft hatte, den erfolgreichen Abschluss der „militärischen Spezialoperation“ vermelden: Die angeblich im Osten der Ukraine so gequälten Russen befreit; die heilige Erde von Mütterchen Russland ein wenig mehr nach Westen geschoben; die Krim für alle Ewigkeit gerettet. Das alles in patriotische Propaganda gepackt – der 9. Mai als Tag des Sieges über den allgegenwärtigen Faschismus wäre gerettet.
Nicht der Hauch einer diplomatischen Lösung
Doch nichts von dem geschieht. Es gibt keine Geheimgespräche. Es gibt keine Signale. Lediglich eine Umstrukturierung der gebeutelten russischen Armee, um, wie es der Terrorist und Schlächter Kadyrow verkündete, die Ukraine von Osten her aufzurollen.
Soll also nun von der russischen Oblast Jaroslawl mit ihrer Hauptstadt Rostow aus das gelingen, was bei der Zangenbewegung von der Krim im Süden über die ewig lange Landgrenze zu Russland bis nach Weißrussland im Norden misslungen ist?
Sollte die russische Offensive im Südosten tatsächlich mehr bezwecken, als vielleicht die Metropole Charkiw zu vernichten und nach Möglichkeit bis über Odessa an die rumänische Grenze vorzustoßen, dann wird Putin nunmehr einen langwierigen Zermürbungskampf führen müssen. Einen Zermürbungskampf mit zahllosen Opfern auf beiden Seiten. Einen Zermürbungskampf, in dem die Reputation Moskaus angesichts der unvermeidbaren Zerstörung aller zivilen Strukturen im Opferland noch dauerhafter vernichtet werden wird. Einen Zermürbungskampf, an dessen Ende es in der Ukraine nichts mehr geben wird, das einer Übernahme durch die Russische Welt noch Wert wäre.
Welcher Ratio folgt Putin?
Und doch sieht es so aus, als plane Putin nun genau das. Und der Beobachter stellt sich einmal mehr die Frage: Welcher Ratio folgt das, was offensichtlich im Kopf des Kreml-Diktator vorgeht? Welche Kosten-Nutzen-Rechnung liegt diesem Vorgehen zugrunde, welches Putins Namen selbst dann, wenn er irgendwann vielleicht tatsächlich eine zerstörte Ukraine als Russlands Eigentum betrachten können sollte, für alle Ewigkeit in die Reihe der großen Massenmörder von Hitler über Stalin und Mao stellen wird?
Es ist zutreffend: Den nachhaltigsten historischen Ruhm können die größten Menschheitsverbrecher für sich verbuchen. Hitler hat es geschafft, sich unsterblich zu machen. Als Inkarnation des Ewigbösen wird er noch strahlen, wenn Stalin und Mao bereits in Vergessenheit geraten. Aber kann es das sein, was Putin vorschwebt? Hitler zu übertreffen, ihn vom Thron der Ewigbösen zu stoßen und durch die eigene Unsterblichkeit zu ersetzen?
Wäre es das, dann wäre es doch ein Leichtes gewesen, durch einen Überfall auf einen oder mehrere NATO-Staaten das finale Spiel zu eröffnen. Entweder, der Coup gelänge und Wladimir der Große würde zumindest in den russischen Geschichtsbüchern als Reichserneuerer unsterblich – oder er hätte die atomare Selbstvernichtung des europäisch geprägten Kulturkreises verursacht. Dann hätte er immerhin noch den Überlebenden auf der Südhalbkugel als der Böseste aller Bösen dauerhaften Grusel für die Ewigkeit bescheren können.
So dürfen wir unterstellen: Auch das ist nicht des Putins Ziel. Wie es übrigens auch nie das Ziel von Hitler, Stalin und Mao gewesen ist, ausgerechnet die Spitzenplätze in der Hitliste der größten Menschheitsverbrecher anzuführen. Es gehört zur Hybris der Monster in Menschengestalt, dass sie ihr kriminelles Tun als „gut“ betrachten – was zwar Putin mit ihnen gemein haben wird, aber er in Sachen Blut an seinen Händen derzeit trotz der Gräueltaten in der Ukraine noch einiges entfernt ist von den historischen Kollegen.
Es geht um mehr als um Gesichtswahrung
Deshalb noch einmal die Frage: Was treibt Putin dazu, einen scheinbar in jeder rationalen Betrachtung unsinnigen Kampf zu befehlen, tausende Söhne seiner russischen Mütter zu opfern und sich ein ursprünglich gewogenes Nachbarvolk auf alle absehbare Ewigkeit zum Erbfeind zu machen?
Nur die Hoffnung auf die Gesichtswahrung kann es nicht sein – dazu wären Wege aufzuzeigen auch dann, wenn wir Polens Andrzej Duda folgen, wonach es „für Menschen ohne Ehre keinen ehrenvollen Ausstieg“ geben könne. Selbst der Gewinn eines zerstörten Landes um den Preis, als Staatsterrorist und Massenmörder in die Geschichte einzugehen, sollte es nicht sein können. Was aber, wenn es all das nicht ist, treibt diesen Mann, der laut eigener Biographie in den Hinterhöfen Leningrads gelernt hat, sich durchzuschlagen, und deshalb zum russischen Geheimdienst gegangen ist, weil ihm der KGB das Gefühl vermittelte, dort über die Macht zu verfügen, die ihm als Gewalt über den Nächsten sonst niemals zugekommen wäre?
Aufschluss mag ein Blick auf das geben, was Putin äußerte, als er seinen Überfall auf das Nachbarland weltöffentlich begründete. Dabei sind nicht die Narrative vom angeblichen Genozid an ethnischen Russen von Bedeutung. Auch die Erzählungen von einer NATO, die angeblich plane, Russland vom Globus zu tilgen, können wir vergessen. Das war, um uns der Diktion eines Karl Marx zu bedienen, ein wenig Opium für das dumme, russische Volk.
Lesen Sie in Teil 2, welche Begründung es tatsächlich für den Terrorangriff Putins geben könnte.