Tichys Einblick
Merkel hätte nichts gegen Webers Scheitern

Angst essen Seele auf – Manfred Weber, die EU-Wahlen und der Brexit

In EU-Europa sieht es nicht gut aus für den Mann aus Niederhatzkofen. So ist in Italien jene christdemokratische Partei, die einst mit der deutschen Union zur Fraktion der EVP gehörte, in der mediterranen Sonne verdampft. Stattdessen gehört Berlusconis Forza mit zehn Vertretern der EVP-Fraktion an – und die wird gegenwärtig von Salvini zu Grabe getragen.

Sean Gallup/Getty Images

Vom 23. bis 26. Mai 2019 dürfen jene, die Bürger eines EU-Staates sind, wieder einmal zur Urne schreiten, um bei einem fragwürdigen Parlament mitzubestimmen, wie dieses demnächst zusammengesetzt sein soll. Fragwürdig – um an dieser Stelle mögliche Kritik abzufangen – ist dieses Parlament aus mehreren Gründen. Denn zum einen folgt es nicht dem klassischen Prinzip des One-Man-One-Vote, zum anderen ist immer noch nicht geklärt, für welche Art von staatlicher Organisation es eigentlich welche Zuständigkeiten und Kompetenzen hat. Denn auch wenn gern so getan wird – die EU ist kein föderalistisch aufgebautes Staatswesen, sondern ein Club von Regierungen, die sich unter selbstaufgegeben Vereinsregeln eigene Bedeutung verleihen.

Die Wahl zu diesem sogenannten EU-Parlament produziert insofern erst einmal nichts anderes als Scheinlegitimation: Dem Bürger gegenüber soll der Anschein erweckt werden, er habe auf EU-Ebene irgendwelche Mitspracherechte; der Welt gegenüber wird der Anschein erweckt, auf dem europäischen Kontinent gäbe es so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa. Das dem nicht so ist, so lange nicht die Bürger gefragt wurden, ob sie denn mehrheitlich solchen Vereinigten Staaten angehören wollen, wird dabei gezielt ausgeblendet und durch die sogenannten EU-Wahlen kaschiert.

Es geht um den Kommissionspräsidenten

So weit zum Grundsätzlichen jenes Aktes, der im Mai auf die Leute unter EU-Aufsicht zukommt. Gänzlich unbedeutend ist diese Wahl trotz ihrer demokratischen und systemischen Mängel dann doch nicht. Denn – so zumindest gegenwärtig die Ansage – sie soll am Ende darüber entscheiden, wer als künftiger Kommissionspräsident den altersgeschwächten Jean-Claude Juncker ablösen wird.

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Ins Rennen gebracht für diesen Job, der im räterepublikanischen Sinne des Aufbaus der supranationalen Regierungsorganisation EU ein bedeutender ist, hat sich der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber. Wobei auch diese Beschreibung nicht korrekt ist, denn Weber hat zwischenzeitlich deutlich gemacht, dass er nicht als Deutscher, sondern als Bayer und Europäer für dieses Amt antritt – getreu dem Selbstverständnis aus der sraßburg-brüsseler Echokammer, wonach wir keine Nationen mehr kennen, sondern nur noch Europäer.

Das nun aber macht es Weber nicht unbedingt leichter, sein Wunschmandat an der Spitze der EU-Administration zu erringen. Denn nun könnte doch so mancher tumbe Deutsche, der trotz antinationalem Dauerfeuer von seiner Nation noch nicht lassen mag, nun doch den Blick in Richtung auf Parteien lenken, die den Wert ihrer Nation über den eines europäischen Beamtenstaates zu stellen wagen. Oder anders formuliert: Weber wird damit rechnen müssen, dass ein Teil jener Wählerklientel, die als deutsche Bürger früher treu zur Union hielten, sich die Wahl eines bewusst nicht-deutschen Unionsvertreters überlegen werden und dann wäre es nicht ausgeschlossen, dass sich unerwartet in den Reihen der bundesdeutschen Parlamentsangehörigen eine Fraktion findet, die rechts von der Union dem künftigen Oberkommissar Weber die Zustimmung verweigert.

Webers Reihen schrumpfen

Das allein könnte Weber vielleicht noch verkraften. Doch dabei bleibt es nicht. Auch anderorts in EU-Europa sieht es nicht gut aus für den Mann aus Niederhatzkofen. So ist in Italien jene christdemokratische Partei, die einst mit der deutschen Union zur Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) gehörte, in der mediterranen Sonne verdampft. Stattdessen gehört Berlusconis Forza mit zehn Vertretern der EVP-Fraktion an – und die wird gegenwärtig von Salvini zu Grabe getragen.

So schmilzt Webers EVP-Fraktion dahin und er wird froh sein können, wenn er sich aus den ebenfalls angeschlossenen Kleckerparteien am Ende noch 170, vielleicht auch nur 150 Mandate seiner derzeit 217 retten kann.

Weber ist auf große Koalitionen angewiesen

Weber wird, soll sein Traum vom Kommissionspräsidenten wahr werden, auf zahlreiche andere Fraktionen angewiesen sein. Dabei muss er als erstes hoffen, dass es den Sozialisten und Sozialdemokraten ähnlich wie seiner EVP ergehen wird.
Tatsächlich werden auch die demokratischen Sozialisten – nicht zuletzt dank des Niedergangs der deutschen SPD – ihre gegenwärtige Stärke von 187 Sitzen nicht halten können. Nach Stand der Dinge fehlen ihnen bereits die 20 Sitze der britischen Labourpartei. Sollten sie am Ende dennoch vor der EVP liegen, wird der Niederländer Frans Timmermans den Anspruch auf die Juncker-Nachfolge stellen. Und vor denselben Problemen wie Weber stehen.

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Derzeit verfügt das EP über 751 Sitze. Steigen die Briten mit ihren 73 Sitzen aus, verblieben 678. Lassen wir die Vorstellung außen vor, noch schnell einige dieser Sitze künftig kleineren Ländern zuzuschlagen, braucht ein nach Artikel des EU-Vertrages vom EU-Rat der Regierungschefs vorgeschlagener Kommissionskandidat im Parlament mindestens 340 Stimmen. Da könnte es ab Mai selbst für das bundesdeutsche schwarzrote Modell knapp werden. Also müssen weitere Verbündete gesucht werden.

Denkbar wären die Liberalen unter dem Belgier Guy Verhofstadt. Die stellen derzeit 68 Abgeordnete – doch auch hier ist ein Rückgang in der Personalstärke nicht auszuschließen.

Blieben noch die Grünen, die nach dem irrationalen Höhenflug in der Bundesrepublik vermutlich zu den Gewinnern zählen werden. Derzeit mit 52 Sitzen vertreten, könnten sie vielleicht bis an die 70 aufrücken. Dann könnte es sogar ganz knapp für ein EU-Jamaika reichen – was wiederum sich die Grünen teuer abkaufen lassen würden, um die von ihnen angestrebte Umwandlung der Parlamentarischen Demokratie in die Paritätische Räterepublik zu beflügeln.

So deutet manches darauf hin, dass an einen schwarzroten Basisblock kein Weg vorbei führen wird, der entweder auf die Liberalen oder auf die Grünen angewiesen ist.

Die absurde Situation von Abgeordneten ohne Land

So weit die für den Niederbayern missliche Lage bei einem Briten-Ausstieg. Der aber ist alles andere als ausgemacht.

Nichts deutet darauf hin, dass doch noch irgendeine Option im britischen Parlament eine Mehrheit bekommt. Also der Hard Brexit – obgleich auch schon mehrmals vom Unterhaus abgelehnt?

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Wenn, dann bitte schnell – denn ist das Vereinigte Königreich Ende Mai noch Mitglied der EU, müssen die Briten das Recht haben, an den EP-Wahlen teilzunehmen. Im Zweifel mit der absurden Konsequenz, dass dann wieder für fünf Jahre 73 Abgeordnete von der Insel in Straßburg sitzen – und dort die Bevölkerung eines Landes vertreten, das überhaupt nicht mehr zur EU gehört. Denn auch für das EP gilt: Die Wahl ist an die Person gebunden. Und gewählt ist gewählt. Niemand kann einen gewählten Abgeordneten vor die Tür setzen, weil andere Entscheidungen treffen, die die Funktion des Abgeordneten in die Absurdität verdammen. Es könnte also gut sein, dass beispielsweise Nigel Farage dem EU-Parlament erhalten bleibt und sich auf Kosten der EU-Steuerzahler die nächsten fünf Jahre seinen Vorruhestand vergolden lässt.
Den Brexit aussetzen

Wahrscheinlicher aber ist, dass der Brexit noch vor den EU-Wahlen erst einmal zurückgezogen wird.

Warum? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen haben sich britisches Parlament und Regierung als unfähig erwiesen, einen gangbaren Brexit zu organisieren. Also entspräche es demokratischer Praxis, das Mandat an den Mandatsgeber zurückzugeben: Die britischen Bürger wären zu fragen, welchen Brexit-Weg sie nun tatsächlich gehen wollen. Und ob sie das überhaupt noch wollen.

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Ein neues Referendum ist jedoch nicht über Nacht aus dem Hut zu zaubern. Also müssten die Briten bei der EU um eine weitere Verschiebung des Austrittsdatums bitten. Bis zu einem Datum, zu dem das Referendum erfolgt und ausgewertet ist. Lehnt die EU das ab, müssen die Briten ihren Brexit-Antrag erst einmal zurückziehen. Täten sie dieses nicht, entstünden Fakten, die ein zweites Referendum unzulässig präjudizierten – nein, es überflüssig machten. Sie könnten den Ausstiegs-Antrag dann nach dem neuen Referendum bei Bedarf erneut einbringen. An den EU-Wahlen zu beteiligen wären sie dann zwangsläufig – auch auf die Gefahr, dass die gewählten Briten dann in zwei Jahren kein Land in der EU verträten.

Angenommen aber, die EU gewährt weiteren Aufschub – auch dann wird der britische Urnengang unvermeidlich werden. Denn das Referendum wird technisch kaum vorher abzuhalten sein – und selbst wenn es beispielsweise gemeinsam mit der EU-Wahl durchgeführt würde, müssten im Königreich alle Vorbereitungen zur Teilnahme an den EP-Wahlen anlaufen, denn es könnte ja sein, dass die Briten nun doch nicht ausscheiden wollen. Und schon wieder hätten wir möglicherweise die absurde Situation der 73 britischen Abgeordneten, denen die Vertretung ihres Landes abhanden gekommen ist, die aber bei jeder Parlamentsentscheidung volles Mitspracherecht haben.

So oder so: Webers GAU

Sollte es so oder so kommen, wäre das in gewisser Weise für Weber der GAU. Denn mit einem Male müsste er nicht nur 340 Abgeordnete von sich überzeugen – es wären mindestens 376. Auf britische Stimmen kann er nach den klugen Belehrungen aus Deutschland an die Inseleuropäer nicht hoffen. Die britischen Konservativen dürften künftig eher in Richtung Salvini und Orban tendieren, als in Richtung EVP. Corbyns Labour könnte sogar – sollte sie in der Fraktionsgemeinschaft mit der SPD verbleiben – dafür Sorge tragen, dass die Sozialisten sich der Kooperation mit der EVP grundsätzlich verweigern. Dann dürfte es in dieser Konstellation mit Webers Träumen schnell vorbei sein.

Macron als Verbündeter?

Bliebe also – getreu dem Aachener Vertrag – die Hoffnung, dass Macrons neu einziehende Mitmarschierer den Bayern unterstützen. Aber nicht nur, dass niemand vorhersagen kann, wie viele das angesichts der Gelbwesten überhaupt sein werden – Macron hat auch ganz eigene Vorstellungen und würde auf dem Kommissionsvorsitz lieber eine Franzosen sehen. Stellt er sich quer, müsste Merkel ein Machtwort sprechen – was sie aber für Weber nicht tun wird. Offiziell wird es dann heißen, dass sich eine Bundesregierung nicht in die politischen Angelegenheiten eines frei gewählten Parlaments einmischen wird. Inoffiziell wird Merkel aber vielleicht gar nicht unglücklich sein. Denn ein Scheitern Webers eröffnet ihr eine andere Perspektive. Wie bei Urheberrecht gegen Northstream 2 könnte es zu einem Kuhhandel mit den Franzosen kommen.

Das Wahlverfahren nicht zu Ende gedacht

Artikel 17 des EU-Vertrages sieht vor, dass der Rat dem Parlament den Kandidaten für den Kommissionpräsidenten vorschlägt. Lehnen die EU-Parlamentarier den Vorschlag ab, indem dieser keine qualifizierte Mehrheit bekommt, muss der Rat zum zweiten Mal ran. Und an dieser Stelle weist der von den klügsten Juristen der EU erdachte Vertrag eine Lücke auf. Denn das Vertragswerk geht davon aus, dass dieser zweite Ratsvorschlag nun eine Mehrheit bekommt. Was aber geschieht, wenn dieses nicht der Fall ist, bleibt ungeregelt.

Ist das EU-Parlament angesichts seiner Fraktionierung außerstande, einen Kommissionpräsidenten zu wählen, dürfte daher der Rat sich selbst ermächtigen, dieses an Stelle des zur Mehrheitsfindung unfähigen Parlaments zu tun. Denn schließlich braucht die Brüsseler Administration einen Häuptling. In diesem Falle nun könnte Merkel dann einen von Macron gewünschten Franzosen die Zustimmung erteilen. Dazu müsste sie kein lästiges Parlament und keine Partei befragen. Im Gegenzug dann – so könnte der Deal aussehen – darf Merkel selbst im Herbst des Jahres ihr Bundeskanzleramt abgeben. Denn im November 2019 endet die Amtszeit des gegenwärtigen Amtsinhabers Donald Tusk als Ratspräsident. Ein Amt, in dem Merkel sich selbst gern noch sähe.

Über Webers Nervosität nicht wundern

Insofern: Wer sich gegenwärtig über die offenkundige Nervosität des Bayern wundert, sollte sich einfach in dessen unglückliche Situation versetzen. Es ist noch nicht allzu lange her, da schien für ihn die Juncker-Nachfolge bereits in Sack und Tüten. Doch nun ist in Folge des Erstarkens jener Kräfte, die den räterepublikanisch von demokratisch nicht legitimierten Kommissaren geführten EU-Zentralstaat ablehnen, sowie angesichts des offenkundigen Versagens aller Seiten in Sachen Brexit nichts mehr sicher. Eine gut geplante und durchdachte Karriere könnte so im Mai unerwartet Schiffbruch erleiden.

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Nachvollziehbar also, dass Weber die Keule gegen alles und jedes herausholt, dass seinen Traum zu gefährden scheint. Bis hin zu solchen antidemokratischen Vorstellungen, nur noch Parteien über EU-Parteienfinanzierung zu beglücken, die jegliche Kritik am EU-Zentralstaatsprojekt aufgegeben haben. Nützen wird ihm das wenig. So, wie sein Parteifreund Marcus Söder durch seine unqualifizierten Angriffe auf die „rechte“ Konkurrenz Wähler in andere Küchen getrieben hat, könnte es nun auch Weber ergeben.

Denn nach wie vor gilt die klassische Regel: Politiker werden gewählt, weil der Wähler mit ihnen positive Entwicklungen verbindet. Deshalb aber, weil der Politiker den Untergang des Abendlandes prophezeit, sollten die aus seiner Sicht falschen Leute gewählt werden, ohne eigene, positive Vorstellungen und Ziele an deren Stelle zu setzen, wurde noch keiner gewählt. Daran wird sich auch bei der EU-Wahl nichts ändern. Eher bleiben frustrierte Wähler am Wahltag zuhause, statt jemanden zu wählen, dem es nur noch um seine eigene Karriere in einer von oben gelenkten Scheindemokratie zu gehen scheint.

Insofern: Alles offen. Für Weber. Für das Vereinigte Königreich. Und für die EU-Wahl im Mai.

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